Was ist bloß mit Ian los? Teil 46: Andersons letzte Schaffensperiode

Guten Abend lieber Wilfried,

Deine letzte mail gibt mir Gelegenheit, mich auf das ursprüngliche Thema unseres Gedankenaustauschs zu besinnen: Auf Jethro Tull. Mr. Anderson sorgt mal wieder für Aufregung in der Fangemeinde, da ist es nur angemessen, wenn ich das aufgreife.

Ich bin Deinen gelinkten Anregungen gefolgt und habe mich bei den Laufi-Leuten ein wenig umgelesen. Hier schwappen die Wogen der Emotion hoch. Den Laufis geht es genau wie mir: Sie stören sich daran, dass der Meister seine bewährten Musiker, vielleicht sogar Mr. Barre, durch (preiswerte) Leihmusiker ersetzt. Das ganze verkauft Mr. Anderson dann auch noch als Jethro Tull.

Man stelle sich vor: Mr. Jagger schart die Leasing-Musiker Tom Hinz und Tim Kunz um sich und tritt mit ihnen als Rolling Stones auf. Paul McCartney tritt mit Eddie Egal und Kurt Kompatibel als die Beatles auf. Ich schrieb es schon in einem anderen Zusammenhang: Es gibt Dinge, die gehen einfach nicht. Für manche Entscheidungen braucht man wohl die arrogante Kaltschnäuzigkeit eines Ian Anderson. Man kann ihm sicher einiges vorwerfen; übertriebene Demut sicher nicht.

Nun zu den Geigerinnen: Dir, der Laufigemeinde, mir und dem Rest der Welt ist aufgefallen, dass es sich bei den streichenden Musikern ausnahmslos um sehr ansehnliche junge Damen handelt. (Meine Frau meint, diese würde Mr. Anderson einsetzen, um von sich selber abzulenken – aber da kennt sie den Meister schlecht). Vor einiger Zeit hast Du mehr oder weniger unverblümt angedeutet, dass Mr. Anderson mehr als nur ein musikalischen Interesse an seinen Musikantinnen habe. Das mag sein, jedenfalls liegt der Verdacht nahe. Genau wie Dir ist mir das aber gleichgültig. Andere Leute sollen von mir aus geigen, wen oder was sie wollen. Mich stört an diesen Künstlerinnen viel mehr ihre Heterogenität: Sie fügen sich überhaupt nicht in das Bild der Gruppe ein. Die JT-Musiker spielten schon zusammen, als die Eltern der Damen noch ihre Akne behandelten. Und nun stehen diese blühenden Schönheiten auf der Bühne, eingerahmt von knorrigen alten Eichen. (Zuerst wollte ich schreiben, dass auf der Bühne neben einem Kuhfladen eine Rose blüht, aber das wäre Dir sicher wieder zu hart erschienen.)

Wie Du weißt, bin ich aus der Folk-Ecke zu JT gestoßen. Ich höre also von jeher gern den Klang einer Fiedel. Oft habe ich mir bei JT den Einsatz einer Geige gewünscht. Vielleicht statt der Flöte, vielleicht in Ergänzung dazu. Da wären sicher einige Spielarten möglich gewesen. Gerade in der fabelhaften, ruhmreichen, unwiederbringlich verlorenen Zeit der Folkalben (wie ich sie vermisse !) hätte eine Fiddel sehr gut zur Musik gepasst. Gespielt von einem bärbeißigen Musikanten mit Rauschebart, Whiskyfahne und gelb gerauchten Fingern. So wie bei den Dubliners. Aber nein, nichts dergleichen. Wenn Mr. Anderson sich Mietgeiger an Bord holt, dann sind das feenähnliche Geschöpfe wie Eddie Jobson, Ann Marie Calhoun oder Lucia Micarelli. Die letzten beiden erinnern mich irgendwie an Vanessa Mae, die nymphengleiche Pop-Geigerin, die in Europa vor einigen Jahre Furore machte. Naja, eben alles kompatibel.

Deine Links sind wie immer sehr hilfreich. So bin ich eben auf der Homepage von Anna Phoebe gelandet. Und was höre ich ? Musik von akustischen Gitarren und Geige. Na also, geht doch. In nächster Zeit muss ich mehr in diese Richtung lauschen.

Ich danke Dir für Dein Lob zu meiner Montage ! Es ist sicher kein Meisterwerk, wenn ich es mit den Montagen auf digicamfoto.de vergleiche. Aber wenn ich meine Ansprüche an meine Fähigkeiten anpasse, komme ich zurecht. Meinen Satz zu meinem Bildchen in Deinem Blog hast Du missverstanden: Erst sah ich mein Bild auf Deiner Seite, dann habe ich geschrieben, dass ich auf diese Veröffentlichung auch gehofft hatte. Du weißt doch: Wenn ich morgens den PC anwerfe, führt mein erster Weg auf Dein Blog, der zweite auf Wikipedia, der dritte zum Lokalblättchen und erst dann wende ich mich dem Tagesgeschäft zu.

Du hast es sehr mutig in Worte gefasst: Jethro Tull stirbt einen qualvollen, langsamen Tod. So etwas schreibt oder liest kein Fan ohne Bedauern. Selbst wenn wir das A – Album ausklammern: Eine Rockband sind JT schon lange nicht mehr. Weltmusik ist ja OK, aber das sollte nicht mehr unter Rock firmieren. Sollte jetzt auch noch der gute Martin ausscheiden, was ich nicht zu fürchten wage, dann wird es wirklich zappenduster um Mr. Anderson. Er selber hat doch vor einiger Zeit gesagt, Martin sei derjenige, der die Gruppe zusammengehalten hat. Es sieht so aus, als hätte die Realität die Gruppe eingeholt. Mittlerweile bröckelt nicht nur der Putz.

Die Ratten flüchten, die Fans rennen weg. Aber wohin ? Viele der Fans, so wie Du, begleiten die Gruppe schon seit Jahrzehnten. Fühlt der Meister sich ihnen verpflichtet ? Versucht er, sich in sie hineinzuversetzen ? Nein, tut er nicht. Das hat ein Wirtschaftstycoon wie er gar nicht nötig. Er kocht sein eigenes Süppchen. Schon vor Jahren schrieb er im Vorwort des Songbooks, dass ihn die alten treuen Fans nicht interessieren. Die kommen von alleine, fast zwanghaft, in die Konzerte und Plattenläden. Ihm gehe es darum, neue Fans zu gewinnen. Ich denke, da wird er in Zukunft ausreichend Gelegenheit haben, seine Fähigkeiten beim Rekrutieren zu beweisen.

Stirb wohl, Jethro Tull. Das Ende wird Dich von langem Leid erlösen.

Faithfully
Lockwood

25.01.2007

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Hallo Lockwood,

ja, die Aufregung ist wirklich groß. Aber ich möchte meine Sicht doch etwas präzisieren, um Missverständnissen vorzubeugen. Zunächst würde ich Jethro Tull nicht mit den Stones und den Beatles vergleichen. Doch selbst die Rolling Stones hatten eine gewisse personelle Fluktuation, wenn auch nicht in dem Maße wie Jethro Tull. Lediglich die Beatles werden immer die vier – John, Paul, George und Ringo – bleiben (auch sie begannen einmal in einer anderen Besetzung). Jethro Tull ist aber zunächst Ian Anderson. Und dann kommen jede Menge talentierte Musiker, die je nach ‚Jahreszeit’ auswechselbar waren. Einzigste Ausnahme: Martin Barre, der mit seinem Gitarrenspiel nachhaltig den Stil und Sound der Gruppe geprägt hat.

Dann gibt es Jethro Tull in den verschiedenen Schaffensperioden (die hatte Picasso ja auch). Zunächst der eher schnelle Wechsel vom Blues und Jazz (This Was) über blusigen Rock mit ersten Folk-Elementen (Stand up), dann schon ‚schwereren’ Rock (Benefit) zu Aqualung, das irgendwo zwischen Rock und Folk angesiedelt ist. Nach den Konzeptalbem die Alben mit Folk-Ausrichtung.

Jedes dieser Alben hat einen für sich eigenen Stil und wird besonders durch die Instrumentalisierung geprägt. Diese ist wiederum von den Musikern abhängig. Aber irgendwie war das alles noch Jethro Tull als eine Gruppe, die einen Stil pflegte, der zwar etwas abseits des Mainstreams ansässig war, aber Album für Album eine kontinuierliche Weiterentwicklung verriet.

Dann der erste große Bruch 1980 mit dem Album „A“. Nicht nur bisher prägende Musiker wie John Evan und David Palmer wurden ausgetauscht, der ganze Stil war ein anderer bis zum Outfit der Herren Musiker. 1982 mit „Broadsword and the Beast“ gab es einen kurzen Schwenk zurück, dann aber kamen Ians erstes Soloalbum und dann „Under Wraps“. Bis 1991 präsentierte sich Jethro Tull wieder eher als Rockgruppe mit einigen Anleihen (z.B. bei Dire Straits – sowohl gesanglich, als auch vom Gitarrenspiel her – wie ich finde).

Und dann die Alben, die wir beide wohl in die Schublade „Weltmusik“ stecken würden.

Nach 1980 also einige kleinere Brüche (oder eben jeweils neue Schaffensperioden). Mit dem neuen Jahrtausend dann aber Andersons Abschied vom kreativen Schaffen und die Hinwendung zur reinen Interpretierung eigener Werke. Dieses betrachte ich als den größten Bruch in der Laufbahn von Ian Anderson – und damit von Jethro Tull. Es ist nun nicht so, dass Herr Anderson von Schützenfest zu Schützenfest tingeln muss. Das hat er schon finanziell nicht nötig. Nein, er schart junge Talente um sich, gibt sich denen gewissermaßen als musikalischer „Godfather“ aus (ähnlich wie es David Palmer für Ian Anderson war). Und den eigenen Sohn will er dabei nicht im Regen stehen lassen – also spielt der Vater mit dem Sohne (ich kann das sehr gut nachvollziehen, geht es mir mit meinem ältesten Sohn zz. ähnlich).

Das in dieser (letzten?) Phase die Gruppe Jethro Tull auf der Strecke bleibt, ist dann zwangsläufig. Aber außer Martin Barre waren die Musiker namens Giddings, Perry und Noyce sowieso schon keine echten Tuller mehr (in den Augen der alten Fans). Wenn Herr Anderson trotzdem noch das Fähnlein „Jethro Tull“ hoch hält, dann sicherlich aus Gründen der Publicity. Und man spielt ja auch noch alte Tull-Titel, wenn auch im neuen Kleide (dabei ist der Verweis „acoustic“ fast ein Versprechen – diese Tulls, die akustischen, mögen wir doch eigentlich). Wohin am Ende (z.B. im 40. Jahr von Jethro Tull) der Zug wirklich fährt, weiß wohl selbst Herr Anderson nicht so genau. Ich denke aber, dass es irgendwann noch ein Alterswerk von Ian Anderson geben wird. Vielleicht wird das ja dann doch noch der große Knaller: Jethro Tull in Person von Ian Anderson mit der schottischen Sinfonie Nr. 1 – From Broadford to Wiltshire (aber das liegt ja schon in England – dort in der Nähe lebt der Meister, wenn er nicht gerade auf Tour ist) – für Orchester und 5-köpfige Band. Und Herr Anderson ohne Kopftuch!

Was ist bloß mit Ian los?

Was will ich damit sagen: Ian Anderson betrachtet sich als Künstler, der rein zufällig in die Rockszene abgetrieben wurde. Aber dort hat er sich möglichst immer am Rande aufgehalten. Es ist mehr Künstler/Musiker als Rocker. Und je älter er geworden ist, um so mehr hat er sich von der Rockszene verabschiedet. Das Kopftuch ist nur noch ein Art Überbleibsel aus alten Tagen.

Man muss und kann das akzeptieren – oder nicht. Mir gefällt auch nicht alles aus dem Anderson’schen Werk. Aber es hat eigentlich auf jeder Scheibe für mich etwas gegeben, was mir gefiel. Gut, dass war nicht der Aha-Effekt, der sich bei mir am Anfang einstellte. Von diesem Aha-Erlebnissen gibt es nun einmal nicht viele in einem Leben. Aber wenigstens ein AHA bringe ich mit Jethro Tull und damit mit Ian Anderson in Verbindung.

Aber genug. Bei aller Kritik und Verwunderung, die die letzten Nachrichten zum Thema Jethro Tull ausgelöst haben: Irgendwo kann ich Herrn Anderson doch noch etwas verstehen. Die Geschäfte laufen weiterhin prächtig, das Musizieren macht noch Spaß (Hahn im Korb). Und im engeren Kreise gibt es keinen, der er wagt, den Meister zu kritisieren (es gibt ja auch keinen Grund dafür).

Noch ein schönes Wochenende
Wilfried

P.S. Heute einmal keine ‚weiterführenden’ Links.

27.01.2007

English Translation for Ian Anderson