Was ist bloß mit Ian los? Teil 55: Die Gebrüder Anderson

Hallo Wilfried,

an allererster Stelle möchte ich mich … bedanken ! Dem Tampa-Konzert gebührt ein ganz besonderer Platz in der Schmuckschatulle der JT – Fans. Ich kannte es bisher nur bruchstückhaft; es ist ein Juwel unter den Livemitschnitten. Die Jahre 1976 und 1977 sahen den Meister in der Form seines Lebens. Da stimmte einfach alles. Performance, Stimme, Gitarrenspiel, alles vom Feinsten. Er war schon ein besonderer Liebling der Musen, unser Mr. Anderson. Vielen lieben Dank für die großartige Überraschung !!

Zum Thema youtube habe ich in den letzten Tages etwas gelernt: Ich bin bisher davon ausgegangen, dass ein Video, einmal dort eingestellt, für immer seinen Platz dort hat. Weit gefehlt. Das Psalm-Video von Roxy Music ist verschwunden. Eigentlich schade. Ich fand es immer sehr…..amüsant. Das JT-Video für die tausend Mütter ist zum Glück noch da, dank der Zuverlässigkeit eines Herrn willizo.

Bei youtube habe ich Videos einer Gruppe gesehen, die JT-Stücke nachspielt oder es zumindest versucht. Der Sänger ist ein älterer Herr mit grauem Rauschebart, der sich eine Lockenperücke übergestülpt hat (seltsame Kopfbedeckungen scheinen irgendwie dazuzugehören). Dazu trägt er ein Lederwams im Stil vergangener Jahrhunderte, so wie der Meister es in den 70ern trug. Die Bemühungen dieser Gruppe führen uns deutlich vor Augen, welches Format Jethro Tull hatten. Die Bühnenshow des Mr. Anderson, die wir so schätzen, wirkt bei anderen nur peinlich, lächerlich. Ich denke, ein Künstler muss über eine gewisse Klasse verfügen, um sich bei einer so eigenwilligen Show nicht der Lächerlichkeit preis zu geben. Mr. Anderson hatte über viele Jahre hinweg diese Klasse.

Beim Zusammenwirken von Text und Musik ist es natürlich wünschenswert, dass beides zusammenpasst. In den allermeisten Fällen funktioniert das auch, nicht nur bei JT. Es kann auch auf weit niedrigerem Niveau funktionieren. Ich denke dabei an die Punkmusik, die mit wenigen Akkorden auskommt. Hier bestanden die Texte größtenteils aus einigen wenigen Schlagworten, die mehr oder weniger sinnvoll aneinander gereiht ins Mikro gekreischt wurden. Musik und Text passten zueinander. Wenn die Sex Pistols auf die Idee gekommen wäre, Werke von Lord Byron zu vertonen, hätte das nicht mehr zu ihrer Musik gepasst.

In diesem Zusammenhang hast Du eine interessante Fragestellung aufgeworfen: Was wäre, wenn JT zu ihrer Musik unakzeptable Texte gesungen hätten ? Wenn sie Rassismus, Blasphemie oder Menschenverachtung propagiert hätten ? Hätte ich die Musik weiter gehört ? Eine Zeit lang ganz gewiss, denn bei vielen Songs weiß ich erst seit einigen Monaten, wovon sie handeln. Und danach ? Ich kann es nicht sagen. Echt nicht. Stellen wir uns vor, ein Esoteriker oder Sprachwissenschaftler würde herausfinden, dass die Texte des Mr. Anderson verschlüsselte Botschaften misanthropischen Inhalts enthalten. Würden wir unsere Sammlungen deswegen entsorgen ? Ich für meinen Teil bin da nicht sicher.

Ich habe es mehrfach angedeutet: Die Texte sind mir nicht so wichtig. Bei einem Lied achte ich auf die Musik und nicht so sehr auf die Inhalte. Wenn ich mich mit Inhalten beschäftigen will, nehme ich mir ein Buch. Dass die allermeisten englischsprachigen Künstler schneller singen, als ich verstehen kann, kommt mir dabei sehr zu Gute. In diesem Zusammenhang sprach ich von Bildern, die die Musik in mir erzeugt. Da -gerade bei JT- die Lyriks meist überhaupt nicht zu diesen Bildern passen, bin ich gerne bereit, die textlichen Aussagen zu ignorieren. Allerdings kann ich bei JT kein objektives Urteil abgeben, wie ich im Falle unakzeptabler Texte reagieren würde. Dazu bin ich zu festgefahren. Falls Michael Jackson in einem seiner nächsten Songs (falls es dazu kommt) die Freuden der Pädophilie verherrlicht, sähe der Fall anders aus. Dann wäre ich mit meinem Urteil über diesen Herren keine Sekunde lang im Unklaren. (Zur Erklärung: Ich mag ihn nicht, habe ihn nie gemocht). Das wäre wieder ein Beispiel der selektiven Wahrnehmung und der kognitiven Dissonanz, Du hast es bereits angedeutet.

George Michael hat wirklich bei Queen gesungen. Da ich immer bereit bin, an die monetären Ambitionen eines Künstlers zu glauben, gehe ich davon aus, dass Mr. Michael die neu aufgeflammte Popularität der Gruppe nutzte, die nach dem Tode Freddy Mercurys einsetzte, um seinen Kühlschrank noch einmal ordentlich zu füllen. Künstlerisch passte Mr. Michael zu Queen wie Sahne auf Pizza. Aber der rollende Rubel schmirgelt manche Kanten glatt.

Robbie Williams gehört nicht zu den Menschen, die ich mit auf eine einsame Insel nehmen würde. Sein Lebensstil wirkt auf mich kindisch. Er scheint mit den Folgen seines Ruhms überfordert zu sein. Ich sehe hier Parallelen zu Mr. Jackson. Aber im Unterschied zu diesem sind Mr. Williams einige Platten gelungen, die mir gefallen.

Zur Zukunft von JT nur soviel: Ich erwarte aus dieser Ecke nichts mehr und kann also nicht enttäuscht werden. Um kommende Alben werde ich einen großen Bogen machen, unabhängig davon, was der Titel versprechen mag.

Die Aqualung-Polka bewegt sich jenseits aller Kritik.

Der Liveauftritt zu Watching me, watchin you bestätigt viele meiner Lästereien der vergangenen Monate. Ein Experiment, das in die Hose ging. Try and error, was soll’s ?

Trotz aller Lästereien: Wenn ich an JT denke, denke ich an die Gruppe in ihren 70er Jahren. Die positiven Erinnerungen überwiegen. Wir lernen: Kognitive Dissonanz ist eine Schutzfunktion des Bewusstseins, um sich gegen Einbußen der Lebensqualität zu wappnen.

Das Grönemeyer’sche Genuschel ist ein Phänomen. Er spricht klar und deutlich, aber sobald Musik erklingt, bekommt er die Zähne nicht mehr auseinander. Aber wozu gibt es das WWW ? In Zweifelsfällen können wir dort nachlesen, was wir gehört und nicht verstanden haben. Grönemeyers Musik und Texte sind nach seinen Schicksalschlägen schwerer geworden, Moll in Lyrik und Klang. Zwar glaube ich, dass er die Schläge mittlerweile verdaut hat, aber ein Lied wie Currywurst würde die Erwartungen des Publikums nicht mehr erfüllen. Auch Herr Grönemeyer lebt davon, dass er die Erwartungen seines Publikums erfüllt.

Herzliche Grüße
Lockwood

18.03.2007

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Hallo Lockwood,

wie Du vielleicht mitbekommen hast, war ich diese Woche auf Lehrgang. Da ich immer spät nach Hause gekommen bin, reichte es lediglich für allgemeine Lästereien.

Ja, das Tampa-Video … Ich hoffe Laufi & Co. sind mir da nicht allzu böse, wenn ich die einzelnen Stücke bei youtube.com eingestellt habe und es mir zudem gelungen ist, den schwarzen Rand zu entfernen. Natürlich ist die Scheibe ein Schatz, und es gibt ja auch noch einen 2. Teil des Konzertes – laut ministry-of-information.co.uk sollten das folgende Stücke (Perlen) sein: My God, Cross-Eyed Mary, Encore: Guitar Solo, Wind Up, Back-Door Angels, Locomotive Breath/Wind Up (reprise), Dambusters March/Back Door Angels (reprise. ). Leider hört man überhaupt nichts mehr davon – auch nicht im Laufi-Forum, wo zu Tullavision seit fast einem Jahr Funkstille herrscht. Das Flötensolo von Ian Anderson aus diesem Konzert ist übrigens ‚über Nacht’ zur Nummer eins aller meiner youtube-Videos (täglich rund 250 Aufrufe) avanciert (dazu später vielleicht etwas mehr).

Auch youtube.com ist nicht für die Ewigkeit. Im Gegenteil: da viele der dort eingestellten Videos (wie die auch von Jethro Tull) urheberrechtliche Bedenken hervorrufen (speziell bei den Branchen, die die Künstler eigentlich nur vermarkten), hat youtube.com inzwischen eine Milliarden-Klage am Hals. Es geht um angeblich 160.000 Videos, die bei MTV abgekupfert wurden und jetzt frei zugängig in dem Videoportal stehen. Youtube.com hat den Musik-Vermarktungsbranchen (und damit hoffentlich auch den Musikern) eine Beteiligung an den Werbeerträgen versprochen. Aber manchen ist das einfach zu wenig. Das Ganze ist ein weites Feld, auf dem sich bestimmt noch viele Rechtsanwälte eine goldene Nase verdienen werden.

Ja und die Cover-Versionen von Tull bei youtube.com. Ich weiß nicht, ob ich richtig liege, ich denke Du meinst die Gruppe Dayglo Pirates, die ich allerdings gar nicht so übel finde. Dass mit der Lockenperücke und auch sonst mit dem Outfit (Tull alter Tage) ist ja mehr als Karikatur gedacht. Auf deren Website findest Du einige MP3-Dateien, die von all dem, was ich sonst noch so an Cover-Versionen Tull’scher Titel gehört habe, am besten gefällt. Und man glaubt geradezu, Andersons Stimme zu vernehmen …

Was die Anderson’schen Texte betrifft, so habe ich mich früher auch eher beiläufig damit beschäftigt. Aber eines war mir trotzdem immer klar: Dass diese Texte nicht völlig an dem vorbei gehen, was ich weltanschaulich vertrete. Und was verschlüsselte Botschaften misanthropischen Inhalts betreffen, da sind wir alle nicht immer menschenfreundlich gesonnen. Also auch das würde ich sehr gut verstehen.

Die Aqualung-Polka ist natürlich ein Witz.

Ian Anderson

Wenn man so im Netz stöbert, stolpert man immer wieder über interessante Infos, die unseren Meister betreffen. So las ich u.a. folgenden Satz:

Skurriler Eigensinn prägt auch die Musik des Briten, der 1968 seine erste Single „Sunshine Day“ unter dem Namen „Jethro Toe“ veröffentlicht, weil er fürchtet, dass man Jethro Tull für eine Einzelperson halten könnte.

Toe, der Zeh, wie Two, also zwei? Klingt nicht ganz so plausibel. Bisher wurde das Toe als eine Art Schreibfehler hingestellt, was ich aber auch nicht für sehr glaubwürdig halte. Ich wüsste keinen Fall eines ähnlichen Fauxpas.

Im Zusammenhang mit dem „Water’s Edge Ballet“ sind wir ja auf einen Bruder von Ian Anderson gestoßen, dem Ballettmeister Robin Anderson. Inzwischen habe ich bei www.tullpress.com einen anderen Artikel gefunden, der uns einen weiteren Bruder vorstellt: Alistair! Der Artikel ist vom Oktober 1979, da war Ian Anderson gerade 32 Jahre alt, Robin dagegen bereits 49 und Alistair 44 Jahre alt. Neben dem Artikel gibt es auch zwei interessante Fotos von Robin A. mit der Queen Mom – und Anderson (Ian) mit Anderson (Jon von der Gruppe „Yes“); u.a. erfahren wir aus dem Artikel auch, dass Ian Anderson eine Zeitlang als Reinigungskraft in einem Lutoner Kino gearbeitet hat („he once worked as a cinema cleaner in Luton“). Gewissermaßen vom Tellerwäscher zum Millionär.

Robin Anderson & 'Queen Mom' Ian Anderson (Jethro Tull) & Jon Anderson (Yes)
Robin Anderson & ‚Queen Mom‘ Ian Anderson (Jethro Tull) & Jon Anderson (Yes)

Für heute genug – ich wünsche Dir eine erfolgreiche Woche mit wenig Stress. Genieße, soweit Du es kannst, das nun doch endlich schöne Wetter.

Bis bald
Wilfried

26.03.2007

English Translation for Ian Anderson

Über WilliZ

Wurde geboren (in Berlin-Schöneberg), lebt (nach einem Abstecher nach Pforzheim, längere Zeit in Bremen und Hamburg) in dem Örtchen Tostedt am Rande der Lüneburger Heide - und interessiert sich für Literatur, Musik, Film und Fotografie (sowohl passiv wie aktiv) ... Ach, und gern verreise ich auch!