Die Philosophie der Uhr

„Wer ein Buch liest, wer vor dem Fernseher sitzt oder wer auf seine Armbanduhr schaut, der interessiert sich im allgemeinen nicht dafür, wie diese Vorgänge sein Denken organisieren und kontrollieren, und erst recht nicht dafür, welche Vorstellung von der Welt das Buch, der Fernseher oder die Uhr ihm nahe legen. Aber es gibt Menschen, die diese Dinge registriert haben, vor allem in unserer Zeit. Und einer der hellsichtigsten unter ihnen war Lewis Mumford. Er gehört nicht zu denen, die bloß deshalb auf die Uhr sehen, weil sie wissen wollen, wie spät es ist; sehr viel mehr interessiert er sich dafür, wie die Uhr die Vorstellung von einem ‚Moment’ und einer Abfolge von Momenten hervorbringt. Er beschäftigt sich mit der Philosophie der Uhr, mit der Uhr als Metapher, ein Thema, über das unsere Wissenschaften bisher wenig zu sagen hatten und die Uhrmacher schon gar nichts. „Die Uhr’, so erklärt Mumford, ‚ist ein Antriebsmechanismus, dessen >Produkt< Sekunden und Minuten sind.’ Die Uhr, die dieses Produkt erzeugt, löst die Zeit aus unserem Erlebniszusammenhang heraus und nährt damit den Glauben an eine unabhängige Welt mathematisch meßbarer Sequenzen. Die Gliederung der Zeit in eine Abfolge von Momenten ist, wie sich herausstellt, nicht gott- oder naturgegeben. Der Mensch selbst hat sie hervorgebracht, indem er sich mittels einer von ihm geschaffenen Maschine mit sich selbst unterhält.

In seinem großen Buch >Technics and Civilization< hat Mumford dargestellt, wie uns die Uhr, beginnend im 14. Jahrhundert, zunächst zu pünktlichen Zeit-Messern, dann zu Zeit-Sparern und heute schließlich zu Dienern der Zeit gemacht hat. Im Zuge dieser Entwicklung haben wir gelernt, der Sonne und den Jahreszeiten unseren Respekt zu entziehen, denn in einer Welt, die aus Sekunden und Minuten besteht, ist die Autorität der Natur abgeschafft. Mit der Erfindung der mechanischen Uhr, so kann Mumford zeigen, hörte die Ewigkeit auf, Maßstab und Fluchtpunkt menschlichen Erlebens und Handelns zu sein. Es mag manchen überraschen, aber das unerbittliche Ticken der Uhren hat vielleicht mehr zur Schwächung der Allmacht Gottes beigetragen als sämtliche Traktate der Philosophen der Aufklärung; die Uhr erzeugte eine neue Form des Austauschs zwischen den Menschen und Gott, wobei Gott offenbar der Verlierer blieb. Vielleicht hätte Moses ein weiteres Gebot erlassen sollen: Du sollst dir keine mechanischen Nachbildungen der Zeit machen.“

aus: Neil Postman: Wir amüsieren uns zu Tode – Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie, 1986, S. 20 f .

Die Philosophie der Uhr

Zu dem Buch von Neil Postman komme ich noch. In diesen zwei Absätzen befasste sich Postman mit den Gedanken Lewis Mumfords zur ‚Philosophie der Uhr’. Die Zeit ist ein besonderes Phänomen. Und der Mensch hat sie sich Untertan gemacht, in dem er sie in berechenbare Einheiten zerstückelte. Welche Veränderungen damit einhergehen, ist den meisten Menschen heute nicht bewusst, auch wenn wir alle das ‚Diktat der Zeit’ kennen. Unser tägliches Leben ist von der Zeit geprägt, die uns die Uhren dieser Welt vorgeben. Höchstens an unseren freien Tagen versuchen wir uns von diesem ‚Diktat’ zu befreien, was aber meist nur unzureichend gelingt. Selbst am Wochenende oder während des Urlaubs bestimmt die Zeit unseren Tagesrhythmus.

Vielleicht sollten wir es einmal wagen, ohne Blick auf die Uhr einen Tag zu verbringen und dabei einfach einmal wieder ‚in den Tag hineinzuleben’.

Über WilliZ

Wurde geboren (in Berlin-Schöneberg), lebt (nach einem Abstecher nach Pforzheim, längere Zeit in Bremen und Hamburg) in dem Örtchen Tostedt am Rande der Lüneburger Heide - und interessiert sich für Literatur, Musik, Film und Fotografie (sowohl passiv wie aktiv) ... Ach, und gern verreise ich auch!

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