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Halldór Laxness: Am Gletscher

„Im äußersten Westen Islands liegt der Snæfellsgletscher, an seinem Fuße versieht Pfarrer Jon Primus sein Amt. Doch die Seelsorge, die er den Menschen (und Tieren) angedeihen läßt, ist von ganz eigener Art. Was dem Bischof davon zu Ohren kommt, gibt Anlaß zur Besorgnis: Der Mann repariere die Kirche nicht, taufe die Kinder nicht, beerdige die Toten nicht. Und was hat es mit der Leiche auf sich, die auf den Gletscher geschafft worden sein soll?

All dies zu erkunden ist keine leichte Aufgabe für den jungen Theologen, der sich als Vertreter des Bischofs – kurz „Vebi“ – mit Tonbandgerät und Stenoblock in die Abgeschiedenheit des Gletschers begibt. Er macht skurrile Bekanntschaften, hört sagenhafte Erzählungen und wird in krude Dispute verwickelt. Und er trifft auf eine „Wahrheit“, die sich nicht protokollieren läßt.“
(aus dem Umschlagtext)

Halldór Laxness (1902-1998) erhielt 1955 als bisher einziger isländischer Schriftsteller den Nobelpreis für Literatur. In der Zeit von März 1967 bis Juli 1968 schreib er den Roman Am Gletscher (eigentlich: Seelsorge am Gletscher, isländisch: Kristnihald undir Jökli).

Der Roman „Am Gletscher“ spielt in der isländischen Provinz, im Nordwesten der Insel am Snæfellsjökull (dt. „Schneeberggletscher“). Bekannt geworden ist der Snæfellsjökull durch den französischen Autor Jules Verne, der in seinem Roman Reise zum Mittelpunkt der Erde den Einstieg in die Unterwelt genau am Snæfellsjökull anlegt. Außerdem werden dem Vulkan von Esoterikerseite her Qualitäten als Träger besonderer Kraftfelder zugesprochen. In Laxness’ Roman gibt es diverse Verweise hierzu. Zudem offenbart sich die isländische Provinz durch zahlreiche ironisch-lustige Referenzen an philosophische Strömungen sowie eine Vielzahl von fremdsprachigen Stellen als Pars pro toto, als Teil, das für das Ganze (unsere Erde) steht. Darüber hinaus wird die teils bauernschlaue, teils philosophisch fundierte Haltung des Sira Jon und seiner Umgebung mit der des dogmatischen, aber auch zum Staunen fähigen Vebi kontrastiert.

Es mischen sich immer wieder Realität und Fiktion. Oft weiß man als Leser nicht, wo man sich gerade befindet. Grundlage solcher möglichen Traumpassagen sind so auch Islands Sagas. Wie sehr verwickelt das Geschehen ist, zeigt u.a. die Website literaturschock.de, auf der sich einige junge Damen mit diesem „ironisch-weisen Roman“ herumgeschlagen haben.

Liebenswert gezeichnet ist Pfarrer Jon Primus (Sira Jon), einen wohl typischen „Fall eines isolierten Inselbewohners.“ (S. 70). Hier nur einige seiner Aussagen:

Sira Jon: „ … lieber Helgi; wir wollen uns darüber einig sein, daß wir uns darüber nicht einig werden, und trotzdem gute Freunde bleiben.“
(Steidl taschenbuch 222 – Steidl Verlag, Göttingen – 2009 – 9. Auflage -S. 44)

Sire Jon: „ … Wenn man den Gletscher lange genug ansieht, hören Wörter auf, auch nur das geringste zu bedeuten.“
(S. 59)

Eine weitere bizarre Person ist Professor Dr. Godman Syngmann alias Gudmundur Sigmundsson, der einst einen etwa einen Meter langen Holzkasten auf den Gletscher bringen ließ. Er hat drei Assistenten, „Hirten“ genannt, die offensichtlich aus entfernten Ländern stammen und obskure Studien betreiben. Hier tauchen wir als Leser in eine recht obskure Esoterik ein:

„… in Island herrscht Protomorie und Heteromorie und Dysexelixis. Niemand versteht etwas von Bioradiophonie oder von Astrotelekinesis. Und die Diexelixis ist bei der Regierung nicht gut angeschrieben. …“ (S. 87)

Ich habe versucht, die teilweise von Laxness erfundenen Begriffe zu übersetzen, auch wenn ich des Altgriechischen nicht mächtig bin: Protomorie steht dann wohl in etwa für „vorbildliche Torheit“, Heteromorie für „Anders-Torheit“, Dysexelixis für „Falsch-Entwicklung“, Bioradiophonie für Leben-Strahl-Klang und Astrotelekinesis für Stern-Fern-Bewegung – Diexelixis könnte Hindurch- bzw. Auseinander-Entwicklung bedeuten. Im Grunde spielen die Begriffe aber keine größere Rolle.

Dr. Syngmann befasst sich mit Epagogik und Astrobiologie. (S. 94). „Von den Stätten aus, die das Allwissen sich zur Wohnstatt genommen hat, kann der Menschengeist die Große Verbindung aufnehmen, … Island ist eins der Gebiete dieser besonderen Nähe …“ (S. 88) – Dr. Syngmann: „ … In diesem Gletscher ist eine der bedeutendsten natürlichen Energiequellen unseres Sonnensystems enthalten, eine der Einstrahlungsquellen der Allweisheit. …“ (S 96)

Sira Jon [bezogen auf Dr. Syngmann]: „ … Er war ein solcher Zauberer, daß er unsere Liebste in einen Fisch verwandelte.“ (S. 114)

„Da lachte Sira Jon Primus … Unmöglich, diesen Mann mit Argumenten zu überzeugen. Doch Witzeleien hört er sich stets an, auch wenn es Spitzfindigkeiten sind. Vielleicht ist er ein echter Isländer. …“ (S. 123) Ja, die Isländer sind ein merkwürdiges Völklein. Es ist wieder Sira Jon, der es wohl auf den Punkt bringt: „Wer nicht in der Poesie lebt, überlebt hier auf der Erde nicht.“ (S. 163). So kann es kommen, dass ein Zwölftonnen-Lastwagenfahrer im Nebenberuf Dichter ist.

Der Roman wurde übrigens 1989 von Laxness’ Tochter, Guðný Halldórsdóttir, verfilmt. Es soll auch eine deutsche Synchronfassung mit dem Titel „Am Gletscher“ geben. Bis auf einen kleinen Filmschnipsel (im isländischen Original mit russischen Untertiteln (sic!)) habe ich aber bisher den Film nirgends ausfindig gemacht. Dieser Ausschnitt zeigt den „Vebi“ mit Jodinus Alfberg, dem dichtenden LKW-Fahrer, samt den drei Assistenten des Professors Dr. Godman Syngmann, den „Hirten“:


Kristnihald undir Jökli | Christianity Under the Glacier (1989)

siehe auch meinen Beitrag: Halldór Laxness: Islandglocke