„Listen to the song here in my heart…“

Kretakatze schrieb am 14.09.2008:

Meine lieben Freunde,

ich muss Euch ein Geständnis machen: Manchmal lese ich tagelang Eure Mails nicht, einfach, weil ich gerade mit einem bestimmten Thema beschäftigt bin und dabei nicht abgelenkt oder von außen beeinflußt werden möchte. So war es auch mit Wilfried’s Mails von letzter Woche – ich habe sie beide erst jetzt gerade angeschaut. Deshalb ist vielleicht nicht mehr alles so aktuell und passend, was ich weiter unten schreibe – sei’s drum.

Zuerst einmal war ich völlig überrascht von Wilfied’s Reaktion auf meine letzten beiden Mails. Mit Zustimmung oder Lob hatte ich bestimmt als letztes gerechnet. Auf jeden Fall: Vielen Dank für Deine lobenden und aufmunternden Worte und Deinen ausführlichen Kommentar betreffend meine musikalischen Darbietungen. Dieses „If I can play ist, everybody can“ meine ich übrigens durchaus ernst. Natürlich muss man üben, das musste ich auch. Aber nichts, was ich auf der Gitarre spiele, ist so schwierig, dass es nicht Jeder mit fünf Fingern nach ein bißchen Übung auch hinbekommen könnte. Wirklich nicht!

Dann hat mich natürlich auch besonders gefreut, dass die Musik des Herrn Pascalidis gefallen konnte. Nach meinen letztjährigen Erfahrungen mit dem Versuch Euch griechische Musik näher zu bringen, hatte ich damit eher nicht gerechnet. Viele seiner Lieder klingen zwar nicht direkt nach griechischer Musik, aber da bleibt immernoch die Sprache. Und mit der hatte ja zumindest Lockwood so seine Probleme. Es ist ja auch irgendwo ein Handikap, wenn man den Text nicht versteht und nicht mitsingen kann.

Dabei hat Herr Pascalidis wahrscheinlich so ziemlich das umfangreichste musikalische Spektrum, das ich bei einem Musiker kenne. Es reicht vom traditionellen kretischen Volkslied (z.B. Kantada – Übersetzung nicht nötig) bis zum amerikanischen Rock-Song – etwa Hotel California oder Losing My Religion. Und er schafft es noch Lieder dieser verschiedenen Stilrichtungen medley-artig nahtlos ineinander übergehen zu lassen. Den Vergleich mit Hannes Wader konnte ich da nicht ganz nachvollziehen, unter anderem auch, weil ich Herrn Pascalidis für einen der besten Sänger überhaupt halte. Da spielt Herr Wader wohl doch in einer anderen Klasse. Aber mehr dazu eher ein andermal.

Deine Probleme mit dem 7/8 Takt kann ich gut nachvollziehen, lieber Wilfried, auch ich habe damit eine Weile gekämpft. Aber wenn man den Dreh mal raus hat, ist es ganz einfach, und „Paramithi…“ (hier eine live-Version, leider mit miserablem Sound) ist inzwischen eines meiner liebsten Lieder für „easy playing“ auf der Gitarre. Vielleicht schaffe ich es ja heute noch, meine Version davon auf YouTube hochzuladen (eigentlich wollte ich garnichts mehr auf YouTube stellen…). Ich hoffe damit kann ich dann alle Deine 7/8-Probleme zerstreuen.

So, genug dazu für den Moment, sonst werde ich heute überhaupt nicht mehr fertig… Und nun zu dem, was ich eigentlich schreiben wollte:

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Unser Gedankenaustausch zum Thema Musik scheint mir inzwischen zum Erliegen gekommen zu sein. Das ist auch irgendwie verständlich, es gibt wichtigere Dinge und der eine oder andere von uns hat zurzeit wohl auch einfach andere Probleme. Tatsache ist, dass mich dieses Thema immernoch umtreibt, und also habe ich einmal wieder ein paar Gedanken dazu aufgeschrieben. Und da ich nicht wüßte, wen ich sonst damit belästigen sollte, da schicke ich meine Aufschriebe eben an Euch. Macht damit was Ihr wollt…

Zuletzt ging es in unserer Diskussion um Qualität und Geschmack, besonders den „Geschmack der breiten Massen“ und den „Geschmack, den man haben sollte“. Soweit ich mich erinnere wurden diese beiden „Geschmäcker“ als Gegensätze gehandelt. Tatsächlich bin ich in letzter Zeit zu der Erkenntnis gelangt, dass der „Geschmack der breiten Massen“ sich in weiten Bereichen mit dem meinigen deckt – das ist sicher kein gutes Zeichen. Jedenfalls hat es mich dazu veranlasst, mich mit dem „Geschmack der breiten Massen“ etwas näher zu beschäftigen.

Um zu erkennen, ob eine bestimmte Musik oder ein bestimmter Musiker (vorzugsweise Sänger) den Geschmack der breiten Massen trifft, muss sie oder er den breiten Massen erst einmal bekannt werden. Diesbezügliche Vorhersagen von „Experten“ haben sich in der Vergangenheit immer wieder als Trugschluss erwiesen. Dazu einmal wieder eine Geschichte, und es ist – für mich nicht ganz untypisch – die Geschichte eines jungen Mannes. Ich höre Euch schon aufschreien „Nein, nicht schon wieder!“ – aber darauf kann ich jetzt keine Rücksicht nehmen.

Er war Sänger und Gitarrist einer Band mit Namen Axium. Diese veröffentlichte immerhin 2 Alben unter ihrem eigenen Label, irgendwo im amerikanischen Mittelwesten. Der Musikstil war traditioneller Rock bis Hard Rock, solide gemacht aber ohne irgendwelchen Hit- oder Ohrwurm-Charakter. Die Band blieb weitgehend unbekannt. Nach der College-Zeit brach sie auseinander – man musste Geld verdienen. Der junge Mann verdingte sich als Barkeeper und musizierte weiter, eine Solo-Scheibe wurde produziert. Der Durchbruch ließ auf sich warten…

Das Erste, was ich von ihm zu sehen und zu hören bekam war dieses Video. „Wow“, dachte ich, „das klingt aber gut! Das ist genau der Sound, den ich hören möchte, und genau so muss das gesungen werden! Da sitzt jeder Ton.“ Natürlich habt Ihr sofort erkannt: Das ist der alte Free-Klassiker „All Right Now“, und es handelt sich schon wieder um American Idol. Aber es ist einfach so, dass dieser Show-Wettbewerb dieser Tage die wohl wichtigste Plattform ist, auf der getestet wird, was bei den breiten Massen ankommt. Und da kann man immer noch so diese oder jene Überraschung erleben.

David Cook, so sein Name, hatte eigentlich garnicht vorgehabt sich bei American Idol zu bewerben. Er war der Meinung, er schafft das auch allein. Aber sein jüngerer Bruder wollte vorsingen, also hatte er ihn zur Audition begleitet. Und da er nun schon mal dort war, war es nahelegend, dann doch auch einmal vorzusingen. Seinen Bruder wollten sie nicht haben, aber er wurde zu Simon und Co. durchgewinkt. Sein Auftritt vor dieser Jury drängt nicht unbedingt die Vermutung auf, hier einen künftigen Star vor sich zu haben. Sein Pullover sieht aus als hätte er ihn von Clay Aiken geliehen – der war zu seiner ersten (erfolglosen) Audition im selben Design erschienen – und seine Punkrock Stehhaar-Frisur wirkt nicht direkt Millionen-tauglich. Aber auch Mr. Cook sollte sich noch als anpassungs- und lernfähig erweisen.

Meiner Meinung nach gibt es eine ganze Reihe sehens- und hörenswerter Auftritte des Mr. Cook bei American Idol, aber auf die möchte ich eher in einem anderen Zusammenhang zurückkommen. Das soll ja hier alles nur die Einleitung sein. Jetzt nur noch einmal sein Auftritt in der Runde der letzten 20 in voller Länge mit Vorfilm und Kommentaren der Jury: All Right Now. Ich denke den Song kann man gut auch zweimal hören. Bereits in dieser frühen Phase des Wettbewerbs wagt es Mr. Cook sich mit Mr. Cowell anzulegen: Er lässt ihn nicht ausreden und gibt Ihm zu verstehen, dass er dessen Meinung bezüglich seines „Word-Nerd“-Filmchens und seines mangelnden Charisma für nachrangig hält. Er hat den Applaus und die Lacher auf seiner Seite. Simon Cowell reagiert mimosenhaft empfindlich, und seine seltsam übertriebene und unpassende Gestik offenbart, dass er tatsächlich gekränkt und irritiert ist.

Außerdem muß Mr. Cowell hier wohl einmal wieder Tomaten auf den Augen und Kartoffeln in den Ohren gehabt haben. Es war im Übrigen das letzte Mal, dass er David Cook so abfällig kritisiert hat. Jedenfalls – trotz langweiliger Kreuzworträtsel und charismatischer Mängel kam Mr. Cook weiter und bewies im Verlauf des Wettbewerbs, dass er nicht nur rocken kann, er kann (wenn es sein muss) auch sülzen ohne kitschig zu wirken: First Time Ever I Saw Your Face. Dieses Lied hat mir noch nie besonders gefallen, und es gibt grauenvolle Versionen – selbst Elvis Presley und Johnny Cash haben sich daran versucht. Zuletzt haben Celine Dion und (praktisch als Kopie) Leona Lewis Covers produziert, die so langsam und quälend sind, dass ich bei jedem Ton auf die Uhr geschaut und mich gefragt habe, wie lange es wohl noch dauert bis der nächste kommt – mehr als drei Töne habe ich nicht ertragen. Die Version von David Cook ist die einzige, die mir gefällt.

Wie auch immer, schließlich kam es soweit, dass sich David Cook im Finale wiederfand, zusammen mit seinem hoch favorisierten Konkurrenten David Archuleta. Das Duell der beiden Davids, der „ungewaschen wirkende“, „arrogante“ (O-Ton einiger seiner Kritiker) Rocker gegen den herzigen 17-jährigen Jungen mit der schönen Stimme, der lauter nette Lieder gesungen hatte. Noch während die Telefonleitungen unter dem Ansturm der Anrufer heißliefen, prophezeite Mr. Cowell in einer Talkshow den Sieg von David Archuleta, denn „alle Teenies und alle Omis werden für ihn stimmen“. Das war eine Beleidigung der Teenies und erst recht der Omis (zu denen ich mich altersmäßig auch schon fast zähle), und das wollten die wohl nicht auf sich sitzen lassen. Zusammen mit den Opis und allen Altersgruppen dazwischen griffen sie zum Telefon und wählten sich die Finger wund – es gab einen neuen Rekord von über 97 Mio. Anrufen innerhalb von 4 Stunden. Der Gewinner mit 12 Mio. Stimmen Vorsprung wurde David Cook. Das bedeutet im Klartext: Für den Rocker wurden fast 56 Mio. Stimmen abgegeben. Soweit mein erstes Kapitel zum Thema „Geschmack der breiten Massen“.

Wie wir ja auch bereits wissen, ist American Idol nicht die einzige Talent-Show, es gibt zahlreiche „Konkurrenzprodukte“ anderer Fernsehsender, Talent-Shows sind zurzeit ein Renner auf dem Markt. Da ist z.B. noch „America’s got talent“, und in dieser Show erschien im Jahr 2006 ein 11-jähriges pausbäckiges Mädchen auf der Bühne und verkündete, sie singt jetzt And I am Telling You (I’m Not Going). Ich vermute ich habe mir schon bei den ersten paar Tönen ungläubig die Ohren gerieben – man kann sich einfach nicht vorstellen, dass diese Stimme aus diesem Kind kommt. Sie wirkt wie ein Medium für jemanden, der mindestens doppelt bis dreimal so alt ist.

Bianca Ryan hat diesen Wettbewerb gewonnen und war anschließend im Jahr 2006 in allen Fernsehshows und in aller Munde. Ihre erste Platte, Ende 2006 veröffentlicht, kam aber in den Charts nur bis auf Platz 57, und ich habe den Eindruck es ist ziemlich still um sie geworden. So ein Überraschungseffekt funktioniert halt nur einmal. Und auf der Platte hört man nur die Stimme, man sieht nicht das Kind dazu, und damit ist der größte Teil vom Witz weg. Meiner Meinung nach (soweit ich das anhand von Videos beurteilen kann) konnte Bianca auch bei Live-Auftritten nicht immer überzeugen, so gut wie bei ihrem ersten Auftritt war sie nie wieder, wenn sie auch bestimmt singen kann. Dazu kommt: Auch sie wird immer älter und damit weniger sensationell, andere Nachwuchstalente rücken nach und haben sie schon überholt, wie wir gleich sehen werden. Hier wurde eine Eintagsfliege produziert, die zumindest vorläufig keine eigenen musikalischen Akzente setzen kann und deshalb wieder in der Masse untergeht.

Neben den Talentshows wird aber auch zunehmend ein anders Medium zur Plattform für die Verbreitung von Musik: Das Internet und hier speziell YouTube. Die (soweit ich das beurteilen kann) erste Sängerin, die über das Internet weltweite Bekanntheit erlangte, stammt aus dem fernen Osten, genauer gesagt von den Philippinen. Auch sie begann ihre Karriere als Kind in Talentshows. Aber wie hätte vor World Wide Web und YouTube die Welt davon erfahren, wenn auf den Philippinen ein Kind singt? Übrigens, wenn auf den Philippinen ein Kind singt, dann klingt das so: To Love You More (nur ein kurzer Ausschnitt).

Ich muss zugeben, dass derartige Bilder ein ungutes Gefühl in mir hinterlassen. Ich halte nichts davon 9-Jährige aufzuputzen wie eine Prinzessin und sie singen zu lassen „I want to love you more…“. Was fängt ein Kind mit diesem Text an? Aber vielleicht ist das auch nicht so wichtig. Charice scheint es zum Glück nichts geschadet zu haben. Diese Talentshow hat sie jedenfalls gewonnen, aber damit war sie noch lange kein Star. Auf den Philippinen ist die Konkurrenz hart und der Markt für Kinderstars scheint begrenzt. Weitere Talentshows folgten, die letzte im Jahr 2006, bei der sie „nur“ Zweite wurde.

Oftmals gilt der Prophet eben nichts im eigenen Land. Aber ein Unbekannter wurde auf sie aufmerksam und stellte Videos von ihren Auftritten ins Internet. Darüber stolperte man wohl in Korea, im Frühjahr 2007 wurde sie als Gast in eine koreanische Talentshow eingeladen. Ein Video ihres atemberaubenden Auftritts dort wurde auf YouTube gestellt und sollte Karriere machen. Die inzwischen 14-Jährige singt das Lied für kleine Mädchen in kurzen Röckchen, das wir schon kennen: Charice – And I am Telling You (I’m Not Going).

Dieses Video fiel auch in Amerika auf. Im Dezember 2007 erhielt Charice eine Einladung in eine der populärsten amerikanischen Fernsehshows, danach ging alles ganz schnell. Sie wurde in den USA von Show zu Show herumgereicht, und auch auf den Philippinen war sie plötzlich ein vielgefragter „Internationaler Star“. Der bekannte und einflussreiche amerikanische Produzent David Foster kümmerte sich persönlich um ihr erstes Album, es wurde im Frühjahr veröffentlicht. Und einer der zahlreichen Höhepunkte ihrer kometenhaften Karriere der letzten Monate war ihr herzergreifender Auftritt bei Oprah Winfrey im Mai: Charice – I Have Nothing.

Jetzt ist man in den USA dabei eine neue Diva aus ihr zu machen, die nächste Whitney Houston, Mariah Carey und Celine Dion in einem. Zur Anschauung noch eine Version von I Have Nothing. Wie kann man nur dieses Kind, das beim Singen üblicherweise um sich schlägt und tritt, statisch hinter einen Mikrophonständer stellen? Wer braucht denn eine neue Diva, es gibt doch schon so viele? Und es ist eben gerade der Charme von Charice, dass sie keine Diva ist. Aber das werden die Show-Produzenten hoffentlich auch noch kapieren. Und Gott sei Dank lässt sich Charice auch durch Mikrophonständer, künstlich drapierte Frisuren und unpassende Kleidchen nicht vom Singen abhalten.

Jetzt liegt es natürlich nahe Charice mit Bianca Ryan zu vergleichen, und das ist auch bereits ausgiebig getan worden. Wird die Erfolgskurve von Charice genauso verlaufen wie die von Bianca, deren erstes und bislang einziges Album übrigens auch von David Foster produziert wurde? Ich sage nein, denn Charice hat ganz andere Voraussetzungen. Da ist zunächst die Tatsache, dass sie einfach konstant deutlich besser singt und Stimmakrobatik beherrscht, bei der Bianca nicht mithalten kann. Dazu kommt ihr spektakulärer Vortragsstil – sie explodiert förmlich auf der Bühne, da sitzt man nur noch mit offenem Mund da und staunt (ich jedenfalls). Und die Faszination, die davon ausgeht, hat nicht in erster Linie mit ihrem Alter zu tun.

Ein weiterer wichtiger Vorteil ist der exotische Charme ihres asiatischen Aussehens. Es gibt bislang keinen asiatischen oder asiatisch aussehenden Weltstar – gab es überhaupt schon einmal einen? Hier klafft eine riesige Marktlücke, und Charice kommt gerade recht sie auszufüllen, sie könnte die Stimme und das Gesicht Asiens werden. Eigentlich sieht sie nicht direkt philippinisch aus (eher überhaupt nicht), man könnte sie genauso gut für eine Chinesin, Japanerin, Koreanerin, Vietnamesin oder Thailänderin halten, selbst unter den amerikanischen Indianern und Indios gibt es Gesichter wie ihrs – bis hin zu den Eskimos. Eigentlich könnte sich bald die halbe Weltbevölkerung mit ihr identifizieren, vor allem die Hälfte der Welt, die bisher immer hinter den Amerikanern und Europäern zurückstehen musste. Ob diese das wirklich tun würden, kann ich natürlich nicht beurteilen, aber zumindest könnte Charice für die Amerikaner (und vielleicht auch die Europäer) diese Hälfte der Weltbevölkerung (musikalisch) repräsentieren. (Wir können doch all diese Chinesen und Japaner sowieso nicht auseinander halten – oder?)

Nach all diesen geistigen Höhenflügen betreffend die rosigen Aussichten auf ihre glänzende Karriere, zurück auf den Boden der gegenwärtigen Tatsachen und zu meinem Lieblings-Video von Charice: Alone. Es zeigt ein Kind, das im Familienkreise vor dem Weihnachtsbaum mal gerade eben noch bei laufender Camera ein Lied ins Mikrophon singt, während ringsherum der Tisch gedeckt wird. Man hat den Eindruck, singen ist für sie bereits so selbstverständlich wie reden oder atmen, es ist ein inneres Bedürfnis und eine Freude, etwas, von dem sie sich durch nichts abbringen lassen würde. Dieses Video hat mich dazu veranlasst darüber nachzudenken, was eigentlich „Singen“ ist.

Musik ganz allgemein ist Ausdruck von Emotionen, das ist nichts Neues. Singen ist wohl die persönlichste Art und Weise, Musik zu machen, denn der Ton kommt direkt aus dem eigenen Innersten, hier werden Gefühle praktisch unmittelbar in Klänge umgesetzt. Dazu hat ein Lied üblicherweise einen Text, das heißt man kann den Klängen gleichzeitig durch Worte eine Bedeutung verleihen, oder auch umgekehrt, die Worte werden in ihrer Bedeutung durch den Ton unterstrichen.

Meist ist Singen ein Mittel, Gefühle oder Bedürfnisse auszudrücken, die man im „normalen“ Leben nicht oder nicht in ausreichendem Maße ausdrücken oder ausleben kann. Welche Freude für ein Kind, das mit dem Fuß aufstampfen und schreien (oder singen) kann „No, no, no, no, I’m not going…“, und das dafür nicht eins hinter die Ohren, sondern Beifall bekommt. Wenn Charice singt „Don’t you dare to walk away from me“ und dabei drohend die Faust schüttelt, könnte man fast Angst vor ihr bekommen. Kaum ist der letzte Ton des Lieds verklungen, ist sie einfach wieder ein liebes und sanftmütiges Mädchen, nie würde sie sich im „richtigen“ Leben so benehmen. Aber all diese Aggressivität steckt in ihr, und Singen ist ihre Weise, diese Seite ihrer Persönlichkeit auszuleben. Wir kennen das ja bereits von Meister Anderson.

Unter diesem Gesichtspunkt habe ich eine kleine Auswahl Videos zusammengestellt zum Thema „Der singende Mensch“. Von welchen Emotionen sind die Sänger angetrieben? Zuerst noch einmal Charice – Listen. „Listen to the song here in my heart…“, die erste Zeile dieses Liedes könnte gut die Überschrift zu diesem Kapitel sein. Letztendlich möchte doch fast jeder, der singt, auch gehört werden, er möchte sich und seine Gefühle mitteilen. Und wenn man singt ist die Wahscheinlichkeit ziemlich hoch, dass tatsächlich jemand zuhört – höher jedenfalls, als wenn man nur sprechen würde.

Das nächste Video hatten wir schon einmal, aber es darf in dieser Sammlung nicht fehlen: k.d. lang – Helpless. Und noch eine Lady: Sarah McLachlan – Angel. Mrs. McLachlan ist im Gegensatz zu den anderen Damen durch das Instrument in der Gestik stark eingeschränkt. Sie gleicht das durch intensive Mimik und deutliche Akzentuierung im Gesang aus. Trotzdem bekommt sie jetzt von mir noch eine zweite Chance ohne Klavier Sarah McLachlan – Possession.

Jetzt zu den Herren: Ian Anderson – Whole Lotta Brick (ja, ich weiß, den kennt Ihr schon…). Ganz anders: Cat Stevens – Into White und Miltos Pascalidis – Sou tilefono (Übersetzung hier wohl überflüssig). Und wirklich nicht nur um Euch zu ärgern: Clay Aiken – Measure Of A Man.

Was mir an diesen Aufnahmen aufgefallen ist: Abgesehen von Herrn Anderson, der natürlich wie immer aus dem Rahmen fällt, haben die Herren beim Singen mindestens die halbe Zeit die Augen geschlossen, sie wirken mehr oder minder in sich selbst versunken, während die Damen gestenreich mit dem Publikum zu sprechen scheinen. Habe ich vielleicht nur einfach mal wieder die falschen Männer ausgesucht? (Das passiert mir ständig…). Aber wenn man bedenkt, dass beim Singen hauptsächlich die Emotionen artikuliert werden, die im alltäglichen Leben zu kurz kommen, dann kommt es ja vielleicht doch nicht von ungefähr, wenn – überspitzt ausgedrückt – die Frauen sich hier alle austoben während die Männer eher „in sich gehen“.

Zum krönenden Abschluss jetzt noch zwei Beispiele die zeigen, wie ein Lied auf den Sänger zurückwirken kann. Zuerst Melanie – Tuning My Guitar… nicht gerade ihr bekanntestes Stück und auch nicht das eingängigste, aber ein bemerkenswerter Text und eine bemerkenswerte Performance. Am Anfang lächelt sie noch in der Erinnerung bei den Worten „I still haven’t forgotten I did it just for fun“, aber am Ende des Liedes kommt die ganze Wut in ihr hoch auf die Leute, von denen sie da singt – „Who do you think you are?!“ – und als das Lied vorbei ist, da scheint sie immernoch wütend.

Ich beende meinen heutigen Vortrag so, wie ich ihn begonnen habe: Mit David Cook – The World I Know. Das Lied hatte er eigentlich von Anfang an singen wollen, es ist das Lied für seinen krebskranken Bruder, aber immer hat man ihm davon abgeraten – es ist zu schwach, das bringt keine Stimmen. Jetzt steht er im Finale und es ist das letzte Lied, das er zu singen hat, das Lied, das der Knaller sein muss, der alle davon überzeugt, dass er das nächste American Idol ist. Und jetzt singt er es, allen guten Ratschlägen zum Trotz. Zum Einen vielleicht, weil er sowieso keine Chance hat, alle Experten haben vorhergesagt, dass David Archuleta gewinnen wird, also ist es sowieso gleich, was er singt. Vor allem aber, weil er dieses Lied einfach noch singen MUSS. Bei seinem (vermeintlich) letzten Auftritt auf der Bühne von American Idol singt er dieses Lied nur für sich und seinen Bruder, und danach ist er von dem, was es für ihn bedeutet, so überwältigt, dass die vorletzte Textzeile des Lieds Wirklichkeit wird – „…the tears roll down…“.

Mr. Cowell lag natürlich einmal wieder völlig daneben, es war das exakt richtige Lied im exakt richtigen Moment. Tatsächlich ist die Reaktion von Paula Abdul meist der beste Indikator dafür, wie die „breiten Massen“ reagieren werden. Ich denke es war nicht zuletzt dieser Auftritt, der die letzten Unentschlossenen noch dazu bewegt hat zum Telefon zu greifen und für ihn zu stimmen.

Damit wäre ich für heute am Ende angelangt, ich hoffe ich habe Euch nicht zu sehr ermüdet. Vielleicht habt Ihr ja jetzt auch Lust bekommen ein bißchen zu singen…???

Viel Spaß und haltet die Ohren steif
Kretakatze

PS.: Nur noch ein kurzer Epilog zu David Cook und unseren „modernen (Musik-)Zeiten“: 2 Wochen nach seinem Gewinn von American Idol war er mit 11 Titeln gleichzeitig in den Billboard Hot 100 Charts vertreten – ein Rekord, der bislang nur von den Beatles überboten wurde (vermutlich irgendwann so vor ca. 40 Jahren). Es dürfte das erste Mal gewesen sein, dass ein Musiker, von dem es noch nicht eine einzige Platte zu kaufen gibt, die Charts beherrscht. Aber heutzutage läuft das eben alles ein bißchen anders. Sofort nach seinem Titelgewinn muss man Mr. Cook ins Studio gezerrt haben, innerhalb weniger Tage wurden praktisch alle Songs, die er bei AI gespielt hatte, in voller Länge als Studio-Version aufgenommen und auf iTunes gestellt – wir leben in rasanten Zeiten.

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Wilfried schrieb am 18.09.2008:

Hallo, meine Freunde,

Kretakatze hat uns einmal wieder sehr ausführlich zum Thema Musik, zur Diskussion Qualität und Geschmack, berichtet und dabei den „Geschmack der breiten Massen“ unter die Lupe genommen. Fast zwangsläufig ist sie dabei wieder bei American Idol gelandet und bei einem Herrn David Cook, dem Gewinner dieses Contestes. Nebenbei, nebenbei ist gut, offeriert sie uns zwei junge Mädels, die für ihr Alter zweifellos über ungewöhnliche Stimmen verfügen.

Es ist nicht so, dass ich mich dem Geschmack der breiten Masse völlig verweigere. Aber weder die beiden jungen Mädchen noch Herr Cook können mich begeistern. Ich bezweifle nicht deren Gesangskunst, die ist wirklich beeindruckend. Aber das ist alles nicht mein DING.

Ob nun David Cooks Interpretation des Free-Titels „All Right Now“ besser ist als das Original, möchte ich bereits bezweifeln. David Cook mag besser singen, aber das Original ist für mich das, was ich an anderer Stelle bereits als authentisch bezeichnet habe, es ist also authentischer als das von Herrn Cook.

David Cook ist wie jene Biancas und Charices ein Interpret, ein Nachsänger, ein Sänger, der sich an Fremdtiteln wagt. Wenn er das tut und sich dabei möglichst am Original hält, dann erzeugt er lediglich eine Kopie, die nichts wirklich Neues bewirkt. Wagt er dagegen eine Eigeninterpretation, d.h. versucht er, einen allgemein bekannten Titel auf eigene Weise nachzusingen, dann schafft er auch etwas Neues. Genau hier frage ich mich dann, ist dieses Neue wirklich so neu, so viel anders und vielleicht außer- oder ungewöhnlicher als das Original. Bei Herrn Cook muss ich sagen: nein. Ich stelle hier nicht sein Können in Frage. Ich erwarte nur etwas wirklich Neues. Und genau das bietet er mir nicht. Wenn es dann auch noch Lieder sind (die er außerhalb des Wettbewerbs gar nicht singen würde), die mir nicht sonderlich gefallen, dann ist der Mann für mich abgehakt.

Das mit dem letzten Lied für seinen krebskranken Bruder, die vergossenen Tränen (ich will hier dem David Cook nichts unterstellen), das hat natürlich schon etwas ‚Werbewirksames’ und wird nach meiner Meinung das Zuschauervotum nicht unbeeinflusst gelassen haben. Aber hat das EIGENTLICH etwas mit der Musik zu tun?

Überhaupt die Frage nach der ‚Werbewirksamkeit’. Die beiden genannten jungen Mädchen sind sicherlich das, was man Wunderkinder zu nennen pflegt. Man hält so etwas nicht für möglich: solche Stimmen aus solchen kindlichen Körpern. Und damit rückt dieser optische Aspekt in den Vordergrund. Es geht nicht mehr allein um eine ungewöhnliche Stimme, sondern um diese wunderliche Mischung aus Stimme und Kindsein.

Von dem einen Mädchen schreibt Kretakatze: „ …all diese Aggressivität steckt in ihr, und Singen ist ihre Weise, diese Seite ihrer Persönlichkeit auszuleben.“ Zunächst muss ich sagen, dass mich dieses Fäusteschütteln und Fußgestapfe eher abschreckt. Und ich kann mich von dem Eindruck nicht frei machen, dass hier eine Zirkusnummer läuft. Das Mädel ist schon im Alter von vier Jahren öffentlich aufgetreten. Das wird förmlich gedrillt worden sein, wie ein dressierter Affe diese Show aufzuführen. Sicherlich fließt einiges aus dem Inneren des Mädchens an Emotionen nach außen. Aber auf mich wirkt das leider nicht authentisch, um noch einmal dieses Wort zu benutzen. Weitaus authentischer, also echter, wirkt der Auftritt von k.d. lang. Auch hier werden Emotionen nach außen getragen, Emotionen, die auch auf mich wirken. Und bei Herrn Anderson, na ja, da ist viel Augenzwickern dabei.

Weshalb mir die ganze Chose nicht gefällt: Da ist nichts wirklich Neues dabei. Die Lieder des philippinischen Mädchens klingen für mich fast alle gleich. Da höre ich mir lieber die Lieder von Tom Waits an (gestern habe ich mir eine Scheibe von ihm angetan, deshalb ihn als Beispiel). Das klingt so schön kaputt und übt auf mich wirklich einen ungewöhnlichen Reiz aus. Hier werden Lieder, die eigentlich ganz gewöhnlich sind, in einer Weise interpretiert, die nicht unbedingt innovativ ist, die aber für mich der Inbegriff des Persönlichen ist, glaubhaft und echt.

„Meist ist Singen ein Mittel, Gefühle oder Bedürfnisse auszudrücken, die man im ‚normalen’ Leben nicht oder nicht in ausreichendem Maße ausdrücken oder ausleben kann.“, schreibt Kretakatze. Dem stimme ich natürlich voll und ganz zu. Und es ist auch gut so. Wir alle sollten wieder mit dem Singen beginnen, wenn wir es nicht schon wie Kretakatze tun.

Ohne Gefühle ist Musik steril. Man erwartet förmlich vom Musiker, vom Sänger, dass er einen Teil seiner Seele freilegt. Aber im heutigen Showbiz verkommt das leider immer mehr zu einer Zirkusnummer, wie gesagt. Auch unser Meister Anderson weiß natürlich um solche publikumswirksame Effekte, sonst hätte er kaum den Bekanntheitsgrad erreicht, den er heute noch inne hat. Genug!

Vielleicht noch etwas zur grundsätzlichen Frage, was eigentlich die breite Masse ist. Ich denke, dass das nicht eindeutig definiert werden kann. Bestimmt man diese z.B. über Verkaufszahlen, so können Gruppen wie Jethro Tull (aufgrund der 40 Jahre Existenz) sicherlich auch als ‚Versorger’ der breiten Masse gezählt werden. Zig Millionen Alben sind von Anderson & Co. im Laufe dieser vielen Jahre über den Ladentisch gegangen. Da müssen selbst Sänger wie David Cook oder Clay Aiken zunächst einmal passen.

Ich denke, dass es eine ‚soziologische’ Frage ist. Die ‚breite Masse’ ist eine Bevölkerungsschicht, die sich dadurch auszeichnet, dass sie sich nicht auf Anhieb durch bestimmte Merkmale von anderen Gruppen unterscheidet. Ich habe erst kürzlich einen Bericht über die Gothics-Szene gelesen und gesehen. So gibt es viele Nischen in der Jugendkultur, die sich dadurch hervortut, dass ihre Mitglieder anders als die anderen sind und nicht dem Mainstream angehören. Besonders bei den Jugendlichen ist es geradezu verpönt, der breiten Masse anzugehören, sodass es hier eigentlich keine breite Masse mehr gibt. Und ich denke, dass es auch keine EINE breite Masse gibt, sondern die unterschiedlichsten Strömungen. Da gibt es die Volksmusikliga, dort die Schlagerheinis und anderswo eine ‚breite Masse’, die auf Pop u.ä. steht. Würde es nur EINE ‚breite Masse’ geben, dann hätten wir hier Verhältnisse wie in China vor 20, 30 Jahren (alle in Blauzeug). Addiert man alle Rockfans (von Jethro Tull über ich weiß nicht wen bis Zappa), was hätte man dann? Eine breite Masse, die breitet fast nicht sein konnte.

Also ist der ‚soziologische’ Ansatz auch Asche? Ja und nein. Vielleicht versuche ich es mit dem Individuellen. Wie schon gesagt, könnte man die breite Masse als Gruppe ohne besondere Merkmale, ohne bestimmte individuelle Ausrichtung, betrachten. Das sind dann die Vielen, die im Trüben dümpeln und nur darauf warten, dass sie herausgefischt werden. American Idols (stellvertretend für alle diese und ähnliche Formate) hilft hierbei. Man präsentiert die unterschiedlichsten Sänger/Sängerinnen, versorgt diese mit Musik, die möglichst vielen bekannt ist, und lässt dann den Zuschauer entscheiden, was gerade in sein soll. Als eingefleischter Angehöriger einer bestimmten Szene interessiere ich mich natürlich nicht für solche Sendungen. Wenn ich mich aber noch nicht wirklich festgelegt habe, dann horche ich auf – und siehe da, ganz demokratisch, wie das Ganze abläuft, finde ich meinen Liebling, stimme für ihn – und mir-nichts dir-nichts bin auch ich auf der richtigen Schiene. Mein Geschmack ist total IN, ich gehöre DAZU. Um das zu erreichen, müssen die auftretenden Sänger/Sängerinnen schon ihr Handwerk beherrschen. Man/frau stimmt doch nicht für einen musikalischen Versager. Und da es reichlich bisher unentdeckte Tatente gibt, ist dieser Markt vom Angebot her so schnell nicht zu sättigen.

Übrigens: die Begriffe „breite Masse“, Mainstream, wie auch immer … die werden wir in dieser, im Grunde eigenen Szene so schnell nicht hören. Und es ist eine eigene Szene, die DSDS-American Idol-Superstar-Szene. Abschließende Frage: gibt es eigentlich überhaupt eine ‚breite Masse’, wenn sich keiner wirklich dazugehörig fühlt?!

Ich wünsche Euch ein geruhsames Wochenende.
Bis bald
Wilfried

Ein Gedanke zu „„Listen to the song here in my heart…“

  1. Lieber Wilfried,

    jetzt möchte ich Dir doch wenigstens noch Deine abschließende Frage beantworten, wenn auch stark verspätet. Ich hatte natürlich bereits eine seeehr lange Antwort auf diese Mail von
    Dir verfasst, bin aber dann nicht damit fertig geworden. David Cook werde ich jetzt nur am Rande streifen – da bist Du mir sicher nicht böse – in einem ziemlich langen Kommentar zum Thema „breite Massen“.

    Du hast Dich an einer Definition versucht, und dabei das beschrieben, was sich vermutlich die Meisten unter diesem Begriff vorstellen: Es ist die große Zahl der Durchschnittlichen „ohne besondere Merkmale“, also praktisch die Eigenschaftslosen, die „im Trüben dümpeln“. Danach hast Du noch ein paar Ausnahmen und Einschränkungen angebracht, und schließlich also die Frage aufgeworfen, ob es eine „breite Masse“ überhaupt gibt, weil Dir selbst bereits gedämmert hat, dass an dieser Definition etwas faul sein muss. Sie hat tatsächlich einen schwerwiegenden Haken: Durchschnittliche ohne Eigenschaften gibt es nämlich überhaupt nicht, zumindest niemals genug, als dass sie eine „breite Masse“ bilden könnten.

    Tatsächlich sind die „breiten Massen“ nichts anderes als jeder von uns jeden Tag, sonst wären sie auch nicht „breit“. Aber vor allem: Es gibt nicht EINE breite Masse, es gibt unzählige. Und jede davon ist nichts anderes als eine große Anzahl Menschen, die in genau EINEM Kriterium übereinstimmen, etwa indem sie in EINEM Punkt der gleichen Meinung sind, den gleichen Geschmack haben, das Gleiche tun oder das Gleiche wollen. In allen anderen Kriterien können diese Menschen so unterschiedlich sein wie sie nur wollen.

    Sicher gibt es Individuen, die so exzentrisch sind, dass sie nur selten zur breiten Masse gehören (solche nennt man „Außenseiter“), während andere häufig „mit dem Strom schwimmen“. Aber selbst Individualisten werden immer wieder feststellen, dass sie „dazu gehören“. Etwa zur breiten Masse der Fernsehzuschauer, zur breiten Masse der Biertrinker oder zur breiten Masse der Autofahrer. Vielleicht auch zur breiten Masse derer, die den Bau neuer Atomkraftwerke ablehnen oder zur breiten Masse der Rockmusik-Liebhaber? Oder einfach zur breiten Masse derer, die im Urlaub ins Ausland verreisen. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.

    Bemerkenswerterweise haben die „breiten Massen“ einen schlechten Ruf, und so kommt es, dass kaum jemand meint dazu zu gehören, und dass eigentlich auch niemand dazugehören möchte. Dabei sollte man sich in einer Demokratie doch freuen, wenn man zu den breiten Massen gehört, denn diese – wenn sie in Überzahl auftreten auch „Mehrheit“ genannt – bestimmen, wo’s lang geht. Das gilt für die Politik genauso wie für das Warenangebot im Kaufhaus (auch im Musik-Kaufhaus). Dafür liefert American Idol einmal wieder ein anschauliches Beispiel.

    Auf David Cook bin ich erstmals gestoßen in der Nacht vom 20. zum 21. Mai, als in den USA gerade das Finale von American Idol im Gange war, bzw. die anschließende Telefonabstimmung. Ausnahmsweise war es nicht YouTube sondern eine amerikanische News-Seite, die ich eigentlich aus einem ganz anderen Grund aufgerufen hatte, und auf der ich über einen Artikel über das anstehende AI-Finale stolperte. Unter dem Artikel war bereits eine Fülle von Kommentaren zu finden, und es war eine heiße Diskussion im Gange. Für jeden, der dort postete, er würde für David Archuleta stimmen, gab es mindestens drei die schrieben, sie würden sich für David Cook die Finger wund wählen. Trotzdem waren alle fest davon überzeugt, dass David Archuleta gewinnt – im Übrigen auch der Verfasser des Artikels selbst. Da saß ich kopfschüttelnd vor meinem Bildschirm und habe mich gefragt: Wenn die doch offensichtlich alle Cook wollen, warum glauben sie, dass es Archuleta wird? Bis hin zu Simon Cowell, der zur gleichen Zeit in ein

    er TV-Show den Sieg von Archuleta prophezeite, nicht ohne zu erwähnen, dass er selbst lieber Cook hört.

    Ich denke das liegt daran, dass in allen Köpfen das Bild spukt von einer Mehrheit der „dumpfen Durchschnittlichen“. Zum Einen hat man mit denen natürlich nichts gemeinsam. Zum Anderen wollen dumpfe, durchschnittliche Langweiler ohne Eigenschaften sicher etwas Dumpfes, Durchschnittliches, Langweiliges – also David Archuleta. Ich tue hier dem armen Jungen sicher unrecht – er ist wirklich hübsch und nett und kann schön singen – ohne Ecken und Kanten eben, ohne Profil, ohne kontroverse Eigenschaften (dafür ist er wahrscheinlich auch einfach noch zu jung). Da hat man gedacht, der wäre eher mehrheitsfähig als ein manchmal arrogant wirkender, irgendwie zerzaust aussehender Rocker, der zum Widerspruch neigt und mit leicht heiser klingender Röhrstimme eigenwillige Musiktitel bringt.

    Aber die breiten Massen sind eben keine fest definierte Bevölkerungsgruppe, der man das bieten muss, was zu ihr passt. Sonst wäre es ja auch einfach herauszufinden, was sie wollen – man fragt einfach ein oder zwei Personen, von denen man weiß, dass sie dazu gehören. Breite Massen bilden und verändern sich täglich neu, und eine Vorhersage darüber, wo die nächste entstehen wird, ist ungefähr so zuverlässig wie die Wettervorhersage. Dabei gibt es ja sogar eine Wissenschaft, die sich mit diesem Thema beschäftigt. Sie nennt sich Demoskopie und arbeitet nach dem Prinzip, eine „repräsentative“ Auswahl an Personen zu befragen bzw. zu untersuchen um davon ausgehend auf eine Gesamtheit zu schließen. Nur – wer ist repräsentativ? Eine Auswahl von 1000 Personen, die dies letztes Jahr noch war, ist es dieses Jahr vielleicht schon nicht mehr. Wer repräsentativ ist für politische Einstellungen, ist es in Bezug auf den Musikgeschmack noch lange nicht, und erst recht nicht wenn es darum geht, ob die Zahnpasta

    eher rot oder grün gestreift sein sollte. Tatsächlich ist das Wetter leichter vorherzusagen, denn es gehorcht Naturgesetzen, die breiten Massen tun dies nicht.

    Und es gibt noch einen weiteren wesentlichen Unterschied. Dem Wetter ist es nämlich egal, was der Meteorologe gestern vorhergesagt hat – es kommt wie es will. Die breiten Massen dagegen sind beeinflussbar, und es wird von vielen Seiten versucht, sie zu beeinflussen: Die Medien, die Politik, die Werbung. Selbst die Demoskopie beeinflusst ohne dies eigentlich zu wollen – im Extremfall kann die Vorhersage eines Ereignisses dazu führen, dass es NICHT eintritt. Ich bleibe beim Beispiel American Idol, diesem Abbild unserer demokratischen Gesellschaft: Es gibt Unterhaltung, nette, junge Leute, von denen man sich einen aussuchen kann, und jeder, der ein Telefon hat, kann mitmachen und abstimmen.

    Und dann gibt es da die „Experten“, in diesem Fall Juroren genannt, die versuchen die breiten Massen in die von ihnen gewünschte Richtung zu lenken. Da werden ungeliebte Kandidaten abgekanzelt und madig gemacht oder es wird ihr baldiges Ausscheiden prophezeit – unsicheres, wankelmütiges Publikum identifiziert sich lieber mit erfolgreichen Gewinnern. Andererseits kann diese Taktik auch das exakte Gegenteil bewirken. Sollte die Kritik ungerechtfertigt sein oder einen (womöglich tatsächlich untalentierten) Publikumsliebling treffen, wird sie erst recht eine Welle der Unterstützung auslösen. Aussprüche wie „Wenn das hier noch ein Talentwettbewerb ist und nicht nur eine Beliebtheitswahl, dann kannst Du ihn gewinnen“ (Simon Cowell zu David Cook in der Runde der Top 12) appellieren dagegen an das Publikum, den eigentlichen Inhalt des Wettbewerbs nicht aus den Augen zu verlieren und lenken die Aufmerksamkeit auf einen bevorzugten Bewerber.

    Natürlich weiß Mr. Cowell, dass jeder Erfolg im Musikgeschäft mindestens zur Hälfte auf Beliebtheit beruht, und dass American Idol letztlich ein Popularitätswettbewerb ist. Wer es nicht schafft die Herzen einer breiten Masse zu erobern, der kann einpacken, ganz gleich wie gut er singt – das ist in dieser Branche allgemein so.

    Tatsächlich wurde nach dem Ausgang der Wahl von manchen spekuliert, Simon Cowell und der Rest der Medien könnten David Archuleta vorschnell auf den Thron gehoben haben, nur um David Cook zu helfen. Denn das Phänomen ist ja bekannt: Wird überall Archuleta als der sichere Gewinner gepriesen, dann werden viele, denen es nicht sooo wichtig ist, sich sagen, dass sie es sich sparen können für ihn zu stimmen – er gewinnt ja sowieso. Alle Cook-Fans werden dagegen höchst motiviert sein und wählen wie die Weltmeister, damit er wenigstens so gut wie möglich abschneidet. Im Nachhinein kann natürlich niemand sagen, wie diese Wahl ausgegangen wäre, hätte es all diese Einflüsse und Beeinflussungsversuche nicht gegeben. Demoskopie ist nicht wirklich eine Wissenschaft, es ist Kaffeesatzlesen.

    Soweit zu den breiten Massen. Jetzt möchte ich nur noch kurz ein paar Tatsachen zu Charice erwähnen, um nicht die wilden Spekulationen einfach so stehen zu lassen. Es stimmt nicht, dass sie mit 4 Jahren bereits öffentlich aufgetreten ist (da hatte Oprah etwas falsch verstanden), sie hat mit 4 Jahren angefangen zu singen, und zwar zuhause in ihrem Kinderzimmer. An Talentwettbewerben hat sie angefangen teilzunehmen, als sie 7 war. Es waren Talentwettbewerbe, wie sie in den Schulen und Turnhallen der Stadtviertel von Manila ausgetragen werden um das örtliche Publikum zu unterhalten. Dort ist sie selbst hingegangen, aus eigenem Antrieb. Zu Beginn wollte man sie abwimmeln, sie wäre nicht gut genug. Das hat sie sich nicht gefallen lassen und hat nur noch härter geübt. Niemals ist sie von irgend jemandem „abgerichtet“ oder „dressiert“ worden (außer vielleicht von sich selbst). Aufgewachsen ist sie übrigens allein mit ihrer Mutter, einer fast schüchtern wirkenden kleinen Frau, die immer nur schweigend und

    ein wenig unsicher daneben steht, wenn ihre Tochter interviewt wird und redet wie ein Wasserfall. Ich glaube die Frau hat gegen dieses Kind mit diesem eisernen Willen nie eine Chance gehabt. Denn Charice hatte einen Traum: Sie wollte einmal zusammen mit Celine Dion singen (ihr erstes Lied mit 4 Jahren war „My Heart Will Go On“). Letzten September hat sie wirklich mit Celine Dion zusammen gesungen, im Madison Square Garden vor 20.000 Zuschauern.

    Ich hoffe Du verzeihst mir diesen Kommentar in Überlänge. Es soll nicht wieder vorkommen.

    Liebe Grüße von Kretakatze

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