Kategorie-Archiv: Geistesblitze

Vom Denken und Dichten – Von Philosophie, Wissenschaft bis Religion

Deutsch für ‘besorgte Bürger’

Wer sich so in Rage schreit und schreibt, vergisst gern jegliche Rechtschreibung, die grammatischen Regeln und kennt als Zeichensetzung nur noch ein Vielfaches des Ausrufungszeichens. Wahrscheinlich wurde im Deutschunterricht auch nicht richtig aufgepasst. Für all die ‚besorgten Bürger‘, die Probleme mit der deutschen Sprache haben, möchte ich hiermit helfen, ihren Hass in möglichst wohlartikulierte Worte fassen zu lernen.

Tastatur für ‚besorgte Bürger‘

Beginnen möchte ich mit den Tuwort (Tätigkeitswort, Zeitwort, Verb) ‚sein‘, das nicht mit dem besitzanzeigenden Fürwörter (Possessivpronomen) ‚sein‘ zu verwechseln ist (mein, dein, sein, wobei mein und dein als solches schon allein nicht zu verwechseln sind). Es ist ein ziemlich schwieriges Tuwort, da es unregelmäßig gebildet wird.

Verben, also Tuwörter, werden über das Tempus (die Zeit) und für Personen samt Numerus (Anzahl) ausgebildet. Bekanntlich (wirklich?) gibt es grammatisch die 1. Person, die 2. und die 3. Person als Einzahl (Singular) und Mehrzahl (Plural). Zu der Zeitbildung kommen wir gleich. Erst einmal bleiben wir bei der Gegenwart (Präsens). Damit ergibt sich das Folgende für das Tuwort ‚sein‘:

Einzahl:
Ich bin
Du bist
Er, sie, es ist

Mehrzahl:
Wir sind
Ihr seid
Sie sind

Nun, meine lieben ‚besorgten Bürger‘: Es wäre zu schön, wenn es bei dieser einzigen Aussageform (Modus) bliebe. Neben der Wirklichkeitsform (Indikativ) wie oben gibt es natürlich auch noch die Möglichkeitsform (Konjunktiv) und die Befehlsform (Imperativ). Die Grundform (Infinitiv) mit zu (… zu sein) sollte nicht ganz vergessen werden.

In der Möglichkeitsform heißt das:

Einzahl:
Ich sei
Du seiest, seist
Er, sie, es sei

Mehrzahl:
Wir seien
Ihr seiet
Sie seien

Mit dem Konjunktiv befindet Ihr Euch meist auf Kriegsfuß und benutzt dafür gern den Indikativ (Er hat gesagt, dass er zum Pegida-Aufmarsch geht. anstatt Er sagte, dass er zum Pegida-Aufmarsch gehe.)

Der Imperativ ist einfach: Sei! Sei ein Mensch und kein Tier!

Neben der Zeit der Gegenwart gibt es noch zwei weitere ‚normale‘ Zeiten wie Vergangenheit (Präteritum) und Zukunft (Futur I) und die jeweiligen vollendeten Formen wie vollendete Gegenwart (Perfekt), vollendete Vergangenheit (Plusquamperfekt) und vollendete Zukunft (Zukunft II). Das natürlich auch jeweils in Wirklichkeits- und Möglichkeitsform.

Begnügen wir uns hier erst einmal (Eure Köpfe rauchen sicherlich schon!) mit der Vergangenheit in der Wirklichkeitsform:

Einzahl:
Ich war
Du warst
Er, sie, es war

Mehrzahl:
Wir waren
Ihr wart
Sie waren

Die Zukunft wird übrigens mit dem Hilfsverb werden gebildet (ich werde sein usw.). Den Genus verbi, die Tätigkeits- (Aktiv) und Leidensform (Passiv), lassen wir erst einmal außen vor, zumal mit dem Tuwort ‚sein‘ als verbindendes Tuwort (Kopula) lediglich ein Zustandspassiv (z.B. ‚die Tür ist geöffnet‘) gebildet wird. Ich will hier niemanden überfordern.

Grau ist bekanntlich alle Theorie (so Mephisto in Goethes Faust). Kommen wir zu einer kleinen praktischen Übung:

Wir sind das Volk! schreit ihr. (1. Person in Gegenwart Indikativ)
Ihr meint, ihr wärt das Volk! Na, welche Form ist das?
Ihr seid ein Dreck! bekommt ihr öfter als Antwort. Und das?

In der nächsten Lektion werden wir uns mit den Tuwörtern ‚schießen‘ und ‚scheißen‘ beschäftigen – und deren Etymologie, also Herkunft und Geschichte (und ob beide einen gemeinsamen Ursprung haben).

Unwort des Jahres 2015: Gutmensch

Die Rechtsextremen-Szene hat ihren eigenen Jargon. Dabei werden oft Begriffe übernommen und in ihrem Wortsinne umgekehrt. Das Wort ‚Gutmensch‘ dient so der Verhöhnung von Menschen, die sich gegen Rechtsextremismus einsetzen, und damit als „Kampfbegriff gegen Andersdenkende“.

Jetzt wurde ‚Gutmensch‘ zum Unwort des Jahres 2015 gewählt, nachdem das Wort bereits 2011 auf den zweiten Platz gelandet war. Ich finde das gut so. Wer „Toleranz und Hilfsbereitschaft pauschal als naiv, dumm und weltfremd, als Helfersyndrom oder moralischer Imperialismus diffamiert“, wer diejenigen, „die sich ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe engagieren oder die sich gegen Angriffe auf Flüchtlingsheime stellen“, zu beleidigen sucht, wird auf diese Weise bloßgestellt. Wer andere mit diesem Unwort bedenkt, offenbart lediglich seine dumme Arroganz, Uneinsichtigkeit, ja sein ganzes asoziales Verhalten.

Unwort des Jahres 2015: Gutmensch

Leider wird der Ausdruck nicht nur im rechtsextremen Lager benutzt, sondern auch von Journalisten zur Pauschalkritik an einem „Konformismus des Guten“. Vielleicht lässt die Brandmarkung als Unwort des Jahres solche Journalisten ihr Schreiben überdenken.

Natürlich steht die Wahl des Wortes ‚Gutmensch‘ im Zusammenhang mit dem, was immer wieder als Flüchtlingskrise bezeichnet wird. Und geradezu zwangsläufig wären wir damit bei den Ereignissen der Silvesternacht am Kölner Hauptbahnhof. Dazu ist bis heute sehr viel geschrieben worden. Vor allem viel Unsinn. Keine Angst, ich werde mich hüten, hier meinen Senf dazu beizutragen. Aber so ganz entkommt Ihr mir dann doch nicht.

Zunächst verweise ich auf einen Gastbeitrag der türkischstämmige Autorin Necla Kelek (58) auf rp-online.de: Kaum einer hat sich Gedanken gemacht, wer da ins Land kommt

Frau Kelek ist nicht unumstritten. Zu den vielen hunderttausend jungen männlichen Flüchtlingen schreibt sie: „Ihre Sozialisation ist von Gewalt, der Unterwerfung der Frauen durch die Männer, von Homophobie und Antisemitismus, von Unterwerfung des Einzelnen unter die religiöse Gemeinschaft, von der Familie, dem Clan geprägt.[ …] alle kommen mit der kulturellen Prägung eines islamischen Welt- und Menschenbildes hierher, das sich von dem libertären Freiheitsbegriff unserer Zivilgesellschaft fundamental unterscheidet.“

Damit hat sie meiner Meinung durchaus Recht. Sie schreibt dann aber weiter: „Das Ergebnis ist ein Kulturschock, der sich in Gewalt und Übergriffen entladen hat.“ – siehe Köln. Ich fürchte, dass hier extrem verallgemeinert wird. Ein Problem vieler (fast aller) Wortmeldungen in diesen Tagen. Die jungen Flüchtlinge kommen nach Deutschland durchaus mit der Einsicht, dass hier vieles anders ist und dass sie sich den Gegebenheiten anpassen, dass sie sich integrieren müssen, wenn sie bleiben wollen. Ausnahmen gibt es natürlich immer. Und die haben sich in Köln ‚vorgestellt‘.

Aber genug. Oder doch noch nicht ganz. Ich empfehle einen Beitrag von Thomas Fischer, Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof, auf zeit.de: Unser Sexmob. Sein ironischer, gar polemischer Ton mag manchen vielleicht abschrecken; ich finde diesen aber durchaus dem Thema angemessen. Denn so langsam glaube ich, dass wir in einem Irrenhaus leben. Und dem kann man nur noch mit einer Prise Humor begegnen. Herr Fischer geht mit viel gesundem Menschenverstand an die Sache. Und besonders unsere Politiker, allen voran Frau Merkel, bekommen ihr Fett weg. Ich empfehle dabei, die Kolumne bis zum Ende zu lesen. Von meiner Seite ist dem nichts mehr hinzuzufügen. Nun aber wirklich genug!

Noch eines: Leider predigt auch ein Bundesrichter mit seinem Text tauben Ohren. Und die, die etwas missverstehen wollen, werden es auch missverstehen. Wenn es aber gelingt, den oder die eine(n) nachdenklich zu machen, so wäre das schon ein Erfolg.

Ein Sohn der Flüchtlinge

Willkommenskultur zum einen, brennende Flüchtlingsunterkünfte zum anderen: Zu den vielen Flüchtlingen, die in den letzten Wochen und Tagen in Deutschland eingetroffen sind, ist inzwischen vieles berichtet, gesagt und geschrieben worden. Mein Standpunkt dazu ist klar, da dieser durch Lebensumstände geprägt ist, die ich hier kurz erläutern möchte.

Schon in jungen Jahren beschäftigten mich zwei Fragen, Lebensfragen: Es geht dabei um die Zeit des Nationalsozialismus und warum viele Juden nicht rechtzeitig Deutschland und später die von den Nazis besetzten Gebiete verlassen hatten. Viele jüdische Deutsche glaubten damals, dass sich die NS-Regierung nicht lange halten würde. Wie Albert Einstein emigrierten zwar Zehntausende Juden in den ersten Jahren der NS-Diktatur – doch die meisten blieben.

Mit der Pogromnacht vom 9./10. November 1938 begann die verstärkte Ausreise der Juden. Aber nicht alle wollten oder konnten es sich finanziell leisten. Allein im Jahr 1939 flohen etwa 75 000 Juden aus dem Deutschen Reich.

Erschwert wurde dies durch den Unwillen vieler Länder, jüdische Flüchtlinge aus Deutschland aufzunehmen. Beispielhaft reagierte dagegen Großbritannien, das die größte Rettungsaktion für Juden während des Nationalsozialismus‘ initiierte und damit rund 10.000 Kindern und Jugendlichen das Leben rettete. Sie wurden getrennt von Eltern und Geschwistern außer Landes gebracht und meist in Pflegefamilien untergebracht. So entgingen sie dem NS-Völkermord und waren häufig die einzigen Überlebenden ihrer Familien.

Dass viele Länder jüdische Flüchtlinge nicht aufnehmen wollten und sie damit dem sicheren Tod preisgaben, fand ich erschreckend. Das es auch anders geht, zeigen die Ereignisse rund um die Rettung der dänischen Juden auf.

Wie bereits vor vielen Jahren an anderer Stelle in diesem Blog beschrieben (Die Gustloff war nicht ihr Schicksal): Im Januar 1945 befand sich mein Vater mit meiner schwangeren Mutter und meiner Schwester, die 1943 in Königsberg, dem heutigen Kaliningrad, geboren wurde, auf dem Weg Richtung Gdingen (heute: Gdynia), das die Nazis nach der Besetzung Polens 1939 in Gotenhafen umbenannt hatten. Er wollte Frau und Kind in die „Wilhelm Gustloff“ einschiffen, um beide möglichst schnell gen Westen bringen zu lassen. Selbst an Bord zu gehen, wagte er nicht, da er befürchtete als Deserteur verhaftet zu werden. Er galt immer noch als Wehrmachtsangehöriger, obwohl er als Sanitätsfeldwebel im Feldzug gegen Russland ein Bein verloren hatte. Meine Mutter weigerte sich aber, meinen Vater allein zu lassen. So entgingen sie dem sicheren Tod in der Ostsee.

10.09.1944 Bormanshof (heute Wólka Tolkowiecka) im Kreis Braunsberg – meine Mutter, Großmutter mit Schwester, Großtante und mein Vater
10.09.1944 Bormanshof (heute Wólka Tolkowiecka) im Kreis Braunsberg – meine Mutter, Großmutter mit Schwester, Großtante und mein Vater

Zuvor waren meine Eltern mit meiner Schwester von Königsberg kommend nach Bormanshof (heute Wólka Tolkowiecka) im Kreis Braunsberg evakuiert worden. Der kleine Ort liegt auf halben Weg zwischen Königsberg und Danzig. Es gibt ein Foto datiert vom 10.09.1944. Von hier ging es dann weiter im Januar 1945 nach Gdingen – wie oben beschrieben – und anschließend auf dem Landweg weiter in den Westen. Der Weg führte sie über Swinemünde nach Sachsen.

April 1945 Wittstock/Kreis Jerichow – u.a. (von der Mitte nach rechts) meine Tante, meine Mutter und mein Vater – im Vordergrund meine Schwester
April 1945 Wittstock/Kreis Jerichow – u.a. (von der Mitte nach rechts) meine Tante, meine Mutter und mein Vater – im Vordergrund meine Schwester

Vier Tage nach Kriegsende wurde mein Bruder in Wittstock/Kreis Jerichow II (heute: Jerichower Land) geboren. Wo genau dieses Wittstock liegt (es gibt mehrere Ortschaften dieses Namens), lässt sich heute nicht mehr genau ausmachen. Im heutigen Landkreis Jerichower Land gibt es aber Hinweise auf dieses Wittstock.

Hier im damaligen Sachsen (heute Sachsen-Anhalt) wurden meine Verwandten (mindestens auch eine Tante, eine Großtante und eine Großmutter von mir waren mit den Flüchtenden unterwegs) von der Roten Armee eingeholt. Meine Eltern gaben nur kärglich Auskunft über das, was jetzt geschah. Die Flucht ging dann weiter und endete vorerst in Klieve/Kreis Lippstadt/Westfalen (heute: Gemeinde Anröchte/Kreis Soest).

Betrachtet man die beiden Fotos, so kann man kaum glauben, dass hier Menschen auf der Flucht sind, die so gut wie alles verloren hatten. Und endlich im Westen angekommen wurden sie nicht gerade willkommen geheißen. Sie waren mit meiner Schwester drei, dann mit meinem Bruder vier hungrige Mäuler mehr, die gesättigt werden mussten.

Nun, ich wurde viele Jahre später im Westteil Berlins als ‚Spätheimkehrer‘, wie es meine Eltern nannten, geboren. Auch wenn meine Eltern mit mir und meinen Geschwistern nicht mehr auf der Flucht waren, so waren wir in diesen meinen ersten Lebensjahren doch noch viel unterwegs – von Berlin nach Pforzheim und von dort nach Bremen. Anders als der Sänger Heinz Rudolf Kunze (siehe unten: Vertrieben in zweiter Generation) fühle ich mich eigentlich bis heute nicht wie ein Heimatloser, auch wenn ich ein Sohn von Flüchtlingen bin. Sicherlich schwebte jene Heimat meines Vaters, Ostpreußen, im Geiste mit. Vielleicht wurde es dadurch kompensiert, weil ich die Heimat meiner Mutter, Köln und Umgebung, schon als Kind kennenlernen durfte. Eher noch hatte ich höchst eigene Probleme, die sich aber dem Flüchtlingsdasein ähnelten: Als ich mit vier Jahren nach Bremen, verstand mich im wahrsten Sinne des Wortes kein Mensch, weil ich mir zuvor in Pforzheim das Schwäbeln angeeignet hatte. Und in Bremen ergaben sich durch häufige Umzüge und die damit verbundenen Schulwechsel weitere Schwierigkeiten. So ist mir nie die Herkunft Heimat geworden, sondern immer der Ort und besonders die Menschen dort, wo ich gerade lebe.

Gerade wir Deutschen haben also eine noch ziemlich junge Geschichte, in der Flucht und Vertreibung für viele Menschen am eigenen Leib erlebt oder durch Schilderungen von Verwandten nachvollziehbar wurde. Wenn heute so viele Menschen aus der Not geboren bei uns Zuflucht suchen, sollten wir das nicht vergessen. Sicherlich ist es ungewöhnlich, wenn Abertausende Flüchtlinge plötzlich nach Deutschland kommen. Aber diejenigen, die gleich einen ganzen Katalog an Problemen heraufbeschwören (Nein, Nazis wären sie natürlich nicht!), die z.B. mit den Flüchtlingen auch jede Menge IS-Kämpfer bei uns einfallen sehen, ebnen den Weg für Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz (mit den Flüchtlingen 1945 aus den Ostgebieten flohen sicherlich auch jede Menge nationalsozialistische Funktionäre gen Westen).

Da unsere Politik zu Syrien und IS versagt und die Entwicklungen in ihrer heutigen Dimension nicht rechtzeitig erkannt hat, ist die Flucht der Menschen die natürliche Folge. Mögen Obama und Putin endlich wieder das Gespräch zu diesen Themen aufnehmen. Der Flüchtlingsstrom wird solange nicht abreißen, wie Assad auf der einen Seite und der IS auf der anderen die Menschen drangsaliert oder gar tötet.

Ergänzend hierzu möchte ich auf den Artikel Vertrieben in zweiter Generation auf heute.de verweisen. Es geht dabei um den Sänger Heinz Rudolf Kunze, dessen Eltern aus Schlesien vertrieben wurden:

Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs flüchteten Millionen Menschen gen Westen oder wurden dorthin vertrieben. Sie verließen ihre Heimat, verloren ihre Wurzeln. Und sie gaben diese traumatischen Erfahrungen auch an ihre Kinder weiter. Die Eltern des Sängers Heinz Rudolf Kunze (58) wurden aus Schlesien vertrieben. Sie hatten in Guben gelebt, östlich der Neiße, dem heutigen Gubin. Kunze wurde elf Jahre nach der Vertreibung geboren und doch hat ihn dieses Ereignis stark geprägt: „Bei mir ist das Gefühl, ein Heimatdefizit zu haben, immer noch da.“

Die Familie zog erst auf die westliche Seite der Neiße, in die DDR. Als der Vater 1956 aus der Gefangenschaft kam, trafen sie ihn im Lager Friedland. „Dann sind wir im Westen geblieben“, erzählt Kunze. „Aber meine Herkunft habe ich eigentlich immer als die Lausitz angesehen, weil alle aus meiner Verwandtschaft – Vater, Mutter und alle Verwandten – daher kamen.“

„Immer alleine“

Aufgewachsen ist der Sänger zwar im Westen. Angekommen ist er jedoch nie richtig. Er lebte zuerst in einem Flüchtlingslager. Danach zog die Familie oft um. Er lebte in Lengerich in Westfalen, danach in der Grafschaft Bentheim, im Harz und dann in Osnabrück. Seit langer Zeit wohnt er nun in Hannover. Doch für eine Heimat reiche das nicht. „Ich hab eigentlich immer nur Wohnsitze gehabt und keine Heimat“, sagt Kunze. Auf Musiker-Kollegen wie Konstantin Wecker oder Wolfgang Niedecken sei er immer neidisch gewesen. Die hatten einen Dialekt, waren verortet und hatten auf diesem Wege immer schon eine Gefolgschaft. „Ich war immer alleine. Ich war immer Einzelgänger und musste mir meine Hörer immer einzeln suchen.“

Kunze hat die Heimatlosigkeit der Eltern regelrecht geerbt. In der Wohnung hingen Bilder und Stiche aus der Heimat. Er erzählt von dem permanenten Gefühl, im Exil zu leben, eines Tages zurück zu müssen. 1989 kam dieser Tag. Doch er kam nicht schnell genug. „Als dann die Mauer aufging, da war es zu spät. Da waren sie beide schon alt und müde und haben die Kraft nicht mehr gehabt. Sie haben eigentlich die ganze Zeit daraufhin gesehnt: Irgendwann gehen wir wieder hin. Und dann ging es. Aber es ging für sie nicht mehr.“

Kunzes Schicksal ist beispielhaft für das vieler Kinder aus vertriebenen Familien, wenn auch nicht aller. Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg prägen etliche Menschen in zweiter Generation. Sie suchen nach der Heimat, die ihre Eltern verloren haben und die sie nie hatten. Kunze hat sie schließlich doch noch gefunden: „Mein Beruf ist meine Heimat geworden.“

Siehe hierzu auch bei huffingtonpost.de: Die neuen Asozialen: Eure Dummheit bringt Deutschland an den Abgrund
Und in meinem Betrag vom 17. Februar 2011: „Europa setzt auf schauerliche Strategien“

Weltkulturerbe: Speicherstadt und Kontorhausviertel mit Chile-Haus

Wer Hamburg besucht, sollte sowohl die Speicherstadt als auch das Kontorhausviertel besuchen, nicht nur (aber vielleicht doch auch deshalb) weil beides seit wenigen Tagen zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört – so wie Kölner Dom, das klassische Weimar oder die Museumsinsel in Berlin (Welterbe in Deutschland). Mit der Eintragung von Speicherstadt und Kontorhausviertel mit Chilehaus wird deren Bedeutung als einzigartige Symbole für die Geschichte des Handels gewürdigt. Hierzu nachträglich herzlichen Glückwunsch der Stadt Hamburg!

Speicherstadt Hamburg © Wilfried Albin 2011

Die Speicherstadt in Hamburg ist der größte auf Eichenpfählen gegründete Lagerhauskomplex der Welt. Sie steht seit 1991 unter Denkmalschutz. Sie wurde ab 1883 als Teilstück des Hamburger Freihafens erbaut, der erste Abschnitt war 1888 fertiggestellt.

Das Kontorhausviertel ist die Bezeichnung für den südöstlichen Bereich der Hamburger Altstadt zwischen der Steinstraße, dem Meßberg, dem Klosterwall und der Brandstwiete. Es ist gekennzeichnet durch die großen Kontorhäuser im Stil des Backsteinexpressionismus des frühen 20. Jahrhunderts. Zentraler Platz ist der Burchardplatz.

Die Speicherstadt gehört zur HafenCity Hamburg, wo bis Mitte der 2020er Jahre ein neuer Stadtteil entsteht. Es ist das größte innerstädtische Stadtentwicklungsprojekt in Europa. Sollten die Olympischen Sommerspiele 2024 nach Hamburg vergeben werden, dann wird gegenüber der HafenCity auch die Olympic City mit Olympischem und Paralympischem Dorf,, Olympiastation, Schwimmhalle und Olympiahalle gebaut werden.

siehe hierzu auch meinen Beitrag: Speicherstadt und HafenCity Hamburg

Andreas Hock: Bin ich denn der Einzigste hier, wo Deutsch kann?

    „Man sollte alle Tage wenigstens ein kleines Lied hören, ein gutes Gedicht lesen, ein treffliches Gemälde sehen und, wenn es möglich zu machen wäre, einige vernünftige Worte sprechen.“
    Johann Wolfgang von Goethe: Theaterdirektor Serlo zu seinem Freund Wilhelm Meister

Nun ja, der Titel des Buchs Bin ich denn der Einzigste hier, wo Deutsch kann? – Über den Niedergang unserer Sprache von Andreas Hock hat mich ‚aufgeschreckt‘. Und dass es mit unserer deutschen Sprache nicht gerade zum Besten bestellt ist, war mir schon länger bekannt. Aber gleich vom Niedergang sprechen …? Ich selbst habe mich in diesem Blog bereits weitreichend mit dem ‚Niedergang‘ der deutschen Sprache beschäftigt (siehe unten, dort findet Ihr mehrere Handvoll Links auf meine Beiträge zu dem Thema).

    Andreas Hock: Bin ich denn der Einzigste hier, wo Deutsch kann? - Über den Niedergang unserer Sprache

Zum Titel des Buchs: Der Duden sagt, dass „einzig“ normalerweise nicht gesteigert wird, schließt es also nicht bedingungslos aus. Selbst ein Autor wie Martin Walser („Er habe seit längerem geglaubt, er sei schon alt. Das war, wie er jetzt wisse, ein naseweises Anempfinden. Das einzigste, was ein wenig in die richtige Richtung ging, war eine Art Mitleid mit Alten.“ in Der Augenblick der Liebe auf Seite 200) lässt das Wort in ‚gesteigerter Form‘ zu. Fündig wurde ich dann u.a. auch in Übersetzung zu Anthony Burgess‘ 1985, André Gides Die Falschmünzer bzw. Umberto Ecos Der Friedhof in Prag (auch Heinz Strunk in Fleisch ist mein Gemüse benutzt die Steigerung). Es ist mehr ein logisches, als ein sprachliches Problem. Und ein ‚wo‘ statt des Relativpronomens „der“ ist im Duden als landschaftlich salopp (dem Süddeutschen entlehnt) beschrieben.

Es war einmal eine Sprache, die vor lauter Poesie und Wohlklang die Menschen zu Tränen rührte. Die von Dichtern und Denkern immer weiter perfektioniert wurde. Die um ein Haar auf der ganzen Welt gesprochen worden wäre. Das aber ist lange her – und ein für alle Mal vorbei. Heute ist Deutsch ein linguistisches Auslaufmodell!

Wie konnte es nur so weit kommen, dass unsere Kids zwar wissen, wer der Babo ist – aber keine Ahnung haben, wer dieser Goethe war? Warum wundern wir uns nicht, wenn uns die Werbung von Care Companys, Createurs d’Automobiles oder Sense and Simplicity erzählt? Und wieso, verdammt noch mal, nennen wir unsere Kinder Justin, Cheyenne oder Jeremy?

Andreas Hock fand Antworten auf diese und viele anderen Fragen über den Niedergang unserer Sprache – der eigentlich vor Hunderten von Jahren schon begann und an dem nicht nur Friedrich der Große, Adolf Hitler oder Helmut Kohl Schuld sind. Sondern voll wir alle, ey!
(Umschlagtext des Buches)

Soviel sei gleich gesagt, Andreas Hock ist nicht unbedingt ein Sprachpurist, geschweige denn ein Bewahrer der deutschen Sprache. Dazu dilettiert er zu sehr im Gebiet der Linguistik. Sein Buch will in erster Linie provozieren, versteht sich als Polemik und ist dabei durchaus witzig zu lesen. So neigt der Autor neben all den Verallgemeinerungen zu gewollten Übertreibungen, z.B. die Verwendung des Apostrophes: Bertha’s Snack’s. Leider wird beim Genitiv ziemlich häufig dieses kleine Häkchen verwendet, auch wenn es nur bei Namen erlaubt ist, die auf S und ähnliche Zischlaute enden (z.B. Klaus‘ Snacks). Das Plural-S ist dagegen nicht nur schlechtes Deutsch, sondern Dummheit wie ‚hausgemachte’s Rind’sgulasch‘. Solche und ähnliche Beispiele sind ausgesprochene Einzelfälle und belegen in keiner Weise den Niedergang unserer Sprache, sondern nur die Dummheit einzelner Personen. Das hätte sich Herr Hock ersparen können.

Sicherlich ist ein großes Problem die große Flut von Anglizismen. Nur sollte man schon einen Unterschied zwischen normalen sprachlichen Entwicklungen, dem Gebrauch in Fachsprachen und wirklichen Missständen machen (z.B. das Denglische). Ein Übel, wenn vielleicht auch ein notwendiges, ist die Verwendung von Abkürzungen, besonders in Fachsprachen (z.B. in der IT, also Informationstechnik).

Apropos Informationstechnik: Andreas Hock hegt eine allumfassende Abneigung gegen alles, was mit moderner Kommunikationstechnik (z.B. Internet) zu tun hat und macht gerade hier den Verfall unserer Sprache aus. E-Mails und Kurznachrichtendienste (SMS) sind die Brutstätte verbaler Unzulänglichkeiten. In Wikipedia erkennt er „das Speicherplatz gewordene Nachschlagewerk der Oberflächlichen“ (S. 88) und bleibt selbst äußerst oberflächlich. Es ist ja nicht so, dass er völlig Unrecht hätte. Was ich z.B. täglich an E-Mails bekomme wimmelt nur so von Flüchtigkeitsfehlern. Aber – bezogen auf Jugendliche – um eine SMS zu schreiben, muss man immerhin lesen und schreiben können.

Der Autor ist kein Freund der neuen Rechtschreibung. Auch ich habe seinerzeit besonders die Konzeptlosigkeit des Rats für deutsche Rechtschreibung bemängelt. Vor rund 10 Jahren gab es ein einziges Tohuwabohu, z.B. weil Schriftsteller und Zeitungen anders schrieben, als es die offizielle Rechtschreibung verlangte. Inzwischen hat sich das längst geglättet und auch ein Schriftsteller wie Martin Walser schreibt nach den neuen Rechtschreibregeln. Eigentlich ist die Debatte um die Rechtschreibreform längst der Schnee von gestern. Nicht so bei Herrn Hock, der zudem noch Zusammenhänge herstellt, die bei den Haaren herbeigezogen sind. Er schreibt: Laut einer Studie der Universität Hamburg von 2011 können nun 7,5 Millionen Menschen in unserem Land nicht richtig lesen und schreiben. Das sind: drei Millionen mehr als vor der Reform! (S. 161)

Andreas Hocks Buch ist in erster Linie dem wohlfeilen Sinnen vieler selbsternannter Sprachhüter geschuldet und von daher eher ein Ärgernis als ein Appell, sich der Wurzeln der deutschen Sprache zu bedienen, dieser also wieder neues Leben einzuhauchen.

Der Autor begibt sich in die Niederungen der Deutschen Sprache und meint nun, alles und jedes dort Aufgewühlte verallgemeinern zu müssen. Er fürchtet den Verlust der deutschen Identität. Nur versteht er sicherlich etwas anderes darunter als z.B. ich. Unsere Sprache des Alltags ist nun einmal nicht voll ‚lauter Poesie und Wohlklang‘. Im Zusammenhang mit der neuen Rechtschreibung schrieb ich vor etwa anderthalb Jahren: Ich denke, dass man eindeutig unterscheiden muss, nämlich zwischen einer amtlichen Rechtschreibung, die z.B. für Behörden, Gerichte, natürlich auch für Schulen gültig ist, und einer ‚nichtamtlichen’, bei der dann allerdings „jeder nach eigenem Gutdünken schreiben darf“. Letztere sollte man positiv sehen: Es gab und gibt genügend Schriftsteller, die sich bewusst nicht an die amtliche Rechtschreibung halten und sei es nur, um ungewöhnliche Wortneuschöpfungen zu kreieren. Sprache hat auch etwas mit Phantasie zu tun – und der sind bekanntlich keine Grenzen gesetzt, auch keine amtlich reglementierten.

Lächerlich, aber gekonnt im Buch platziert ist dabei der wiederholte Hinweis, dass deutsch „um ein Haar auf der ganzen Welt gesprochen worden wäre“: Erst fast Weltsprache, jetzt nur noch Auslaufmodell! So ein Buch verkauft sich ‚wie warme Semmeln‘.

siehe auch ein Interview mit Andreas Hock in der Süddeutschen Zeitung – Magazin

Bevor ich auf meine eigenen Beiträge ‚in dieser Sache‘ verweise, möchte ich einige Fehler in dem Buch aufdecken, die ich ärgerlich finde. Zunächst geht es um die Brüder Grimm (S. 34). Hier vermischt Herr Hock die Deutsche Grammatik, die allein Jacob Grimm verfasst hat, mit dem Mammutwerk des Deutschen Wörterbuchs. Ich habe den Eindruck, dass Herr Hock bisher noch nie einen Blick in dieses Wörterbuch geworfen hat.

Herr Hock spricht von der Beatgeneration (S. 47) der Sechzigerjahre und Beatniks (S. 93) und meint wohl die Generation der so genannten Beatmusik (Beatles, Rolling Stones usw.). Als Beat Generation wird eine Richtung der US-amerikanischen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg in den 1950er Jahren bezeichnet und ist als solches ein fester Begriff. Und R ‘n‘ B (Rhythm and Blues) war gewissermaßen der Vorläufer des Rock ’n’ Roll, gab es also nicht zeitgleich mit Techno, Hip-Hop usw. (S. 132).

    So wühlt man sich durch den deutschen Wortschatz

siehe auch meine Beiträge:
Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm
Von Archaismen und Neologismen
technosexual lifestyle
Was ist ein Jackpot?
You need Zugzwang
Wenn der Amtsschimmel wiehert
Typisch deutsch: Gemütlichkeit
Wörterbuch der Szenesprache
Man spricht Deutsch
Bedrohte Sprachen in Deutschland
Daher der Name Bratkartoffel (1)
Daher der Name Bratkartoffel (2)
Kafkas Wortschatz und Kiezdeutsch
Wortschatz
Unworte
Deutsch 3.0
Jugendkriminalität und das geschriebene Wort

We Like a Good Conservation

Es wird einfach zu viel gequatscht, gelabert. Überall, wo man hinguckt, versammeln sich Leute, um zu faseln. Im Zug, hinter einem, sitzen sie und erzählen sich ihre Wehwehchen und was sie sonst noch so schmerzt. Auf der Arbeit gibt es Laberrunden am laufenden Bahn, Arbeitskreis genannt oder Meeting. Und im Fernsehen, man mag schon gar nicht mehr hinschauen: Talkshows, in denen nichts anderes als geschwafelt wird.

Der Bundestag: eine einzige Quasselbude. Podiumsdiskussionen: Plaudertaschen, die sich vollsülzen. Überall Geschwätz und Salbadern: Viel Gerede und nichts zu sagen.

Betrachtet man das Bild mit diesen beiden Herren (Andy Warhol und Alfred Hitchcock), dann erkennt man zuerst, wie sie entspannt beieinandersitzen. Da wünscht man sich, Mäuschen zu spielen und dem Gespräch der beiden zu lauschen. Nur weg aus dem Zug, weg von der Arbeit und dem Fernsehgerät.

    Andy Warhol und Alfred: Hitchcock: We like a good conservation

Wer denkt, die beiden hätten so gar nichts gemein, wird sich wundern, was sie sich zu sagen haben. Wir wissen nicht was, aber wir wissen, dass es kein GELABER ist: We like a good conservation!

Nein, so doch nicht … (4): Sprüche aus der Kindheit

Wer sich bestimmter Sprüche, Sinnsprüche und Redensarten, bedient, greift dabei auf Erkenntnisse zurück, die das Leben einem gelehrt haben. Vieles stammt dabei aus dem Volksmund, der gern herangezogen wird, um die Allgemeingültigkeit einer ‚Weisheit’ zu belegen. Allerdings sind solche Sprüche nicht wirklich immer berechtigt. Oft bedient man sich ihrer, z.B. um einen Schlussstrich unter einer Auseinandersetzung, einem Konflikt zu ziehen. Punktum!

Besonders gegenüber Kindern werden gern solche ‚Sprüche’ benutzt. Wer erinnert sich nicht an manche Sätze aus der Kindheit, die man noch immer in- und auswendig kennt, wahrscheinlich deshalb, weil sie auch heute noch im Sprachgebrauch vorhanden sind. Erstaunlich ist dabei wohl deren Zähigkeit, mit der sie sich am Leben erhalten, selbst wenn ihnen jegliches Zeitgemäße längst abhanden gekommen ist.

Nein, so doch nicht: Sprüche aus der Kindheit

Ich will nicht behaupten, von meinen Eltern ständig mit solchen ‚Lebensweisheiten’ drangsaliert worden zu sein. Trotzdem kenne ich derer so viele, dass ich mich frage, wo ich diese aufgefangen habe. Allein, wenn es ums Essen oder Trinken geht, beherrschen manche Eltern ein umfangreiches Repertoire an solchen Sprüche:

Wenn Du Deinen Teller leer isst, scheint morgen die Sonne!
Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt!
Du bleibst hier so lange sitzen, bis Du aufgegessen hast.
Wenn du Durst hast, dann trinkst du auch Wasser!

[kontraproduktiv ist dann allerdings:] Von zu viel Leitungswasser kriegt man Läuse im Bauch.

Meine Frau und ich haben uns bemüht, solche Sprüche gegenüber unseren Kindern tunlichst zu vermeiden. Aber noch heute (die Kinder sind längst erwachsen) kommt es mir in den Sinn und manchmal auch über die Lippen, dass es morgen schönes Wetter geben muss, da ja alles aufgegessen wurde (das zeigt, wie sehr sich solche Sprüche eingeprägt haben).

Dass solche (oftmals dummen) Sprüche auch heute noch vielen Erwachsenen so verinnerlicht sind, zeigt in diesen Tagen und Wochen Twitter, wo unter dem Hashtag #spruchausderkindheit Tausende ihre Sprüche aus Kindeszeiten zum Besten geben.

Hier nur einige diese Sprüche, an die ich mich auch heute noch bestens erinnere. Manche mögen dann vielleicht doch nicht von so weit hergeholt zu sein:

Jetzt beginnt der Ernst des Lebens.
Wer es nicht im Kopf hat, der hat es in den Beinen.
Du weißt gar nicht, wie gut du es hast.
Wir sind nicht ‚die anderen‘!

Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.
Das kannst du SO NICHT machen.
Ein Indianer kennt keinen Schmerz.
Du musst erst mal kleine Brötchen backen.

Und wenn … von der Brücke springt, machst du das dann auch?
Du lernst nicht für die Schule, sondern für Dich und Deine Zukunft.
Genieße die Schule, solange du noch kannst.
Setz die Mütze auf!

Schluck‘ den Kaugummi nicht, der verklebt den Magen.
Wenn der Bäcker redet, hat das Brötchen still zu sein.
Du darfst wohl alles essen, aber nicht alles wissen.
Wohin fahren wir? Immer der Nase nach.

Man zeigt nicht mit nacktem Finger auf angezogene Leute!
Wenn du Großmutter bist, tut es nicht mehr weh.
Wenn’s juckt und zwickt, dann heilt’s.
Der Klügere gibt nach.

Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt.
Mach dir anständiges Licht, du verdirbst dir deine Augen.
Ihr wisst gar nicht, wie gut ihr es habt.

Leo Rosten: Jiddisch – eine kleine Enzyklopädie

Mit der jiddische Sprache habe ich mich hier in meinem Blog schon öfter befasst. Es ist nach allgemeiner Meinung eine aus dem Mittelhochdeutschen hervorgegangene westgermanische, mit hebräischen, aramäischen, romanischen, slawischen und weiteren Sprachelementen angereicherte Sprache, die von den aschkenasischen Juden (die Juden in Mittel-, Nord- und Osteuropa und ihre Nachfahren, z.B. die in die USA ausgewandert sind) gesprochen und geschrieben wurde und noch wird. Geschrieben wird diese Sprache mit hebräischen Buchstaben, für die es allerdings unterschiedliche Transliterationen in lateinische Buchstaben gibt.

Von dem älteren meiner beiden Söhne habe ich mir jetzt ein lexikarisches Werk ausgeliehen und gelesen, das von Leo Rosten verfasst, inzwischen ergänzt und kongenial ins Deutsche von Lutz-W. Wolff übersetzt und bearbeitet wurde: Jiddisch: Eine kleine Enzyklopädie.

    Leo Rosten: Jiddisch - eine kleine Enzyklopädie

Was chuzpe, koscher und meschugge heißt, wissen Sie sicher. Einen bagel, gefilte fisch oder lox haben Sie vielleicht auch schon gegessen. Aber wissen Sie, was das alles mit der Tora, dem Talmud und dem jüdischen Glauben zu tun hat? Jiddisch ist diejenige europäische Sprache, die dem Deutschen am nächsten steht. Wenn es heute im amerikanischen Slang hunderte von deutsch/jiddischen Lehnwörtern gibt, dann verdanken wir das nicht zuletzt den jüdischen Auswanderern, die ihre aus dem Mittelhochdeutschen stammende Sprache nach Amerika importiert haben.

Leo Rosten hat Ende der sechziger Jahre ein vergnügliches Hausbuch geschaffen, das jiddische Wörter, jüdische Geschichte, Folklore und Witze mit einer zwanglosen Einführung in die Grundelemente des Judaismus verbindet und uns so mit einer Welt vertraut macht, die uns fast verloren gegangen wäre. Für die vorliegende deutsche Ausgabe wurde das Buch mit vielen Stichworten angereichert, die uns aus der deutschen Alltagssprache vertraut sind.

Leo Rosten wurde 1908 in Lodz geboren. Aufgewachsen ist er in einem Arbeiterviertel Chicagos. Seine ›Hyman Kaplan‹-Romane beruhen auf Personen aus dieser Umgebung. Sein Humor, der mit Scholem Alejchem und Mark Twain verglichen wird, machte ihn bald populär, aber keines seiner Bücher hatte eine so nachhaltige Wirkung wie die ›Joys of Yiddish‹, die nicht weniger als 17 Auflagen und Neuausgaben erlebten. Leo Rosten starb am 19. Februar 1997.
(aus dem Klappentext)

Wer sich fürs Judentum, für die Religion des Judaismus und speziell für die jiddische Sprache interessiert, dem sei das vorliegende Buch wärmstens ans Herz gelegt. Es ist als Lexikon konzipiert. Aber wer einmal einen Blick hingeworfen hat, wird es bald von A bis Z durchlesen wollen, vielleicht nicht in einem Rutsch, eher nach und nach. Es ist nicht nur aufschlussreich, sondern äußerst amüsant verfasst; zu vielen Stichworten gibt es auch typisch jüdische Witze. Ich mag den jüdischen Humor.

Viele der jiddischen Wörter stammen aus dem Deutschen, genauer: aus dem Mittelhochdeutschen. Aber es gibt auch viele hebräische Begriffe, die über das Jiddische in den deutschen Wortschatz eingeflossen sind. Fast jeder benutzt diese Begriffe, ohne deren Herkunft zu kennen: Bammel haben oder Massel haben (bzw. etwas vermasseln), blau machen/sein, Schmiere stehen, Tacheles reden (nein, kommt nicht aus dem Griechischen), einen guten Rutsch wünschen – oder auch Wörter wie Pleitegeier, Reibach, Tinnef, Techtelmechtel oder Zoff.

Viele heutige Redensarten, Grundsätze und Sprichwörter entstammen in dieser oder jener Formulierung dem Talmud [eines der bedeutendsten Schriftwerke des Judentums, das aufzeigt, wie die Regeln der Tora in der Praxis und im Alltag von den Rabbinern verstanden und ausgelegt wurden – Tora, der erste Teil der Bibel: die fünf Bücher Moses]:

„Urteile im Zweifel für den Angeklagten.“
„Auch der Dumme kann fromm sein.“
„Achte auf den Inhalt, nicht auf die Verpackung.“
„Eine gute Tat führt zur nächsten.“
„Du sollst deinem Kind nicht drohen. Bestrafe es oder vergib ihm.“
„Beginne den Unterricht stets mit einer heiteren Erläuterung.“
„Böse Nachbarn zählen das Einkommen eines Mannes, nicht seine Unkosten.“
[…]
„Wenn man in Rom ist, soll man seinen Bräuchen folgen.“
„Ende gut, alles gut.“ (Das vor allen Dingen!)

(S. 599)

Anhand eines Begriffs (fefillin bzw. tfiln = Gebetsriemen) zeige ich auf, wie sich dieses Lexikon gestaltet. Apropos Gebetsriemen: Viele haben diese zwar auf Bildern schon einmal gesehen, was sie aber bedeuten, wissen die wenigsten. Hier (auch nur in Auszügen) der Text dazu:

tefillin siehe tfiln.

tfiln (f. Pl.)
Aus dem hebräischen tefilín „Phylakterien, Gebietsriemen“. Hebräisch tefilá „Gebet“.

In Amerika: tfiln, tefillin, t‘fillin

Gebietsriemen. Tefillin sind zwei lange, dünne Lederriemen mit denen sich fromme Juden zwei quadratische Lederkapseln (von etwa fünf Zentimeter Länge und Breite) am linken Arm und an der Stirn befestigen, wenn sie beten. Die Kapseln enthalten kleine Pergamentstreifen mit vier Schriftversen aus Exodus (13,1-10; 13,11-16) und dem Deuteronomium (6,4-9; 11,13-21) in hebräischer Sprache. Die Tefillin werden von erwachsenen orthodoxen Juden beim Morgengebet getragen.

Der Gebrauch der Tefillin geht auf Exodus 13,9 zurück, wo es heißt: „Darum soll dir’s ein Zeichen sein in deiner Hand und ein Denkmal vor deinen Augen, auf dass des Herrn Gesetz sei in deinem Munde.“ Widerholt wird dieses Gebot im Deuteronomium 6,8.

Die Art und Weise, wie Tefillin angelegt werden, ist genau vorgeschrieben. Sie werden, zum Zeichen der Ehrfurcht, im Stehen getragen. Die eine Kapsel wird auf der Innenseite des linken Arms unmittelbar über dem Ellenbogen getragen (auf diese Weise ist sie beim Beten in der Nähe des Herzens); der Riemen wird sieben Mal um den linken Unterarm geschlungen. Die andere Kapsel wird auf der Stirn getragen, meist oberhalb des Haaransatzes; der Riemen wird um den Kopf geschlungen und verknotet. Die losen Enden werden über die Schulter gelegt und hängen nach vorn. Schließlich wird das Armband dreimal um den Mittelfinger der linken Hand gewickelt (das steht für den hebräischen Buchstaben schin, mit dem der kabbalistische Gottesname Schaddai beginnt).

Das ganze Ritual hat die psychologische Wirkung, dass es dem Betenden hilft, weltliche Sorgen abzuschütteln und sich auf den Gottesdienst zu konzentrieren. […]

Am Sabbat wurden keine Gebietsriemen getragen. Der Sabbat war ein heiliger Tag und bedurfte zusätzlicher Heiligung durch die Gebetsriemen nicht. […]

All dies deutet daraufhin, dass es sich bei den „Phylakterien“ – das griechische Wort phylakterion bedeutet „Schutz“ oder „Festung“ – ursprünglich um eine Art Amulett handelte. Die Juden glaubten, dass jeder, der die Tefillin trägt, vor Schaden geschützt sei, weil „Gottes Glanz“ auf ihn falle. Deshalb war es auch verboten, die Gebetsriemen mit dem Gebetsschal zu verdecken. Es war sogar üblich, die Tefillin auf der Straße zu tragen, aber da dies die Aufmerksamkeit von Antisemiten erregte und Verfolgungen auslöste, setzt sich diese Sitte nie wirklich durch. […]
(S. 606 f.)

    Tefillin – Gebetsriemen der Juden

„Dieses Wörterbuch ist eine Freude.“ (Viola Roggenkamp in der ‚Zeit‘)

„Leo Rostens Standardwerk erklärt die jiddischen Begriffe äußerst amüsant mit Synonymen, Anekdoten und Witzen Es ist also auch ein Lexikon des jüdischen Lebens, der jüdischen Soziologie und Geschichte wie auch der Religion. Die deutsche Ausgabe wurde nicht nur kongenial übersetzt, sondern auch kommentiert und um viele wichtige Teile ergänzt. Rostens Buch zu lesen ist ein Vergnügen.“ (Arno Lustiger in der ‚Welt‘)

siehe auch: Jiddische Seiten – Yiddishe Saiten

Misha Amouk: Goodbye, Jehova – Wie ich die bekannteste Sekte der Welt verließ

Wem sind die Zeugen Jehovas noch nicht ‚über dem Weg gelaufen‘. Es gibt wohl keinen, bei dem sie noch nicht an der Haustür geklingelt haben. Meist ist man peinlich berührt, weil man einerseits keine Lust hat, mit denen längere Gespräche zu führen, andererseits aber höflich sein möchte, auch wenn man sie abweist. Die Zeitschrift Wachtturm hat jeder schon einmal in Händen gehalten, die wenigstens haben hineingeschaut. Wenn man etwas von den Zeugen Jehovas weiß, dann eigentlich nur, dass sie keine Feier- oder Festtagen wie beispielsweise Weihnachten oder Geburtstagen begehen und dass sie Bluttransfusionen ablehnen. Und da war dann noch etwas vom bevorstehenden Weltuntergang.

Was passiert eigentlich auf der anderen Seite der Tür, wenn du sie den Zeugen Jehovas vor der Nase zuschlägst?

Zeugen Jehovas kennen die meisten von uns nur aus der Fußgängerzone oder als lästigen Besuch an der Tür – häufig etwas bieder, vor allem aber harmlos. Misha Anouk weiß, wie es auf der anderen Seite aussieht. Er wuchs in einer Zeugen-Jehovas-Familie auf und lief im Predigtdienst von Haustür zu Haustür – stets hoffend, keine Mitschüler zu treffen. Mit erfrischendem Humor erzählt er von einer Kindheit ohne Weihnachten, aber mit Geistern, von ersten Zweifeln und Weltuntergängen, die auf sich warten lassen. In seinem mitreißenden Insiderbericht analysiert Misha Anouk die emotionale Verführung der Zeugen Jehovas, beschreibt Organisation und Struktur der Wachtturm-Gesellschaft und erzählt, weshalb er schließlich eine Sünde beging, um die bekannteste Sekte der Welt zu verlassen.
(Umschlagtext)

Während meines Osterurlaubs habe ich das Buch Goodbye, Jehova!: Wie ich die bekannteste Sekte der Welt verließ gelesen. Es ist wirklich sehr ausschlussreich und düfte alle die ansprechen, dies sich für die Verführbarkeit der Menschen, insbesondere durch Sekten, speziell durch die Zeugen Jehovas, interessieren. Es geht sehr in die Tiefe und wird ausreichend durch Zitate aus den Publikationen der Wachtturm-Gesellschaft, der organisatorischen Zentraleinrichtung der Zeugen Jehovas, belegt. Bei mir kann noch ein besonderes persönliches Interesse hinzu (s.u.).

    Buch und Autor Misha Anouk: Goodbye, Jehova!

Misha Anouk wurde in die Wahrheit hineingeboren. So bezeichnen Zeugen Jehovas ihren Glauben. Kein Wunder, das er fast 20 Jahre lang überzeugt war, Teil der wahren Religion zu sein. Doch dann kommen erste Zweifel. Er begreift, dass sein Platz woanders ist, jenseits der sich von der Außenwelt abschottenden Glaubensgemeinschaft. „Für mich ist und war die Frage nie, ob Zeugen Jehovas gute oder schlechte Menschen sind. Die Frage war immer nur, ob dieser Glaube für mich gut war.“ Goodbye, Jehova! Ist ein glänzend geschriebener Insiderbericht von einem, der jeden Aspekt der Glaubensgemeinschaft hautnah miterlebt hat. Mit Hilfe von wissenschaftlichen Erkenntnissen und anhand der Wachtturm-Literatur analysiert Misha Anouk unaufgeregt und mit viel Witz das „System Wachtturm“ und beschreibt, mit welchen psychologischen Tricks neue Mitglieder angeworben werden, wie sich die Organisation intern und extern gegen Kritik immunisiert und warum der Weltuntergang noch immer auf sich warten lässt.
(Klappentext)

Misha Anouk, geboren 1981 auf Gibraltar, ist freier Autor und widmet sich als Redner und in der täglichen Arbeit der Aufklärung über Bewusstseinskontrolle, Verschwörungstheorien, politische und gesellschaftliche Entwicklungen, Social-Media-Phänomene sowie der Medienkritik. Mit seiner Familie lebt er in Wien. Misha Anouk bloggt regelmäßig auf www.indub.io, twittert unter @mishaanouk und hat eine Facebook-Seite.

Was passiert eigentlich auf der anderen Seite der Tür, wenn du sie den Zeugen Jehovas vor der Nase zuschlägst?“ Misha Anouk ist jahrelang an jedem Samstag von Tür zu Tür gezogen, um andere Menschen von der „Wahrheit“ zu überzeugen, wie die Zeugen Jehovas den Kern ihres Glaubens nennen. In seinem Buch „Goodbye, Jehova! Wie ich die bekannteste Sekte der Welt verließ“ beschreibt er den Ablauf der Hausbesuche. „Nachdem du die Tür geschlossen hast, wird hinter deiner Hausnummer ein Code notiert: M oder W für dein Geschlecht, NH für ‚Nicht zu Hause‘, KI für ‚Kein Interesse‘.“

So ein „KI“ ist gar nicht so leicht zu bekommen, denn die Zeugen Jehovas nehmen den Predigtdienst, so heißt das Missionieren, sehr ernst. Sie glauben an Harmagedon, den Weltuntergang, an dem Jehova alles Böse vernichten wird und nur die Zeugen und Menschen, die in Jehovas Gunst stehen, überleben und in einer Art Paradies weiterleben werden. Wann genau der Weltuntergang eintritt, ist nicht klar. Die Wachturmgesellschaft, die Leitung der Zeugen Jehovas, hat mit ihren Prognosen schon mehrfach falsch gelegen und hält sich nun mit genauen Aussagen zurück.
Quelle: stern.de

Zunächst: Gleich am Anfang des Buchs bin ich über den Namen Gilead gestolpert, den die theologische Hochschule der Wachtturm-Gesellschaft in Brooklyn, New York (S. 29), trägt. Vielleicht nicht von ungefähr haben in dem Buch Der Report der Magd von Margaret Atwood ‚fanatische religiöse Sektierer im Norden der USA die sogenannte Republik Gilead installiert.‘ Daneben grüßt, wenn man das Buch liest, nicht nur Orwells ‚Big Brother‘ aus 1984, sondern es winkt auch Huxleys ‚Brave New World’. Wären die Zeugen Jehovas nicht so real, man könnte sie für eine Ausgeburt eines Science fiction-Schriftstellers halten.

Nun ich habe das Buch, wie oben erwähnt, auch aus sehr persönlichem Interesse gelesen. Misha Anouks Eltern waren Zeugen Jehovas (der Vater ein ‚Ältester‘) und so wuchs er von Geburt an in einer ‚Versammlung‘ auf. Meine Eltern waren jahrelang ‚Offiziere‘ der Heilsarmee.

So kam es, dass ich als Zeuge Jehovas aufwuchs. Ob ich dabei Mitspracherecht hatte, ist Ansichtssache. Ich war mir in meiner Kindheit keiner Alternative bewusst. Wohin hätte ich denn auch sollen als Kind? (S. 30)

Ich kann die Gefühle, die hinter diesen wenigen Worte stecken, sehr gut nachempfinden. Obwohl die Heilsarmee sicherlich kaum mit den Zeugen Jehovas zu vergleichen ist, die religiöse Ausrichtung ist die einer christlichen Kirche protestantisch-freikirchlicher Prägung (ihre Wurzeln liegen im Methodismus), so bildet sie doch ähnlich einen geschlossenen Kreis. Ist man erst einmal Glied dieser Gemeinschaft (ich wie Misha Anouk durch Geburt), dann ist ein ‚Ausbruch‘, eine ‚Flucht‘ so schnell nicht möglich (zumindest nicht in jungen Jahren).

Als Kind von Heilsarmeeoffizieren wurde ich noch als Baby (ähnlich wie in ‚normalen‘ Kirchengemeinden) in der Heilsarmee getauft, nur heißt es hier ‚dem Herrn geweiht‘. Und meine Konfirmation (‚Einsegnung‘) geschah auch in der Heilsarmee (manchmal frage ich mich, warum ich eigentlich Kirchensteuer bezahle, nur weil meine Eltern trotz der Mitgliedschaft zur Heilsarmee auch weiterhin Mitglied der evangelischen Kirche waren?). Und abends wurde ich als Heilssoldat ‚eingereiht‘.

Hatte ich eine Wahl? Natürlich war es meine Entscheidung, Mitglied der Heilsarmee zu werden. Aber so ‚freiwillig‘, wie man denken könnte, war es sicherlich nicht. Ich wollte meine Eltern nicht enttäuschen.

Je mehr man von mir beim Predigen erwartete, desto mehr hatte ich wiederholt mit Panikattacken zu kämpfen. Ich rede nicht gern mit fremden Menschen. Schon gar nicht wollte ich an deiner Für klingeln und mit dir über die Gute Botschaft sprechen. Ich habe es gehasst. (S. 137 )

Nun die Heilsarmee geht nicht von Haus zu Haus. Sie tritt höchstens durch ‚Freiversammlungen‘ an die Öffentlichkeit. Wer abends in der Stadt gern einmal ein Bierchen trinken geht, kennt sie vielleicht von ihren ‚Wirtschaftsmissionen‘ her, die dem ‚Predigtdienst‘ der Zeugen Jehovas durchaus ähnlich sind. Allerdings sind hier nur bestimmte Mitglieder der Heilsarmee unterwegs. Hierbei werden Spenden gesammelt und die Zeitschrift namens „Heilsarmee-Magazin“ (bis 31. Dezember 2007 hieß sie martialisch „Der Kriegsruf“) verteilt.

Wesentliches Merkmal der Heilsarmee sind die Uniformen der Mitglieder, Salutisten genannt. Wie schon der Name sagt, so ist die Heilsarmee militärisch organisiert. Der (oder durchaus auch die) Oberste ist der General/die Generälin, der/die Leiter/in der Gemeinschaft weltweit. Dieser (oder eben auch diese) residiert in London, wo sich auch das Internationale Hauptquartier (IHQ) befindet. Leiter der einzelnen Gemeinden (Korps genannt) sind überwiegend hauptamtliche Mitarbeiter (Offiziere, ich denke von Kadetten bis zum Oberst) und entsprechen einem Pastor oder Pfarrer einer Kirchengemeinde. Alle anderen Mitglieder sind Heilssoldaten. So wie man die Zeitschrift ‚Der Kriegsruf‘ inzwischen namentlich neutral als ‚Heilsarmee-Magazin‘ kennt, so spricht man wohl auch eher von Gottesdiensten statt Heils- (am Sonntagmorgen) oder Heiligungsversammlungen (am späten Sonntagnachmittag). Der Heimbund wurde inzwischen ebenso neutral in Frauenkreis oder Frauentreff umbenannt. Die Jugendliga nennt man wohl Kids- und Jugendclub.

Auch junge Heilssoldaten sind angehalten, Uniform zu tragen. Man kann sich vorstellen, wie ich mich mit 14 Jahren in einer solchen gefühlt habe. In dem Alter hat man schon pubertätsbedingt Schwierigkeiten genug mit sich selbst, da muss man sich nicht auch noch
dadurch outen, dass man einer Religionsgemeinschaft angehört, die durch ihr ‚kriegerisches‘ Aussehen in der Öffentlichkeit oft der Lächerlichkeit preisgegeben wird.

Die Wachtturm-Gesellschaft ist eine Leistungsgesellschaft. Dabei: Es passiert nie etwas. Es droht bloß ständig etwas vorzufallen. Man ist gezwungen, immer auf Trab zu sein, die Spannung wird künstlich aufrechterhalten. Ein ständiger Stresstest. (S. 275)

Mein Stresstest war das Zeugnisablegen und die Bußbank. Ein Gottesdienst (zumindest zu meiner Zeit) sah in etwa so aus: Auf ein Lied folgte das Gebet, dann Zeugnisse. Mitglieder der Heilsarmee (aber durchaus auch Besucher) stehen auf und berichten, wie sie zu Jesus gefunden haben bzw. wie ihnen Jesus in der letzten Woche geholfen hat. Das hat einen durchaus spontanen Charakter. Begleitet wird das durch ‚Halleluja‘-Rufe. Ich kann mich zwar nicht mehr genau erinnern, aber ich denke, dass man auch von mir von Zeit zu Zeit erwartete, Zeugnis abzulegen. – Dem folgten erneut Lieder, die Kollekte, eine kurze Predigt und dann der Aufruf, „nach vorn“ zur Bußbank zu kommen (gewissermaßen als Ersatz für das Abendmahl bzw. für die Beichte). Ein Salutist kommt und betet mit dem „Suchenden“. Während des Aufrufs erfolgt das sogenannte „Fischen“ (Salutisten gehen durch die Reihen und sprechen Besucher des Gottesdienstes an, um sie zur Bußbank zu bitten). Nach dem Bußbankgebeten wird als Schluss ein weiteres Lied gesungen (siehe hierzu auch Uwe Heimowski: Die Heilsarmee in books.google.de)

    Bußbank der Heilsarmee

Wie bei den Zeugen Jehovas so gibt es (wie hier zu erkennen ist) auch bei der Heilsarmee viele Termini technici, also ‚Fachausdrücke‘, die markantes Merkmal für eine solch ‚geschlossene Gemeinschaft‘ sind. Diese sind zudem Ausdruck einer speziellen Lehre, die eben nur für die Gemeinschaft von Bedeutung ist. Sie sind vor allem aber auch Unterscheidungsmerkmal gegenüber anderen kirchlichen Gemeinschaften.

Was ich heute jedoch mit Sicherheit sagen kann: Ich habe es aus den falschen Gründen getan. Nicht, um Gott näherzukommen. Nicht aus Überzeugung. Sondern aus einer mir gegenüber an den Tag gelegten Erwartungshaltung, die zentnerschwer auf meinen Schultern lastete. (S. 320)

Theoretisch bin ich heute noch Mitglied der Heilsarmee. Ich weiß gar nicht, ob man von sich aus austreten oder ob man gewissermaßen wie bei den Zeugen Jehovas als Abtrünniger oder Abweichler ausgestoßen werden kann. Ist für mich auch egal. Ich habe nichts gegen die Heilsarmee. Sie tut viel Gutes, besonders im sozialen Bereich.. Aber sie ist nicht ‚mein Ding‘. Ich freue mich z.B. über meinen älteren Sohn, der sich von sich aus in der evangelischen Kirche engagiert. Von daher bin ich auch weiterhin bereit, Kirchensteuer zu zahlen.

Noch einmal kurz zurück zu den Zeugen Jehovas, zu denen sich weltweit sieben bis acht Millionen Menschen bekennen, die ihre spezielle Auslegung der Bibel haben:

Es gibt keine Hölle […]. Einen Himmel zwar auch nicht, zumindest für dich nicht; aber dafür ein Paradies [..…]. Die Toten werden wiederauferstehen, Gott wird alle Krankheiten abschaffen, wir werden ewig leben. (S. 325)

Als ich mit meinen jüngeren Sohn über das Buch sprach und die Vergleiche mit meiner Heilsarmee-‚Vergangenheit‘ zog, meinte er, ich könnte auch ein Buch schreiben. Sicherlich könnte ich, aber anders als bei Misha Anouk ist diese, meine Vergangenheit schon viel zu lange her. Außerdem ist die Heilsarmee mit Sicherheit keine Sekte wie die Zeugen Jehovas. Man muss z.B. nicht Mitglied sein, um sein ‚Heil‘ zu finden. Das hier Geschriebene soll genügen.

Stimmen zum Buch
Seine Geschichte zeigt, wie gut das System der Zeugen Menschen manipulieren kann. (Zeit online)

Misha Anouk hat etwas durchgemacht, an dem andere Menschen zerbrechen würden. (Morgenpost)

Das Buch erlaubt nicht nur tiefe Einblicke in den Alltag eines Zeugen zwischen Königreichssaal und Predigtdienst an fremden Haustüren, es blättert auch das ganze Spannungsfeld zwischen diametral gegenüber stehenden Denkrichtungen auf. (Lübecker Nachrichten)

Ein bemerkenswertes Buch, hervorragend geschrieben und akribisch recherchiert. (Hamburger Abendblatt)

Hervorragend recherchiert, wahnsinnig intim und sehr, sehr gut. (NDR Das!)

The Governing Body of Jehovah‘s Witnesses, 25 Columbia Heights, Brooklyn, New York 11 201 – 2483, USA (S. 304)

Martin Walser: Shmekendike blumen (Duftende Blumen)

    Ikh bin a fedemel, ayngevebt in der groyser shtikl materye, vos geht in der velt fun eybige tsaytn untern nomen yud.
    Ich bin ein Fädchen, das in den großen Stoff eingewoben ist, den es seit ewigen Zeiten in der Welt unter dem Namen Jude gibt.
    Sh. Y. Abramovitsh

Martin Walser hat die jiddische Literatur für sich entdeckt. Er, dem man in früheren Jahren Antisemitismus vorgeworfen hat, weil er einen (seinen) Literaturkritiker, einen Juden, hat zu Tode kommen lassen, literarisch versteht sich (siehe: Zu Martin Walser (4): Tod eines Kritikers). Er, der sich gegen eine ‚Instrumentalisierung des Holocaust‘ in Form einer dauerhaften ‚Moralkeule‘ gewehrt hat (siehe: Zu Martin Walser (3): Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede).

Walsers Begeisterung für jiddische Literatur ist wohl durch die als Buch erschienene Studie Mendele der Buchhändler – Leben und Werk des Sholem Yankev Abramovitsh (Harassowitz Verlag, Wiesbaden) der amerikanischen Literaturwissenschaftlerin Susanne Klingenstein geweckt worden. Walser und Klingenstein kennen sich seit mehreren Jahren und standen in ständigem Austausch miteinander (warum erinnert mich diese ‚Beziehung‘ an Walsers Roman Der Augenblick der Liebe aus dem Jahr 2004?). Dieses Buch ist dabei weitaus mehr als eine individuelle Biographie und Werkdeutung, sondern eine Gründungsgeschichte der jiddischen Hochliteratur. Im Mittelpunkt steht aber Scholem Jankew Abramowitsch (in englischer Schreibweise Sholem Yankev Abramovitsh), der unter dem Namen Mendele Moicher Sforim (Mendele Moykher Sforim, d.h. Mendele der Buchhändler) seine Bücher veröffentlichte.

Ihm hat Martin Walser mit seinem Essay Shmekendike blumen – ein Denkmal/A dermonung für Sholem Yankev Abramovitsh ich wiederhole: ein Denkmal gesetzt.

    Martin Walser:  Shmekendike blumen

Jiddisch, auch jüdisch-deutsch genannt, ist eine rund tausend Jahre alte Sprache, die von den mittel-, nord- und osteuropäische Juden gesprochen und geschrieben wurde und von einigen ihrer Nachfahren bis heute gesprochen und geschrieben wird. Es ist nach allgemeiner Meinung eine aus dem Mittelhochdeutschen hervorgegangene westgermanische, mit hebräischen, aramäischen, romanischen, slawischen und weiteren Sprachelementen angereicherte Sprache. Geschrieben wird Jiddisch mit hebräischen Schriftzeichen, die allerdings nach gestimmten Regeln in lateinische Buchstaben umschrieben (‚transliteriert‘) und so auch für uns lesbar werden.

Mit jiddischer Literatur habe ich mich schon früh befasst (siehe u.a. Isaac B. Singer: Feinde, die Geschichte einer Liebe), allerdings in deutscher Übersetzung. Martin Walser hat sich an die transliterarische Fassung der Texte gehalten (hebräische Schrift wird wohl auch er nicht lesen können), was einige Geduld verlangt (und vielleicht auch ein Wörterbuch, da nicht alle Wörter im Deutschen wiederzufinden sind). Wer sich aber getraut, dem tut sich eine erstaunliche Sprachwelt auf. „Es wäre zu armselig, wenn wir überhaupt nicht wahrnehmen, erleben könnten, was Jiddisch ist“, schreibt Walser: „Meine Empfehlung: So langsam lesen wie noch nie. Den Wörtern die Chance geben, in uns Echos zu wecken.“ – In Walsers Buch finden wir hierzu einige Beispiele.

In seinem neuen Essay ist Martin Walser ganz Leser und Entdecker, und als solcher bereist er eine sonst kaum beachtete literarische Landschaft – die jiddische Literatur. Einem ihrer großen Autoren und Mitbegründer der modernen jiddischen Literatur, Sholem Yankev Abramovitsh (1835-1917), will er schreibend ein Denkmal setzen: ihm und seinem Werk, das er «ein Lesewunder» nennt und in dem ihm ein Erzählen «unter einem Himmel voller Bedeutungen» begegnet. Martin Walser ist begeistert von der Vielfalt der Sprachwelten, die sich ihm darin eröffnet. Die enthusiastische Leseerfahrung, die in seinem Essay ihr Echo findet, lässt auch einen Autor in neuem Licht erscheinen, zu dem er seit seinen Anfängen immer wieder zurückgekehrt ist: Franz Kafka.

So ist Martin Walsers Essay nicht nur die Erkundung einer vernichteten Lebenswelt, sondern auch eine emphatische Einladung an das Publikum, sich in diesen wieder entdeckten Landstrich der Literatur zu begeben: «Ich hoffe, es gehe jedem Leser so: Man möchte diese Sprache sprechen.»
Quelle: rowohlt.de (hierzu auch eine kleine Leseprobe)

Natürlich geht es Walser nicht nur um den Wert dieser jiddischen Literatur, den er in seiner Begeisterung für sehr hoch hält. Martin Walser stellt klar, welchen Standpunkt er gegenüber den Juden einnimmt, wenn er schreibt:

Von Sühne zu sprechen ist grotesk. Mir ist im Lauf der Jahrzehnte vom Auschwitz-Prozess bis heute immer deutlicher geworden, dass wir, die Deutschen, die Schuldner der Juden bleiben. Bedingungslos. Also absolut. Ohne das Hin und her von Meinungen jeder Art. Wir können nichts mehr gutmachen. Nur versuchen, weniger falsch zu machen. (S. 102)

Etwas irritierend finde ich, was Walser dann schreibt. Es klingt so, als ginge er in dem jiddischen Autoren Abramovits und mit ihm in der jiddischen Sprache voll und ganz auf, sodass nichts mehr für das ‚Hier und Heute‘ bleibt. Walser wird in wenigen Tagen (am 24. März) immerhin 88 Jahre alt. Die Schaffenskraft Walsers der letzten Jahre war ungebrochen, geradezu erstaunlich. Dazu die vielen Reisen zu Lesungen (zuletzt zusammen mit Susanne Klingenstein). In Kafkas Roman „Der Prozess“ lautet der letzte Halbsatz: „… es war, als sollte die Scham ihn überleben.“ Sollte sich das jetzt auf Walser beziehen? Übermannt ihn jetzt eine Scham gegenüber den Juden, sodass jedes weitere Schreiben, das sich nicht auf dieses Thema bezieht, für ihn bedeutungslos geworden ist? Walser schreibt:

Ich merke, wenn ich jetzt Abramovitsh lese, dass mich das ungeeignet macht für alles, was ich jetzt tun oder sein müsste. Ich erlebe ein Nicht-mehr-in-Frage-Kommen für das sogenannte Hier und Heute. Eine vollkommene Eingenommenheit. Von ihm. Ich kann auch nichts dagegen tun, in mir dominiert die Mitteilung, dass wir dieses Volk umbringen wollten und zu Millionen umgebracht haben. Und dieses Volk ist mir jetzt, erst jetzt, wirklich bekannt geworden. Durch Abramovitsh. Durch Mendele, Yisrolik, Binjamin, Senderl und Schloimale [Romanfiguren Abramovitsh‘].
Dass Menschen abgerichtet werden können, das zu tun, was sie dann taten, bleibt unfassbar.
(S. 107)

Bevor am Schluss in dem kleinen, gerade einmal gut 130 Seiten umfassendem Buch der Einleitungsvortrag über Jargon von Kafka dessen Gedanken zur jiddischen Sprache kundgetan werden (Kafka spricht von Jargon, wenn er die jiddische Sprache meint), findet sich eine kleine Erzählung von Sholem Yankev Abramovitsh unter seinem Autorennamen Mendele Moykher Sforim, die zunächst in deutscher Übersetzung (übersetzt gemeinsam von Susanne Klingenstein und Martin Walser), dann in der Transliteration und zuletzt in hebräischer Schrift wiedergegeben wird. Hier der erste Absatz.

Mendele Moykher Sforim: Meine (letzte) Reise

Vor einem Jahr, am 2. Elul 5629, habe ich mich mit meinem Bücherwagen nach Kiew hineingeschmuggelt. Ich sage hineingeschmuggelt, wie, wie ihr ja wisst, ein Jude in Kiew faule Ware ist, er darf sich dort nicht aufhalten, es sei denn, er hätte ein Siegel, was bedeutet, dass er die Abgabe entrichtet und Handelserlaubnis hat. So wie es aussieht, dürfen sich dort keine Juden aufhalten, nicht weil man sie für unehrliche, ungeschlachte, ungebildete Menschen hielte, denn erstens, so fein, so ehrlich wie Zigeuner sind sie schon. Warum gehen denn dort Zigeuner und andere üble Leute frank und frei herum? Und, zweitens, seit wann ist eine Handelserlaubnis ein Zeichen von Ehrlichkeit? Man kann ein Händler und trotzdem ein großer Betrüger sein. Drittens, möchten dort doch auch alle wohnen, die einmal studiert haben in den russischen Schulen und Rabbinerseminaren, auch Schriftsteller und ihresgleichen, die ja feine, gebildete Leute sind, auch wenn sie kein Geld haben für den Mitgliedsbeitrag im Berufsverband. Was also ist der wirkliche Grund? Verzeiht mir, da müsst ihr wirklich andere fragen, Klügere, Verständigere als mich. Mir liegt es nicht, mich da in philosophische Spekulationen zu versteigen, auf hohen Pfaden zu wandeln und bis ins letzte Jahrtausend vor dem Kommen des Messias hineinzukriechen, und außerdem, warum überhaupt! Gelobt sei der Ewige, Er sei gepriesen, immerhin sitzen die Juden doch in Kiew. Dort gibt es heute – kein böses Auge – eine große jüdische Gemeinde, sie möge sich vermehren, sie haben schon – Gott sei’s gedankt – eine Fleischsteuer, das heißt, sie essen koscheres Fleisch und halten sich auch an andre gute Regeln, schon bald wie in Glupsk. Es kostet eben mal einen Rubel, sei’s drum! (S. 113 f.) […]

Hier die Transliteration (genauer: YIVOTranskription) des in hebräischer Schrift (siehe unten) verfassten Textes. Leider ist diese Umsetzung des Textes vom Englischen geprägt und lässt für den Deutsch Sprechenden zwischen Zeichen und Laut keine Eins-zu-Eins-Entsprechung zu. Anstelle von y, z, s, v, ts, kh, sh, zh, ay, ey, oy treten im Deutschen j, s, ß, w, z, ch, sch, sh, aj, ej, oj – also zwejtn für tsveytn oder ich mich für ikh mikh ließe sich leichter lesen). Berücksichtigt man diese Unwegsamkeit, dann wird der Leser schnell erkennen, welche Ähnlichkeit das Jiddische mit der deutschen Sprache hat und doch welche besondere Eigenart. Versuchen wir es einmal:

Mendele Moykher Sforim: Mayn (letste) Nesie

Dem tsveytn elul, far a yorn, tarkh“t [1869] (1), hob ikh mikh mit mayn baydl sforem arayngepeklt in kiev. Ikh zog arayngepeklt, makhmes, vi ir veyst, iz a yid in kiev treyfe skhoyre. Er tor zikh dort nit gefinen, saydn mit a blomb (2), dos heyst, az er tsolt poshline(3) un nemt a kupetshestvo(4). Vi es hot a ponem (5), torn keyn yidn dort nit zitsn, nit vayl me halt zey far umerlekhe, grobe, umgebildete mentshn, vorem reyshis (6), azoy fayn, azoy erlekh zaynen zey dokh, lekhol hapokhes (7), vi tsigayner. Far vos zhe geyen arum dortn tsigayner mit nokh andere shlek frank un fray? Tsveytns, vos iz kupetshestvo far a simen fun erlekhkayt? Me ken zayn a kupets (8) un fort a groyser moshenik (9). Dritns, voltn dokh dortn gemegt zitsn di, vos hobn a mol gelernt in shkoles, in rabiner-shuln, oykh mekhabrem (10) un nokh azelkhe, vos zaynen zeyer fayne gelernte mentshn, khotshe-nebekh, zey hobn nit keyn gelt tsu tsoln gilde (11). Vos den zhe iz der emeser tam? dos, zayt moykhl, geyt fregn andere, kliger, farshtenderike fun mir. Ikh bin nit oysn zikh do arayntsulozn in khkires un geyn in hoykhe drokhem, farkrikhn biz dem elef hashishi (12)… un iberikns, vos makht es oys, geloybt iz hashem yisborekh, yidn zitsn dokh fort in kiev. Dortn gefint zikh haynt, on nehore, a groyse eyde yidn, zoln zikh mern. Zey hobn shoyn, dankn got, a takse mit nokh azelkhe gute tekones, bald efsher azoy, vi in glupsk. Es kost a mol a kerbl, nu, meyle, khe!… (S. 119 f.) […]

    (1) Jahreszahlen werden in hebräischen Buchstaben geschrieben, die Zahlenwert haben, Elul fällt auf Mitte August
    (2) blomb vermutlich ein offizielles Dokument mit Metallsiegel
    (3) poshline Abgabe oder Steuer
    (4) kupetshestvo Handelserlaubnis
    (5) ponem Gesicht
    (6) reyshis erstens
    (7) lekhol hapokhes wenigstens
    (8) kuperts Händler
    (9) moshenik Betrüger (shvindler, dreyer, opnarer)
    (10) mekhabrem (Schriftsteller (plural)
    (11) gilde Berufsverband, Gilde
    (12) Elef hashishi nach der Kabbala das sechste und letzte Jahrtausend vor dem Kommen des Messias

… zuletzt der Text in hebräischer Schrift:

Mendele Moykher Sforim: Mayn (letste) Nesie - in der hebräisch geschriebenen Fassung

Martin Walser hat den Toten und ihrer vernichteten Kultur in Osteuropa seine Reverenz erwiesen. (Jüdische Allgemeine)

Der Schritt ins Leere

Es ist erst einige Tage her, da berichtete ich aus meiner Alptraumwelt, in der abstürzende Balkone öfter eine Rolle spielen. Das Ganze hat etwas mit Akrophobie, also Höhenangst zu tun, der Angst vor Höhen, in denen der nächste Schritt wie ein Schritt ins Leere anmutet, von denen der Blick ins Bodenlose zu gehen scheint. Konturen und Horizonte lösen sich auf. Ein unvermeidliches Fallen steigt als Vision in einem auf.

Fast drei Jahre ist es inzwischen her, dass ich mit meiner Familie für knapp zwei Wochen in Grainau, dem Zugspitzdorf, Urlaub machte und dabei auch diesen x-förmig angebrachten Skywalk für Schwindelfreie, diese über dem Höllental bei Garmisch-Partenkirchen erbaute Aussichtsplattform namens Alpspix ‚inspizierte‘. Auf dieser 13 Meter scheinbar ins Nichts ragenden Stahlkonstruktion hat man einen schwindelerregenden Blick in tausend Meter Tiefe. Wenn man nicht lange überlegt, dann getraut man sich auch als nicht Schwindelfreier, diese stählerne Plattform zu betreten. Dem Ganzen wohnt ein Reiz inne, ein Kitzel, dem man sich nicht völlig entziehen kann.

Vor über einem Jahr blätterte ich in einem Nachrichtenmagazin (Focus Nr. 52/01 vom 23.12.2013) und fand dort als eines der Fotos der Woche ein Bild mit zwei jungen Frauen, die auf der gläsernen Aussichtsplattform mitten in der Mont-Blanc-Gruppe stehen. Dagegen ist die Alpspix fast nichts

Blick ins Bodenlose: Auf einer gläsernen Brücke am Gipfel des Aiguille du Midi genießen zwei Mitarbeiterinnen der Seilbahngesellschaft den Blick auf die Region um den Montblanc
Blick ins Bodenlose: Auf einer gläsernen Brücke am Gipfel des Aiguille du Midi genießen zwei Mitarbeiterinnen der Seilbahngesellschaft den Blick auf die Region um den Montblanc. Und den bedrohlichen Kitzel, so hoch über dem Abgrund zu stehen.

Ein, wie ich finde, faszinierendes Foto. Interessant auch der kurze Wortbetrag zu diesem Foto unter der Überschrift Höhenangst ist purer Hoch-Genuss (verfasst von Borwin Bandelow, Angstforscher an der Universität Göttingen), der meinen Eindruck von Reiz und Kitzel erklärt:

„Zwei Damen stehen auf der Aussichtsplattform auf dem Aiguille du Midi 3842 Meter über dem französischen Wintersportort Chamonix.“

„Durch den gläsernen Boden fällt der Blick in die Tiefe – und weckt unsere Urangst, ins Bodenlose zu stürzen. Diese Sorge stammt aus entwicklungsgeschichtlich sehr alten Regionen unseres Gehirns. Die Höhenangst signalisiert uns: Du hast ein Problem. Du bist kein Vogel. Du bist im freien Fall! Dieses primitive Angstzentrum weiß nicht, was Glas ist. Denn das wurde erst vor 3500 Jahren erfunden.

Die Folge ist der Fluchtreflex. Unser Herz beginnt zu rasen, der Atem stockt. Und der Körper schüttet Endorphine aus. Wenn der Absturz dann doch nicht erfolgt, erzeugt dieses körpereigene Opiat ein Wohlgefühl, sodass wir den Moment über dem Abgrund auf eine verwirrende Art genießen. Die gute Nachricht lautet: Wer diesen Kitzel empfindet, ist nicht verrückt. Im Gegenteil, sein Gehirn funktioniert bestens.“

Dieses Foto findet sich auch auf der Website zum Wintersportort Chamonix (zu Garmisch-Partenkirchen besteht übrigens eine Städtepartnerschaft – so schließt sich der ‚Kreis‘). Dort steht unter der Überschrift: Der Schritt ins Leere:

Einfach umwerfend! Wer Nervenkitzel mag, wird von dieser neuen Attraktion begeistert sein: Eine technologische Meisterleistung und ein unvergessliches Erlebnis! Über tausend Meter Leere tun sich unter Ihren Füßen auf, wenn Sie erstmal in diesem an 5 Seiten [links, vorn, rechts, oben und unten] verglasten Kasten stehen … Ein kleiner Schritt für den Besucher, aber ein großer Schritt in der Geschichte der Aiguille du Midi! Nervenkitzel garantiert…

Und als Ergänzung (wenn auch nur auf Englisch) der Hinweis für alle, die jetzt Lust auf diesen Nervenkitzel bekommen haben und einen Abstecher nach Chamonix planen, dass dieser „Schritt ins Leere“ wegen Renovierungsarbeiten voraussichtlich bis zum 26. Juni 2015 geschlossen sein wird:

From September 15th 2014, the access to the summit terrace and to the “Step into the Void” will be closed for further renovation & refurbishment work. The opening is planned for June 26th 2015.