Seit 1966, als ich gerade 12 Jahre alt war, freue ich mich auf die jeweils bevorstehende Fußballweltmeisterschaft. Ich habe das berühmt-berüchtigte Wembley-Tor gesehen, das Jahrhundertspiel 1970 Italien – Deutschland in Mexiko, die Niederlage der BRD-Auswahl gegen die der DDR bei der WM 1974 in der Bundesrepublik, dem einzigen Spiel der beiden deutschen Mannschaften. Dann auch den Sieg der bundesdeutschen Mannschaft im Endspiel gegen die Niederländer. Das Endspiel 1986 (wiederum in Mexiko) habe ich zusammen mit meiner Freundin (und heutigen Ehefrau) in einem Restaurant in einem Fischerdorf an der Costa del Sol gesehen und anschließend wie alle anderen einem Argentinier, der sich dort niedergelassen hatte, gratuliert. Die WM 1990 in Italien habe ich verpasst, da ich in Urlaub auf Island war. Erwähnenswert ist dann natürlich die WM 2014 in Brasilien mit dem 7:1-Sieg der deutschen Mannschaft gegen den Gastgeber im Halbfinale und dem dann doch eher glücklichen Sieg im Finale gegen Argentinien.
Dann kam die WM in Russland, die für mich bereits einen bitteren Beigeschmack hatte. Anfang April 2020 brachten Enthüllungen im Rahmen eines New Yorker Gerichtsverfahren ans Licht, dass die Stimmen mehrerer FIFA-Funktionäre, darunter Jack Warner aus Trinidad und Tobago (für fünf Millionen US-Dollar) und Rafael Salguero aus Guatemala (für eine Million US-Dollar), gekauft wurden, um für Russland abzustimmen. Die am Sonntag beginnende WM im Wüstenstaat Katar, die wegen der dort herrschenden Hitze in den Winter verlegt werden musste, erfüllt mich mit Grausen.
Werders Neustart in der 1. Fußballbundesliga
In den deutschen Kader, der nach Katar reist, ist nach langer Zeit auch wieder ein Spieler des SV Werder Bremen: Niklas Füllkrug, bisher bester deutscher Torschütze in der Bundesliga, hat den Segen vom Nationaltrainer Hansi Flick erhalten. Ja, der SV Werder Bremen: Nach nur einem Jahr 2. Liga sind sie wieder da – und wenn es zuletzt auch einige Niederlagen gab, so steht die Mannschaft mit 21 Punkten nach 14 Spieltagen auf Platz 9 doch ziemlich gut da. Die zwischenzeitliche Euphorie, die die Bremer bereits auf dem Weg nach Europa (z.B. Europa League) sah, ist schnell abgeklungen. Für Werder gilt weiterhin, was am Saisonbeginn galt: Klassenerhalt! Die halbe Miete dazu ist eingefahren! Neben Füllkrug hätten viele Bremer Fans sicherlich auch Marvin Ducksch und Mitchell Weiser als Vorlagengeber in der Nationalmannschaft gesehen. Die Leistungen von Ducksch waren nach einer blendendem 2.-Liga-Saison leider eher durchwachsen. Und Weiser hat natürlich zu große Konkurrenz um einen Platz im Mittelfeld.
Natürlich gönne ich Füllkrug die Nominierung und den ‚Ausflug‘ nach Katar. In Bremen hoffen viel, dass er öfter zum Einsatz (und vielleicht auch zu Toren) kommt. Und das er unverletzt nach der WM nach Bremen zurückkehrt.
Boykott – ja oder nein?
Bundeskanzler Scholz wie auch viele andere deutsche Politiker werden Katar zur WM nicht besuchen. Die öffentlich-rechtlichen TV-Anstalten werden die WM allerdings weitreichend übertragen. Als Fußball-Fan bleibt die Möglichkeit des Boykotts der Verzicht aufs Zuschauen. Viele Fans haben auf jeden Fall angekündigt, die Spiele zu boykottieren und während der WM lieber beim Amateurfußball als bei den Shows in den Fußball-Palästen der Wüste zuzuschauen: Es besteht wenig Lust auf den Fußball-Zirkus.
Boykott der Fußball-WM 2022 in Katar?!
Sicherlich trägt dazu bei, dass die frühere Begeisterung für die deutsche Nationalmannschaft in den letzten Jahren verflogen ist. Waren die Fußballarenen in früheren Jahren immer bis auf den letzten Platz besetzt, so tun sich zuletzt selbst in kleinen Stadien großen Lücken auf.
In dem rechts-konservativen Magazin Focus habe ich einige interessante Anmerkungen zur der Katar-WM gelesen, u.a. steht dort: „Die Boykott-Initiative ist sehr deutsch, sehr symbolisch, und – sehr unwirksam.“ Was das Deutschtum anbelangt, kann ich nur auf die viel weiter gehenden Initiativen in anderen Ländern verweisen: So wird die niederländische Nationalmannschaft ihre WM-Trikots während der Fußball-Weltmeisterschaft in Katar zugunsten von Arbeitsmigranten versteigern. Mehrere französische Großstädte wollen die Spiele der Fußball-WM in Katar nicht auf Großbildleinwänden übertragen. Mehrere norwegische Erstliga-Clubs sind für Boykott der Katar-WM. Die dänische Mannschaft will mit schwarzen Trikots auflaufen. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.
Im Weiteren beruft sich Focus auf das starke wirtschaftliche Engagement Katars in Deutschland und schreibt: „Dieser Boykott ist, vorsichtig formuliert, eine sehr selektive Angelegenheit. Oder ist jetzt auch der Boykott von Siemens-Kühlschränken oder Deutsche-Bank-Kreditkarten geplant, weil die Kataris an diesen deutschen Vorzeige-Unternehmen beteiligt sind. Ebenso übrigens wie an VW, Porsche und anderen deutschen Tafelsilber-Unternehmen. Aus denen hat man bislang über den Aktionär von der arabischen Halbinsel nur Positives vernommen. Dass WM-Boykotteure konsequenterweise auf ihren VW Golf verzichten, hat man bislang dagegen noch nicht gehört.“ – Dazu kann ich nur sagen: Wir kaufen keine Siemens-Kühlschränke, haben keine Kreditkarten der Deutschen Bank. Und VW und Porsche fahren wir auch nicht.
Natürlich gibt es auch Websites, die eindeutig Pro Boykott sind und u.a. die Gründen nennen, weshalb diese WM in Katar boykottiert werden soll.
Wenn oft geschrieben wird, das ein Boykott nichts bringt und daher sinnlos ist, dann belegt diese These ja nur, dass das Argument, die WM würde zu einer gesellschaftliche Veränderung in Katar beitragen, genauso sinnlos ist. Natürlich verbirgt sich im Boykott viel Symbolik. Aber die Reaktionen von Katar und FIFA zeigen, dass hier doch wunde Stellen berührt werden.
Nun, wie halte ich es mit einem Boykott (der sich für mich natürlich nur aufs Fernsehgucken beziehen kann)? Zu einem totalen Boykott der Fernsehübertragungen kann ich mich noch nicht völlig durchringen. Natürlich gucke ich nicht die Spiele von Katar, des Iran und Saudi-Arabien. Und die durch die Aufblähung der WM (statt 32 Mannschaften spielten früher einmal nur 16) oft weniger interessanten Spiele (‚Gurkenspiele‘) lasse ich auch sausen. Vielleicht schaue ich in das erste Spiel des deutschen Teams gegen Japan hinein. Sollte sich das auch als Gurkenspiel herausstellen, so werde ich schnell umschalten. Ich weiß, das klingt sehr inkonsequent. Und ich fürchte, dass es vielen ähnlich geht, die für Boykott sind, aber eben auch gern guten Fußball sehen möchten (wobei sich das mit dem ‚guten Fußball‘ erst noch herausstellen muss). Aber es könnte durchaus sein, dass ich gänzlich auf diese WM verzichtet (1990 hatte ich das notgedrungen getan). Der Geist ist zwar willig, aber die Fußballbegeisterung schwächt.
Noch etwas zuletzt: Natürlich bezieht sich ein Boykott vor allem gegen die FIFA, dem Weltfußballverband, und ihrem Präsidenten Gianni Infantino. Wie sein Vorgänger Sepp Blatter scheint dieser in einer sehr eigenen Fußballwelt zu leben, dem kein Skandal und Fauxpas zu wenig sind.