Was ist bloß mit Ian los? Teil 2: Wie ich zu Jethro Tull kam

Hallo Wilfried,

vielen Dank für Deine prompte und ausführliche Antwort !

Ich möchte meine Laufbahn als Musikfan kurz skizzieren:
In einer präpubertären Phase fing es an mit SWEET, gefolgt von einem harten Schlenker zu Queen. Seit meiner Zeit als Queen – Fan (ab ca. 1978) hält mich die Rockmusik gefangen.

Es folgten Plattenkäufe der Werke von Uriah Heep, Led Zeppelin, Big Country, Status Quo, AC/DC. Alles der jeweiligen Zeit und meinem Reifegrad entsprechend.

Irgendwann gegen Ende der 70er fing ich an, mich für britischen Folk zu interessieren. Dabei stolpert man zwangsläufig über die Folk – Alben von Jethro Tull. Nachdem ich die Tull’schen Folk – Alben durchhatte, dachte ich, ich müsste meine Tull – Sammlung um die früheren und späteren Werke der Band ergänzen. Dabei erlebte ich einige bittere Enttäuschungen: Die ersten Alben (This Was, Stand Up, Benefit) sind mir vom Klangerlebnis und der dadurch erzeugten Stimmung zu finster, die Platten nach 1978 sind in meinen Augen einfach Käse.

Nein, das darf ich nicht sagen. Es war jedenfalls nicht mehr die Musik, die ich hören wollte. Ich wollte akustische Instrumente hören und Texte, die von Elfen, Magiern oder anderen britischen Spezifika handeln. Rock Island oder gar A konnten das nicht liefern.

Meine Lieblingsplatten von Jethro Tull sind Thick as a brick, A passion play, Minstrel in the Gallery, Heavy Horses, Songs from the wood. Ich habe es Mr. Anderson nie verziehen, dass er vom Folk – Weg abgekommen ist und Werke wie A oder Roots to Branches produziert hat (zum Glück weiß er das nicht). In meinen Ohren mutiert auf der letztgenannten CD sein Flötenspiel zum nervenden Gedudel.

Ich gestehe an dieser Stelle ganz offen: sein Flötenspiel hat mich nie besonders fasziniert; was ich an Ian Anderson schätzte war sein Gesang und seine akustische Gitarre. Sein Gitarrenspiel war das, was für mich die Qualität von JT ausmachte. Du hast es in Deiner Mail schon erwähnt:
Sein Gesang war seit der Halsentzündung Mitte der 80er auch nicht mehr dazu geeignet, die Zuhörer zu begeistern. Auf einigen Videos aus jüngerer Zeit sieht und hört man ganz deutlich, dass er sichtlich Mühe hat, bestimmte Töne herauszubringen. Dabei wirkt er richtig angestrengt, fast gequält.

Ich riskiere noch einmal, ehrlich zu sein: Ich hätte es ihm nicht übel genommen, wenn er nach seinen Stimmbandproblemen seine Karriere beendet hätte.

Ganz im Ernst: Es gibt einige Dinge, die mir an Mr. Anderson übel aufstoßen. Zuerst natürlich die Tatsache, dass er nicht mehr Folk – Alben gemacht hat in Tateinheit mit der Tatsache, welche fragwürdige Qualität seine letzten Alben aufweisen.

Zweitens werde ich den Eindruck nicht los, dass er Haare und Bart färbt; als ob ein Ausnahmemusiker wie er es nötig hätte, dem Jugendlichkeitswahn gerecht zu werden !! Verbunden damit klage ich ihn an, dass er seine in Freiheit gesetzte Kopfhaut mit peinlichen Kopftüchern kaschiert. Nein, nein, dass ist seiner nicht würdig.

Nach soviel harscher Kritik wird der aufmerksame Leser sich vielleicht fragen, ob ich tatsächlich ein Jethro Tull – Fan sein kann. Berechtigte Frage.

Klare Antwort: Ja ! Ja ! und nochmals ja !

Durch sein hervorragendes Wirken in den Jahren von 1971 – 1978 hat er bei mir einen Ruf erworben, der das nicht mehr so erfolgreiche Wirken in späteren Jahren mühelos wegstecken kann. Ian Anderson ist für mich der größte Musiker !

Einige zeitgenössische Musikkritiker bezeichnen Robbie Williams als den größten Entertainer aller Zeiten. Für mich ist dieser Platz schon mit (dem jungen) Ian Anderson belegt.

Ich muss aufpassen; ich neige dazu, mich in Rage zu schreiben.

Also zurück zu sachlichen Dingen: Ich habe einige Fragen zur Person von Mr. Anderson, die mir das Internet nicht beantworten kann. Vielleicht weißt Du mehr…

Kennst Du den aktuellen Wohnort der Familie Anderson ? Im Netz habe ich nur herausgefunden, dass sie in Südengland, etwa 100 km entfernt von London, domizilieren. Weitere Einzelheiten werden im Netz (wohl ganz bewusst) verschwiegen.

Heutzutage kann man über Hinz und Kunz gedruckte Biografien erwerben, z.B. über Dieter Bohlen, Küblböck oder andere Auswüchse einer gesättigten Unterhaltungsindustrie. Nur über Ian Anderson habe ich noch keine vollständige Lebensgeschichte gefunden. Weißt Du, ob so etwas existiert ?

Deine sehr umfangreiche Tull – Seite habe ich bisher nur an der Oberfläche angekratzt. In den nächsten Tagen werde ich ihre Tiefe ausloten und so bestimmt die ein oder andere Frage beantwortet bekommen. Von den tollen Videos ganz abgesehen.

Ich habe Jethro Tull nie live erlebt. In ihrer Glanzzeit war ich zu jung und das heutige Wirken der Band tue ich mir nicht an.

Ach ja, noch einige kurze Fakten zu meiner Person, damit Du Dir zumindest ein grobes Bild von dem machen kannst, der Dich so zutextet:

Lockwood

Falls Arbeit und Familie mir Zeit lassen, fröne ich meinen Hobbys Musik hören, lesen und Schwimmen.

So, das mag für heute genügen.

Lieber unbekannter Wilfried, falls Du meine Mail wirklich bis hierhin durchgehalten haben solltest, danke ich Dir für Deine Zeit und Deine Geduld.

Du merkst sicher, dass es für mich höchste Zeit wurde, jemanden zu finden, mit dem ich meine Leidenschaft für JT teilen kann.

Viele Grüße und bis bald !

Lockwood

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Meine Antwort darauf:

Hallo Lockwood,

vielen Dank für Deine Mail. In vielen Dingen muss ich Dir zustimmen, leider.

Die Zeit von Jethro Tull ist natürlich abgelaufen. Das ist nun einmal so. Der Zahn der Zeit nagt nun einmal nicht nur an einem selbst. Aber Jethro Tull ist nun einmal ein Teil meines bisherigen Lebens. Nicht der wichtigste, da gibt es Dinge und vor allem Menschen, die mir näher stehen – als ein Herr Anderson. Aber die Musik von ihm und seine Mannen hat mich nun einmal eine lange Zeit begleitet – und wird mich auch weiterhin begleiten. Wenn ich Thick as a Brick auflege, dann bekomme ich auch heute noch eine Gänsehaut. Da reichen die ersten Takte auf der Akustikgitarre aus.

Wie geschrieben kenne ich Jethro Tull schon ziemlich lange, fast von Anfang an her. Sicherlich habe ich mich damals auch schon für Musik interessiert. Aber es war nichts dabei, was mich vom Hocker riss. Erst als ich Ian Anderson mit seiner Gruppe im Fernsehen sah (es war nicht das Stockholm-Konzert von Anfang 1969), da hatte ich ‚meine‘ Musik gefunden; u.a. spielte Jethro Tull „Living in the Past“ und „Bourree“. Anfang der 70-er Jahre war dann ja auch die Zeit des so genannten Progressive Rocks. Neben Jethro Tull hatte es mir Gentle Giant angetan, die ebenfalls Rock mit Klassik, Folk usw. verbanden. Yes oder Emerson, Lake & Palmer fand ich etwas zu sehr aufgemotzt, habe aber die letzteren in zwei Konzerten in Berlin gesehen, u.a. in der Waldbühne, was schon beeindruckend war. Gentle Giant spielte u.a. als Vorgruppe bei meinem ersten Tull-Konzert 1972.

Wie Dir gefallen mir natürlich die vom Folk beeinflussten, meist akustischen Stücke von Jethro Tull am besten. Klassische Elemente runden dann das Ganze zu einer typischen Tull-Musik ab. Aber eine Scheibe wie Stand up fand ich auch von Anfang an gut. Ich weiß nicht, wie oft ich die Scheibe gehört habe. Die LP ist wahrscheinlich nicht mehr abspielbar vor lauter Kratzer. Das war eben meine Zeit damals mit 15, 16 Jahren. Benefit ähnelt für mich eher einer sachten Barmusik, hat aber auch heute noch seine Reize. Aqualung fand ich nicht als den großen Hammer – und Locomotive Breath ging mir damals schon auf den Geist. Wind up und Mother Goose waren von der Scheibe die für mich besten Stücke. Na, und dann eben Thick as Brick, auch A Passion Play (obwohl mit einigen ‚Längen‘). Ab da ging es dann schon eher bergab. Songs from the Wood war voll okay. Heavy Horses (ich muss es gestehen) schon weniger, da etwas zu ’süß‘. Minstrel in the Gallery ist auch gut, wenn aber leider einen Tick zu steril.

Ob sich nun Herr Anderson die Haare färbt oder nicht, ist mir völlig gleich. Ich habe seit vielen Jahren graue Haare. Ich mache aber nicht viel Radau darum, ich stehe dazu! Sie sind nun einmal grau, basta. Ich bin ja auch nicht mehr in einem Alter, in dem man hinter den Mädels her ist. Da mag das bei Herrn Anderson vielleicht etwas anders sein. Manchmal habe ich den Eindruck, als hätte er noch etwas anderes mit seinen geigenden Begleiterinnen als allabendliche Konzertauftritte. Aber auch das soll sein Bier sein – nicht das meine. Schon früher hatte Anderson einen Hang zu extravaganten Kleidungsstücken. Das gehört zum Geschäft, denke ich. Im Alltagsleben wird er schon nicht wie ein alternder Pirat auftreten. Und es gehört auch zum Entertainment. Vieles hat sich erst mit den Jahren so entwickelt. Er ist ja nicht von Anfang an als Hans Huckebein auf einem Bein
über die Bühne gehüpft. Das Volk wollte es so, also muss man es ihm auch so bieten. Im Grunde hat sich Ian Anderson (lt. einiger Interviews) nie als Rockstar empfunden, sondern wollte möglichst ‚gute Arbeit‘ abliefern. Und so kennt man von ihm auch keine Sex- und Drogenexzesse. Er hat sich schon so körperlich bis an die Grenzen der Leistungsfähigkeit verausgabt. Flötespielen und Singen sollen ziemlich kontraproduktiv sein, d.h. voll auf die Stimmbänder gehen.

Zum Wohnsitz von Familie Anderson. Früher lebte er auf der Isle of Skye, betrieb dort u.a. auch eine Lachsfarm. Im letzten Jahr war ich mit meinen Lieben in Schottland auf Urlaub – und dabei auch auf Skye (Schottland gewissermaßen im kleinen). Es war eine schöne Zeit, zumal auch das Wetter voll und ganz mitspielte. Meinen Jungen hat es auf jeden Fall sehr gut gefallen.

Laut den Vorbemerkungen zu einem Interview des BBC mit Ian Anderson im März d.J. ‚residiert‘ Herr Anderson jetzt auf einer Farm in Wiltshire.

Zu Biografien zu Ian Anderson: Da gibt es sicherlich einiges. Aber ich bin eigentlich nie in Versuchung gekommen, mir eines der Bücher, die da wohl existieren, zu kaufen und zu lesen. So aufregend finde ich das nun auch wieder nicht. Da habe ich ganz andere literarische Interessen. Die Musik (und wenn schon Literatur: die Texte) reichen mir aus. Wie schon in meiner ersten Mail geschrieben: Ein so großer Fan bin ich dann wirklich nicht …

Jethro Tull live zu erleben hatte schon etwas. Aber um ganz ehrlich zu sein: So ein großer Konzertgänger war und bin ich nicht. In den großen Hallen kommt wenigstens für mich nicht die große Stimmung auf. Wahrscheinlich weil ich die großen Menschenansammlungen nicht unbedingt liebe. Kleine Clubs gefallen mir da schon besser. In London war ich vor langer Zeit einmal im Marquee Club oder im Club 100 in der Oxfordstreet 100, eigentlich ein Jazz-Schuppen, aber einmal in der Woche treten da auch Rockbands auf. Die Atmosphäre war (oder ist es noch) wirklich klasse. Mit einem Ale oder Guinness in der Hand lässt es sich da aushalten. Zum Glück gibt es ja alte Fernsehbilder, die man sich angucken kann. Das ist mir dann auch Konzert genug.

Zu mir selbst: ich bin bereits jenseits der 50, wenn auch noch nicht ganz so alt wie Ian Anderson. Hobbies? Dies und das, Musik eben und auch Literatur. Klar die Website(s) im Internet – z.B. auch ein Blog oder Weblog (Internettagebuch nennt man das wohl auch). Da findest du auch noch mehr zu Jethro Tull (interessant vielleicht auch die Reisevorbereitungen zu unserer letztjährigen Schottlandfahrt – Ian Anderson ist ja Schotte – und es gibt einige Stücke der Gruppe, die man nur unter Berücksichtigung der schottischen Wurzeln von Ian Anderson verstehen kann).

Jetzt habe ich fast soviel geschrieben wie Du. Soll auch genug sein. Heute habe ich etwas Zeit und Ruhe. Meine Jungen sind mit Freunden im Kino.

Viele Grüße
Wilfried „WilliZ“

English Translation for Ian Anderson