Was ist bloß mit Ian los? Teil 49: Von schottischen Wurzeln

Hallo Wilfried,

in der Bewertung des musikalischen Gesamtwerkes des Mr. Anderson werden wir wohl immer unterschiedlicher Ansicht sein. Was die Musik von JT angeht, hatte ich das Glück, während ihrer Folkphase auf die Gruppe aufmerksam zu werden. Dadurch neugierig geworden, habe ich in die Vergangenheit und Gegenwart der Band reingehört. Aber das war nichts; gewogen und für zu leicht befunden. Das ist Dir nicht neu, es bedeutet aber : Wenn ich den Meister am Heiligabend zum 1. Mal gesehen und gehört hätte, wäre ich niemals auf die Idee gekommen, mich mit seiner Vergangenheit zu beschäftigen.

Es gibt einen Punkt, bei dem ich ganz nah bei Dir bin: Ohne Musik geht es nicht. Auch bei mir muss es nicht unbedingt Rock oder Folk sein. Es gibt in der Tat einige sehr schöne Werke in der klassischen Musik. Mozart zähle ich hier allerdings nicht zu meinen Favoriten. Beethoven, Brahms oder Händel liegen mir da schon näher. Und natürlich Vivaldi mit seinen Vier Jahreszeiten: Einfach großartig !

Mit Jazz im Sinne von Cool- oder Freejazz kann ich überhaupt nichts anfangen. Für mich klingt diese Musik so, als könnten die Musiker sich nicht auf ein Lied einigen. Die Improvisation ist natürlich die Seele des Jazz, aber für meine Ohren ist das nichts. Wenn ich solche Musik höre, frage ich mich, warum die Musiker sich die Mühe machen, auf die Bühne oder in ein Studio zu gehen. Es kommt ja doch nichts Brauchbares dabei heraus. In dieser Musik vermisse ich so etwas wie eine Melodie oder eine klare Richtung. Für mich sind es in erster Linie Geräusche. Unkoordinierte Geräusche, auf die man leicht verzichten kann. Als Kind habe ich diese Musik als „nutzlose“ Musik bezeichnet und an dieser Ansicht konnten die folgenden Jahre nicht viel ändern.

Bitte, ich gebe hier nur meine ganz persönliche Meinung wieder. Einige Menschen, die wirklich etwas von Musik verstehen, haben mir glaubhaft versichert, wie schön und wichtig der Jazz sei. Ich bin bereit, ihnen zu glauben. Nur, mein Geschmack ist es ganz einfach nicht. So einfach ist das.

Anders verhält es sich mit der afrikanischen Musik. Hier finde auch ich einige Goldschätze. Ich denke da an die Alben Graceland von Paul Simon und die Werke von Johnny Clegg, die unter Mitwirkung afrikanischer Musiker entstanden sind. Ich kenne natürlich nicht das ganze Spektrum afrikanischer Musik, aber das, was ich von den o.g. Alben her kenne, gefällt mir sehr gut. Auf diesen Alben wirkt die Musik des Schwarzen Kontinents sehr gefühlsbetont, sehr leidenschaftlich. Sowohl Freude wie auch Trauer und Leid werden hier so ausgedrückt, dass sie fast mit Händen greifbar sind. Es scheint ein Hauptanliegen afrikanischer Musiker zu sein, Gefühle auszudrücken. Und zwar auf eine Art auszudrücken, der der Zuhörer sich nicht entziehen kann. So etwas gefällt mir; solche Musik hat für mich einen „Sinn“.

Zum Schluss noch ein Wort zu den langen Fingernägeln der Gitarrenspieler:
Auf Youtube fand ich einige Videos von Liveauftritten Mike Oldfields in Montreux. Hier sieht man deutlich, dass Mr. Oldfield mit fünf angewachsenen Plektrons zupft. Kein schöner Anblick, aber wer sich daran stört, kann wegschauen. Mr. Oldfield hat eine ungewöhnliche Spieltechnik. Wenn ich es richtig sehe, ruhen bei ihm Daumen und Zeigefinger unbeweglich auf den beiden oberen Basssaiten, während die drei restlichen Finger bestenfalls die vier unteren Saiten erreichen. Unabhängig von der Länge seiner Fingernägel mag ich seine Musik. Zumindest seine Frühwerke, aus der Zeit vor Moonlight Shadow usw.

Zu Karneval, Fasching oder Faslam.
Wir hier im äußersten Westen der Republik leben im Einflussgebiet der Hochburgen des rheinischen Karnevals, Köln und Düsseldorf. Das bedeutet, dass Karneval hier ganz toll gefeiert wird. Der Rosenmontag ist in unseren Breiten fast so etwas wie ein gesetzlicher Feiertag. Schulen und die meisten Betriebe haben an diesem Tag geschlossen, die Schulen zusätzlich noch an einem weiteren Tag. Allerdings kann ich mit dieser durch den Kalender verordneten Fröhlichkeit nicht umgehen. Für einen Rheinländer untypisch bin ich ein Karnevalverweigerer. Karneval verbinde ich mit Suff, Lärm, Dreck und gekünsteltem Frohsinn. Und das alles nach Vorgabe von Kalender und Uhr: „Ab 11:11 Uhr wird zurückgelacht !“ Aber ohne mich. Eigentlich müsste ich bedauern, dass ich nicht fähig bin, mich ausgelassen über etwas zu freuen. Aber seltsamerweise bedauere ich das nicht. In vielen Bereichen des Lebens vergleiche ich mich mit einem Hobbit: Am liebsten habe ich sechs Mahlzeiten am Tag und meine Ruhe !

Ich wünsche Euch ein sonniges, nicht zu warmes Wochenende.
Lockwood

03.02.2007

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~

Hallo Lockwood,

die Geschmäcker sind nun einmal verschieden – und das ist auch gut so. Sonst hätten wir eine musikalische Einheitssoße. Ich bin eben schon mit dem Frühwerk von Jethro Tull bekannt geworden (ich meine ab „Stand Up“) und habe daran meinen Gefallen gefunden. Und da mir Folk-Musik auch schon immer gefallen hat, fand ich natürlich auch die Folk-Alben von Jethro Tull ganz in Ordnung, obwohl mit Einschränkungen bei „Heavy Horses“. Ich kann es nicht genau erklären, aber „Heavy Horses“ ist mir etwas zu ‚blumig’, zu ‚theatralisch’ im Sinne von ‚gespreizt’. „Songs from the Wood“ finde ich auf jeden Fall um einiges besser.

Ich möchte in diesem Zusammenhang auf einen Punkt zurückkommen, zur Herkunft von Ian Anderson. Bei meinen Reisevorbereitungen zum Urlaub in Schottland 2005 hatte ich mich etwas ausführlicher mit den schottischen Quellen beschäftigt. Hierzu muss man zunächst wissen, dass man traditionelle schottische Musik in zwei Hauptrichtungen unterscheidet. In meinem Beitrag zum Stück „Pibroch (Cap in Hand)“ hatte ich hierzu einige kurze Anmerkungen gemacht, u.a.:

Pibrochs gehören zur ‘big music’ (ceòl mór), also zur großen Musik, im Unterschied zur ‘little music’ (ceòl beag), der kleinen Musik, z.B. den “jigs”, “reels” und “strathspeys”.

Die ‚little music’ entspricht dabei eher dem, was wir ganz allgemein als Folklore kennen. ‚Big Music’ ist gewissermaßen die klassische Form für den Great Highland Bagpipe, also dem Dudelsack, und lässt sich kaum mit der Folklore vergleichen, die mit Instrumenten wie Gitarre, Flöte und Geige (Fiddle) gespielt wird.

Schottische Wurzeln

Genau hier findet sich einiges bei Ian Anderson und seiner Musik wieder. Wir kennen zwar u.a. die Jigs und Reels, das Stück „Pibroch“ ist aber nicht das einzigste, in dem der Meister auch zur „big music“ greift. Ohne die schottischen Quellen ist die Musik von Jethro Tull nicht denkbar.

Es ist nur eine These, aber man sollte sie diskutieren: Ian Anderson hat bewusst leichtere Kost geschrieben, um damit auch ein größeres Publikum zu erreichen. Er hat aber auch immer Stücke geschrieben, die nicht so leicht zu schlucken waren. Bei beiden orientierte er sich an der schottischer Musiktradition. Später (Stichwort: Weltmusik) mischte er auch tradierte Stücke anderer Kulturen bei, hielt sich aber im Aufbau eines Liedes an schottische Überlieferungen (Grundlage ein Thema, das unterschiedlich variiert wird, wie beim Pibroch). Das Ganze verpackte er zeitgenössisch in Rockmusik.

Und noch eines kommt hinzu: Ian Anderson schrieb Musik für Orchester. Wohl gelesen! „Thick as a Brick“ und „A Passion Play“ sind in meinen Augen eigentlich Stücke für Orchester. Nun war Jethro Tull aber eine Rockband mit E-Gitarre, E-Bass, Schlagzeug und Keyboards – zusätzlich mit Herrn Anderson mit Querflöte, ab und wann Saxophon, Akustikgitarre usw. Also arrangierte er gewissermaßen das, was für ein Orchester gedacht war, für eine Rockband. Okay, das klingt ‚weit hergeholt’, aber geht es Dir z.B. bei „Thick as a Brick“ nicht auch manchmal so, als würde das, was Du hörst, besser zu einem Orchester passen? Und bei einigen Passagen höre ich ‚förmlich’ das Orchester.

Unter diesem Gesichtspunkt ist es dann nur konsequent, wenn er in späteren Tagen tatsächlich auf ein Orchester zurückgreift.

Was meinst Du dazu?

Bei youtube.com habe ich mir einige Videos von Johnny Clegg angeschaut und auch einen Blick auf dessen Website geworfen. Ist schon erstaunlich, wie sich ein Weißer in Südafrika jahrelang outet und Musik mit Schwarzen macht. Aber die Zeit hat ihm dann Recht gegeben. Allein das finde ich an dem Mann stark. Natürlich ist seine Musik eine Mischung aus afrikanischer Musik und weißer Rockmusik. Die Stücke mit afrikanischen Wurzeln gefallen mir am besten (neben dem schon obligatorischen Video mit Nelson Mandela haben die zwei weiteren Live-Videos auf Johnny Cleggs Website sehr viel Power). Zu Afrika und afrikanischer Musik sicherlich später etwas mehr.

Von Mike Oldfield habe ich die „Tubular Bells“. Seinerzeit war Oldfield ja in aller Munde. Richtig ‚überzeugen’ konnte er mich allerdings nicht. Ich habe einen Blick in die youtube-Videos aus Montreux geworfen. Ja, der gute Mann hat schon eine eigenartige Zupftechnik, wohl eigene Schule. Mit Daumen und Zeigefinger spielt er allerdings auch, wenn auch nicht so oft, da er meist die unteren (von der Tonhöhe her eigentlich oberen) Saiten ‚bedient’.

Zu Karneval u.ä.: Meine Mutter stammt ja aus Köln. Und so guckten wir am Rosenmontag im Fernsehen immer den Rosenmontagsumzug. Mehr war aber nicht. Einmal bin ich mit meiner heutigen Frau in Düsseldorf in die Umtriebe der (Alt-)Weiberfastnacht geraten. Die aufgescheuchten, alkoholisierten Damen (Damen?) haben uns dabei jegliches Interesse an solchen Veranstaltungen bis zum Lebensende vermiest.

Ich wünsche Dir und Deinen Lieben ein ruhiges, endlich einmal winterlicheres Wochenende.
Man liest voneinander
Wilfried

P.S. Schreibe heute von ‚unterwegs’, da ich zu Hause weiterhin ohne eigenen Rechner bin. Wie gut, dass es Webmail gibt.

08.02.2007

English Translation for Ian Anderson