Als ich mir das Buch vor vielen Jahren kaufte (1994 – denke ich), hatte es mir der absurde Titel angetan. Beim Lesen der sämtlichen Dramen von Vladimir Kazakov (in deutscher Transkription: Wladimir Kasakow) war ich zunächst etwas enttäuscht. Aber von Drama zu Drama – und es handelt sich um Minidramen von manchmal nicht einmal zehn Seiten Länge – fand ich zunehmend Gefallen an diesem Buch unter dem Titel Unterbrechen Sie mich nicht, ich schweige! -– Edition Akzente Hanser 1990, München Wien – aus dem Russischen von Peter Urban.
Mit Vladimir Kazakov betritt ein Schriftsteller die Bühne (der Literatur), der das genaue Gegenteil zu dem ist, was wir uns unter einem russischen Autor vorstellen: seine komischen Lese-Stücke und verspielten Scharaden sind kleine Meisterwerke eines metaphysischen Lachtheaters, auf dem die großen Gesten respektlos unterbrochen, die pathetischen Weltentwürfe genüßlich zertrümmert werden. Eine Mischung aus Karl Valentin und Daniil Charms.
Vladimir Kazakovs verrückte Meisterstücke eines metaphysischen Lachtheaters haben den großen Vorteil, daß sie nur drei Minuten dauern und in jedem Kopf mühelos aufzuführen sind. Wer es nicht glaubt, muß selbst dran glauben.(aus dem Klappentext)
Nun die Dramen sind nicht nur zur Aufführung für den Kopf gemacht, sondern wurden 1993 im Mousonturm Frankfurt und in der Kampnagel Fabrik Hamburg, Regie: Birgitta Linde – mit Ulrich Cyran – auch auf die Bühne gestellt.
Viel ist es nicht, was ich über den Autor finden konnte. Vladimir Kazakov wurde am 29.08.1938 in Moskau geboren und verstarb dort am 23.06.1988. Er trat 1972 der russisch-orthodoxen Kirche bei. Als Schriftsteller stand er in der Tradition des Futurismus, schrieb surrealistisch-absurde Kurzprosa und »Szenen«, die in der Sowjetunion bis 1989 nicht veröffentlicht werden konnten.
Vladimir Kazakov: Unterbrechen Sie mich nicht, ich schweige! – Sämtliche Dramen
Diese Welt ist merkwürdig streng, gläsern, scharf, kalt. Stein, Eisen und Glas sind die Materialien, aus denen sie hauptsächlich besteht, zu ihrem Inventar gehören – den Menschen gleichgestellt und gleichberechtigt: die steinernen Wände, Hausmauern, Hausdächer, Fenster, der Spiegel, die Uhr. Vermessen werden die Beziehungen, Brechungen, Winkel, Schwingungen, die zwischen diesen Gegenständen entstehen – durch die Luft, durch das Licht und vor allem durch die Zeit, eine Zeit allerdings, die nicht identisch ist mit derjenigen, die die Uhr anzeigt, Zeit, die von Uhren, in Sekunden und Minuten gar nicht meßbar erscheint, eine Zeit, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einer beherrschenden Gleichzeitigkeit verschmelzen.
In dieser Gleichzeitigkeit agieren Menschen oder Personen, die wie surreale Puppen oder gar körperlos sich bewegen, sie erscheinen wie Gespenster, verschwinden wie Gespenster und offen bleibt letztlich, ob es sich bei diesen Kunstfiguren um Menschen handelt, die nicht nur eine Stimme, sondern auch einen realen Körper besitzen, oder um Geister, Erscheinungen, Spiegelungen, Stimme gewordene Erinnerungen, die, in der Stille der Kazakovschen Welt, mehr schweigen als reden.
[…]
In Kazakovs Dialog sind die Regeln und Verbindlichkeiten des allgemeinen Sprachgebrauchs aufgehoben. Kazakovs Personen sehen und hören das Wort jedesmal neu, sie erfahren die Wörter gleichsam staunend, als hörten und sagten sie sie immer wieder zum ersten Mal. Sie sind fähig, sich am Wort „Messer“ die Zunge zu verletzen, fähig, sich am Wort „Glas“ zu schneiden, sie empfinden die scharfe Spitze des Sekundenzeigers als ständige Bedrohung, das Wort „Sekunde“ ist für sie ein Stich, ist für sie – seinen sie nun körperlos oder reale Menschen – physische Wahrnehmung, Schmerz.
(aus dem Nachwort von Peter Urban)
Ich bin ein Freund des Surrealen, des Absurden. Was den meisten als grober Un-Sinn erscheint, hat aber unter seiner rauen Schale oft mehr Sinn als manches, was uns als Sinnvolles verkauft wird. Und wenn es dann doch total absurd ist, dann bringt es uns wenigstens zum Lachen. Das hat dann auch viel Sinn!
Ich habe mir einige Textpassagen im dem Buch unterstrichen, weil diese mir besonders gut gefallen oder ich sie auf bestimmte Weise bemerkenswert finde. Da das Buch leider nicht mehr verfügbar ist (außer im Antiquariat), hier einige dieser Sprüche, um sie gewissermaßen „der Nachwelt“ zu erhalten:
Gibts das andre, gibt es auch das eine.
Ich habe noch 183 Wörter zu leben.
Oder 5 Küsse.
Ich gehe über die Straße und sehe plötzlich, daß ich vergessen habe, aus dem Haus zu gehen.
Man sollte meinen, alles sei bereits gesagt. Aber es gibt auch vieles Nichtgesagte. Also schweigen wir.
Aber das ist ein schlechtes Thema zum Schweigen.
Ob Schlinge oder Schlips ist unwichtig. Auf den Hals kommt es an.
Dieser Himmel ist sehr unbeständig, stellen wir uns unter einen anderen.
Ich erinnere mich nicht, wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt.
Ich rührte mich nicht, aus Angst, meinen Mut zu erschrecken.
Eine Minute besteht aus 60 Fragezeichen …
Das ist das Schicksal aller Unglücklichen – begraben zu werden zusammen mit dem eigenen Glück.
Unter zwei Übeln wähle ich das mittlere.
Meine Liebe ist wie das erste Eis des Winters, noch nicht fest genug.