2003 war Ian Anderson das letzte Mal im Aufnahmestudio (für sein Soloalbum „Rupi’s Dance“ und für das Jethro Tull Christmas Album), die letzte ordnungsgemäße Scheibe von Jethro Tull war „J-Tull DOT COM“ aus dem Jahre 1999. Es ist also schon lange her, dass uns der Flötenmeister mit neuen Tunes beehrt. Lange hat er uns mit Versprechen hingehalten, hier und da einige neue Noten live präsentiert. Aber eigentlich wollte schon keiner mehr daran glauben, dass der Tag kommen könnte, an dem in den Regalen der Plattenläden ein neues Album stehen wird..
Wir haben es wohl auch seinem alten Freund Derek Shulman von Gentle Giant zu verdanken, der Ian Anderson den Floh von einer Fortsetzung des Thick as a Brick-Albums ins Ohr setzte. Plötzlich hatte er eine Idee und ein Ziel: Thick as a Brick 2, kurz TAAB2.
Wenn man in ein bestimmtes Alter kommt (der Meister wird im August 65 Jahre alt, befindet sich also gewissermaßen kurz vor der Rente), dann stellt man sich meist recht komische Fragen: Was wäre, wenn … ja, wenn das Schicksal (Bestimmung, Karma oder Kismet) es mit uns anders gewollt hätte. Was hätte z.B. aus jenem Gerald Bostock werden können, dem fiktiven kindlichen Autoren von Thick as a Brick, der in diesen Tagen 50 Jahre alt geworden wäre.
Und es liegt wohl auch am Alter, dass ein Mann wie Ian Anderson plötzlich in einen Schaffensrausch verfällt, wenn er erst einmal ein auch für ihn wichtiges Thema gefunden hat. Selten haben wir ihn so agil gesehen. Keine Mühen, keine Kosten scheute er, um uns am Ende die heißersehnte Scheibe zu präsentieren.
Es ist nicht nur thematisch, sondern auch musikalisch ein Alterswerk geworden. Im Alter neigt man schnell zur Verknappung – und man wiederholt sich gern. Ab einem bestimmten Alter will man es vor allem aber den Jungen zeigen, dass man noch nicht zum alten Eisen gehört. Da lässt man durchaus alte Weggenossen links liegen (Martin Barre, der mit seinem Gitarrenspiel immerhin 40 Jahre lang die Musik von Jethro Tull mitgeprägt hat) und sucht sich talentiertes Jungvolk aus (Florian Ophale als Barre-Ersatz oder Scott Hammond, den neuen Schlagzeuger – okay, der wird nächstes Jahr auch schon 40).
Das soll keine Kritik sein, das ist nun einmal so – im Alter! Entgegen der allgemeinen Euphorie (z.B. in Laufis Jethro Tull Board) sehe ich TAAB2 etwas nüchterner. Okay, ich habe mir die Scheibe bisher noch keine 20 Mal angehört – am ersten Tag habe ich mir die DVD ins Laufwerk meines Rechners gelegt und zum ersten Mal vollständig gehört, dann habe ich mir die Lieder auf meinen MP3-Player überspielt – und während meines Osterurlaubs per Kopfhörer zweimal im Zug angehört. Ian Anderson hat sehr viel Arbeit und Schweiß in diese Scheibe investiert, ohne Zweifel. Aber wirklich überzeugen kann sie mich trotzdem nicht ….
Wie ich schon im Vorfelde geschrieben habe: Instrumental wirkt das Ganze schon sehr virtuos, wenn es auch, wie ich finde, manchmal etwas kalt, steril klingt. Diesem Urteil bleibe ich treu. „Thick as a Brick“, ich meine den ersten Teil aus dem Jahre 1972, hatte ich in Ausschnitten bereits im Jahr der Veröffentlichung live miterleben dürfen (die Gnade der frühen Geburt). Bereits bei diesem ersten Mal war ich begeistert und konnte kaum die Veröffentlichung der Scheibe erwarten. Jetzt bei TAAB2 ist es weniger die Liebe auf dem ersten Blick (beim ersten Hören).
Ian Anderson und seine Jungs haben das abgeliefert, zudem sie fähig sind. Andersons Flötenspiel ist in seiner Virtuosität über jede Kritik erhaben, allerdings sind es mir immer einige ‚Schlenker’ zuviel; das soll wahrscheinlich die Tatsache, dass das Material manchmal doch etwas mager ist (Stichwort: Verknappung), verschleiern. Florian Opahle ist ein großartiger Gitarrist, aber sein Spiel ist eben nicht das eines Martin Barre, der vielleicht nicht immer ‚sauber’ spielte, der aber eine Spontanität an den Tag legte, die Opahle abgeht. Überhaupt wirkt das Zusammenspiel der Musiker auf mich äußerst abgeklärt, damit aber auch – wie geschrieben – oft kalt und steril. Es liegt nach meiner Meinung an der restriktiven Vorgabe des Meisters, dem Perfektion wichtiger waren als intuitives Spiel. Sicherlich enthält auch das 1972er TAAB viele Wiederholungen, Selbstzitate – aber manches Stück, das hier als Neukomposition ausgegeben wird, ist in geänderter Form bereits schon einmal zu hören gewesen (z.B. A Change of Horses erinnert mich an Andersons Divinities).
Ich will hier nicht auf einzelne Stücke eingehen, dazu muss ich mir die Scheibe noch öfter anhören. Aber es gibt mindestens zwei Stücke, in denen langsame mit schnellen Passagen wechseln: Da passt mir das eine nicht zum anderen. Auch die Stimmverfremdungen (und –verdopplungen) finde ich unpassend – ‚befremdlich’.
Das ist mein gänzlich subjektives Urteil. Natürlich enthält TAAB2 auch für mich einige Höhepunkte. Aber die können nun einmal meinen Gesamteindruck nicht ändern. Man merkt eben das Alter des Meisters auch dieser Scheibe an.
Eigentlich sollte ich froh sein, dass es Ian Anderson endlich geschafft hat, wenn auch unter diesem sperrigen Namensungetüm „Jethro Tull’s Ian Anderson“, ein neues Werk auf den Markt zu werfen. Und ich bin es auch. Aber es ist leider kein Meisterwerk wie das 1972er TAAB, wenn TAAB2 auch ein dem Umständen entsprechend hörenswertes Alterswerk geworden ist.
Übrigens: Das Buch Jethro Tull Over Germany: Fotos und Geschichten aus über vier Jahrzehnten von Wolfgang Thomas und Sohn Kevin (siehe auch meinen Beitrag: Jethro Tull Over Germany) habe ich inzwischen bestellt. Mehr dazu, wenn ich es in Händen halte.