Amok

Wir erinnern uns: Am 26. April 2002, also vor genau drei Jahren, erschoss der von der Schule verwiesene Amokschütze Robert St. 16 Menschen am Erfurter Gutenberg-Gymnasium, bevor er sich schließlich selbst tötete. Es war ein Amoklauf „nach amerikanischem Vorbild“, den in Deutschland keiner für möglich halten wollte.

    Amok in Erfurt 2002

Erst in diesem Tagen hörten wir von zwei weiteren Amokläufen – in den USA, wo sonst … Aber wir wissen ja nun: Das ist auch bei uns möglich!

In einer alten Ausgabe der Zeitschrift „Die Zeit“ (Nr. 29 vom 15. Juli 1988) fand ich beim Aufräumen im Feuilleton-Teil einen Artikel von Gabriele Goettle mit dem Titel: Amok

Hier einige von mir herausgesuchte Textpassagen, die unserer Hirnmasse Anregung zum Nachdenken bieten könnten:

Freundliche Nachbarn, treusorgende Familienväter, harmlose Eigenbrötler … beschließen eines Tages aus nichtigem Anlaß, daß sie heute nicht mehr da weitermachen werden, wo sie gestern aufgehört haben. Zunächst erstechen, zerhacken, erdrosseln oder erschlagen einige ihre Frauen, Kinder und alten Eltern. Normalerweise enden damit derartige Familiendramen. Für den Amokläufer ist es nur der erste Schritt. Danach wechselt er meist das Tatwerkzeug und überschreitet schwerbewaffnet und endgültig die Schwelle seines Heims. Als Ziel wählt er den öffentlichen Platz.

Amok, rückwärts gelesen, ergibt Koma. Aber das ist nur ein Zufall.

Danach setzt er in der Regel seinem Leben ein Ende.

In unseren Breitengraden ereignen sich Amokläufe meist im Frühling und im Herbst.

Immerfort tatenlos zusehen zu müssen, wie die Maßgeblichen sich durchsetzen und dabei keinerlei Kosten scheuen, während das eigene Tun und Lassen vollkommen belanglos bleibt, das stachelt auf. Daß einer seine Kränkung und Erbitterung ernst nimmt und dann Ernst macht, erregt Bewunderung.

Er wirkt wie der Schiffbrüchige, den Brecht als einen charakterisiert, der verzweifelt nach der Planke greift, nicht, um sich zu retten, sondern um etwas zu haben, das er mit hinabnehmen kann in die Tiefe.

Das Leben ist die Pflicht, Amok die Kür.

Nun drängt sich vielleicht die Frage auf, weshalb der Amokläufer nicht im Parlament des Bundestages oder auf der Vorstandsetage von Siemens wirkt. Aber einmal abgesehen davon, daß ihm alles Hemmende verhaßt ist – so auch die Sicherheitsmaßnahmen dieser Zeilgruppen – hat er vermutlich längst schon resigniert vor der Zerbröselung aller Schuld im Mahlwerk der Macht.

Amoklauf ist ein Symptom der fortschrittlichen Entfremdung, in der die Herrschaft so abstrakt, die Gewalt so schmeichlerisch, die Schuld nicht nachweisbar und der Feind verallgemeinerbar ist.

Der Amokläufer ist kein Pädagoge, kein glühender Weltverbesserer, der mit der Bombe unter dem Mantel auf den Herrscher lauert, auch kein Don Quichotte, nicht einmal ein Desperado, der Funktionäre aus den Machtgruppen herausschießt. Im juristischen Sinn ist er nicht einmal ein Mörder, denn weder tötet er aus Mordlust oder Habgier, noch will er an den Opfern seinen Geschlechtstrieb befriedigen. Derart niedrige Beweggründe interessieren ihn nicht. Er kennt keinerlei Hoffnungen mehr, keine Machtgruppen und kein Strafrecht; er will nur noch, daß die anderen Ruhe geben und das ungenießbare Leben vorbei ist.

Er schießt wahllos. Die Opfer sterben einen sinnlosen Tod. Aber vielleicht liegt gerade in dieser Willkür die eigentliche Wahrheit des Amoklaufs. Er deckt das Spiel des Zufalls auf, der über allen waltet, der konstituierendes Prinzip all der mühsamen und langweiligen Lebensläufe durch den Spätkapitalismus ist.

Brutales Berserkertum ist nur beim organisierten Amaklauf erwünscht, also bei Pogrom und Mobilmachung.

Frauen sind so gut wie gar nicht vertreten, mit weniger als einem Prozent.

Vielleicht ist es so, das Frauen aus Geiz nicht Amok laufen. Denn wenn bei ihnen der Wunsch aufkommt, den Gatten, die Kinder und einige Kunden im Supermarkt niederzuschießen, kommen sie nicht umhin, den Schaden kaltblütig zu überschlagen; zudem stellt sich die Frage, wer das hinterher alles wegmachen soll. Im Vergleich zu den Männern ist das Verhältnis der Frauen zum sozialen Leben nicht abstrakt. Sie müssen alles immer wieder in die Hand nehmen.

Übrig bleibt ein einsamer, amoklaufender Mann. Bestensfall mittlerer Gehaltsgruppe.

Er geht auf in männlich martialischer Härte, im Ideal des Kämpfers, der sich ums Niedermachen kümmert. Und als Mitglied einer industrialisierten Gesellschaft bildet er seine Tat dem Modell der entfremdeten Arbeit nach. In der Regel benutzt er automatische Waffen. Er muß seine Opfer nicht überwältigen, nicht einmal berühren.

Man könnte zumindest überlegen, ob ein derart erschüttertes Subjekt nicht auch anders ausbrechen könnte, beispielsweise in Tränen.

Man stelle sich vor: ein Mann, der öffentlich versagt; ein Amokläufer mit Tränen vollständiger Verzweiflung.

Über WilliZ

Wurde geboren (in Berlin-Schöneberg), lebt (nach einem Abstecher nach Pforzheim, längere Zeit in Bremen und Hamburg) in dem Örtchen Tostedt am Rande der Lüneburger Heide - und interessiert sich für Literatur, Musik, Film und Fotografie (sowohl passiv wie aktiv) ... Ach, und gern verreise ich auch!