Urlaubszeit ist Lesezeit! Und nach Martin Walsers „Ein fliehendes Pferd“ (1978 erschienen) habe ich Walsers „Seelenarbeit“ aus dem Jahr darauf erneut gelesen.
Ein immer wiederkehrendes Motiv Walsers ist das Scheitern am Leben. Walsers Helden tragen meist einsilbige Nachnamen („Dorn”, „Halm”, „Zürn”, „Lach”, „Gern”), und sie sind den Anforderungen, die ihre Mitmenschen oder sie selbst an sich stellen, nicht gewachsen. Der innere Konflikt, den sie deswegen mit sich austragen, findet sich in allen großen Walser-Romanen wieder – so auch in „Seelenarbeit“.
„Seelenarbeit“ ist ein Heimatbuch, wobei Heimat nicht allein für das Land, die Gegend steht, in der man lebt. Heimat steht hier besonders auch für Familie. Xaver Zürn, Chauffeur eines Industriellen, sehnt sich nach dieser familiären Heimat, wenn er oft tagelang seinen Chef durch Deutschland kutschiert. Aber auch diese Heimat hat ihre Tücken – seine beiden halbwüchsigen Töchter bereiten ihm und seiner Frau Sorgen.
Mehr ist es aber die Arbeit, die er ausübt, die ihm Magen- und Darmprobleme im wahrsten Sinne verursachen. Xaver Zürn ist ein Sklave, dessen man tags wie nachts bedienen kann. Das Buch handelt von konkreten Machtverhältnissen der Gesellschaft, hier der mächtige Chef, dort der dienende Chauffeur. Und so hat Zürns Frust durchaus politische Ursachen. Wie viele Bücher so ist auch dieses eine unverhohlene Kritik Walsers an den Verhältnissen in unserer Gesellschaft.
Das Xaver Zürn am Ende dann doch nicht vollends am Leben scheitert, ist seiner Heimat, der Familie, insbesondere seiner Frau Agnes zu verdanken:
Jedesmal meint man, das Schlimmste sei vorbei. Das ist die Illusion, die das Leben verlängert! Das Schlimmste ist immer.
(Martin Walser: Seelenarbeit – Roman – erste Auflage 1979 – S. 265)
Es gab über der Kommode einen Spiegel, in dem sah sich Xaver, als er schon fast ausgezogen war. Er trat sofort zur Seite. Sobald er sich sah, kam es ihm unwahrscheinlich vor, daß Agnes ihn noch ertrug. Manchmal glaubte er zwar, es könne keine Frau geben, die ihn so gut ertrüge wie Agnes. Aber vielleicht erträgt sie ihn gar nicht so gut. Nein, alles falsch. Sie erträgt ihn sehr gut. Ausgezeichnet erträgt sie ihn. Aber sie mag ihn nicht. Das heißt, er wirkt nicht auf sie. Das erlebt er jedes Mal, wenn er spürt, wie sie auf ihn wirkt. Wie er sich sehnt nach ihr. Wie er herumzerren möchte an ihr. Sie zerreißen möchte vor lauter Nicht-von-ihr-genug-kriegen-Können. Wenn es ihr genau so ginge, dann müßten sie einander tatsächlich einmal zerreißen vor Nicht-von-einander-genug-kriegen-Können. Aber ihr geht es nicht so. Das weiß er. Sie erträgt ihn. Sie erträgt ihn sehr gern. Er ist ihr überhaupt nicht widerlich. Hofft er. Heute kommt er ihm besonders unwahrscheinlich vor, daß sie ihn gern erträgt. Er glaubt es einfach nicht. Er, ein zwischen Schultern und Schenkeln schwankende Faß. Im Gesicht das verlegene, ewig die Backen wölbendes Grinsen. Er wird sich immer widerlicher.
(S. 291 f.)
Woher aber diese Empfindung, daß er sich durch Agnes gerechtfertigter vorkommt als ohne sie? Durch Agnes war er möglicher als ohne sie.
(S. 294)
Er hörte ihrem Atem zu. Sie war noch einmal eingeschlafen. Damit war bewiesen, daß sie es gar nicht so dunkel brauchte. Da er auf nichts hören konnte als auf ihren leise anstoßenden Atem, schlief er auch wieder ein.
(S. 295)