In meinem Blog habe ich aus gutem Grund öfter, besonders im letzten Jahr, über Bücher von Martin Walser geschrieben (Angstblüte – Ein fliehendes Pferd – Seelenarbeit – Brandung – Jagd – Ein springender Brunnen). Er zählt zu meinen Lieblingsautoren deutscher Sprache.
1988 hielt Walser im Rahmen der Reihe Reden über das eigene Land eine Rede, in der er deutlich machte, dass er die deutsche Teilung als schmerzende Lücke empfindet, mit der er sich nicht abfinden will. Diesen Stoff machte er auch zum Thema seiner Erzählung Dorle und Wolf (1987 erschienen).
Aus dem Klappentext zur Novelle Dorle und Wolf (Zweite Auflage 1987 – Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main):
Wolf Zieger alias York, aus der DDR stammend, litt an der deutschen Teilung. Ihn bekümmerte, dass seine kämpfende und leidende Republik auf dem Gebiet der High-Technology hoffnungslos unterlegen ist. Er ist bereit, diesem Defizit abzuhelfen, und stellt sich als Kundschafter in den besonderen Dienst seiner Republik.
Wenn die Novelle einsetzt, ist Wolf 15 Jahre im Westen. Er arbeitet nach Vorlage einer widerspruchsfreien Biografie in der Bonner Politikverwaltung, verheiratet mit Dorle, einer Sekretärin im Verteidigungsministerium; hinter ihm liegen neun Jahre fehlerloser Praxis als Spion. Er hat sich voll und ganz auf diese Arbeit eingestellt. „Man muß, wenn man etwas zu verbergen hat, mehr tun, als man selber für nötig hält.“ Im Laufe seiner Tätigkeit wird er dabei so etwas wie ein Überkonsequentexperte: Er spielt Schumanns Novelletten immer nur mit einer Hand, um nie hören zu lassen, dass er ursprünglich in der DDR Klavier studiert hatte. So ist es immer der halbierte Schumann, den er spielt, und halbiert sind für ihn auch die Menschen der Bundesrepublik. „Sie wissen nicht, was ihnen fehlt. Und keiner würde sagen, ihm fehle seine Leipziger Hälfte, sein Dresdner Teil, seine mecklenburgische Erstreckung.“
Wohnung von Dorle und Wolf in Bonn-Poppelsdorf: Ecke Trierer Straße 47 – Querstraße
Überkonsequent ist er auch in seiner Spionagetätigkeit: immer mehr tun, als man für nötig hält. Er macht sich an Sylvia Wellershof heran, ebenfalls Sekretärin im Verteidigungsministerium. Dorle, seine Frau, die erst nach der Heirat von seiner Agententätigkeit erfahren hatte, die ihn deckte und unterstützte, weil sie ihn liebte, wusste, dass er die Protokolle sozusagen in Sylvias Bett abholte. Dorle duldete zwar ein Zwischen-Tür-und-Angel-Verhältnis, eine Kurzbeziehung nach Dienstschluss, und Wolf musste dann Dorle auch seine unbefriedigte Beteiligung, sein zweckdienliches Verhältnis erläutern, seine „ebenso komischen wie quälenden Geschlechtsdienste, deren Hauptcharakteristikum ihre Kurzgefaßtheit war.“ Aber wie viel Unvereinbarkeit erträgt man? Das wurde Wolfs Problem: „Wie sehr darf man, was man denkt, dem, was man tut, widersprechen?“
Dorle wollte ein Kind, auch Wolf wollte es. Nur noch ein Auftrag war abzuwickeln, dann wollte er in einem Treff mit DDR-Nachrichtendienstleuten in Südfrankreich die Arbeit aufkündigen. Doch die wollten ihn nicht entlassen und wollten ihm auch seinen privaten Wunsch nach Leben in einer Familie nicht abnehmen. Wolf spürte den Konflikt immer brennender. Er begann sich selbst abzulehnen, sich und sein dauerndes Weder-Noch. In seiner Seelenerschütterung wusste er nicht mehr: war er illegal oder schon illegitim. Er entschied sich, seinen Dienst aufzugeben, er wollte sich stellen, Dorle gab ihm den Rat, „das Land, in dem er lieber vor Gericht geht, muß man vorziehen“.
Wolf entschied sich, er stellte sich einem Gericht der Bundesrepublik. Er erlebte einen eitlen Anwalt, eine ihn verfolgende Staatsanwältin und einen Gerichtsvorsitzenden, von dem er sich zunächst verstanden fühlte. Im Urteil aber demonstrierte dieser dem Angeklagten, wie politisch unvernünftig sein Handlungsentwurf ist, die Vorstellung halbierter Menschen sei der reine Wahn.
Die Novelle Dorle und Wolf, die in einem einzigen Kreis nur einen einzigen Konflikt zeigt, zerbröselt die Vorstellung, ein einzelner könne, wie York in Tauroggen, in den Gang der Geschichte eingreifen. Die Novelle aber zeigt auch, was Rettung bedeutet, der Wunsch einer unendlichen Annäherung an den anderen Menschen – als schönsten Liebes- und Lebenssinn.
Für Wolf alias York sind die Menschen der Bundesrepublik halbiert. „Sie wissen nicht, was ihnen fehlt. Und keiner würde sagen, ihm fehle seine Leipziger Hälfte, sein Dresdner Teil, seine mecklenburgische Erstreckung.“ Martin Walser fehlte anscheinend seine ostdeutsche Hälfte. Und als hätte er es beim Schreiben geahnt, sollten sich zwei Jahre nach Erscheinen dieser Novelle beide deutschen Hälften einen.