Heinar Kipphardt: März

Es war im Jahr 1975, da gab es im Fernsehen (ZDF) den Film „Leben des schizophrenen Dichters Alexander M.“, der mich sehr beeindruckte. In der Titelrolle spielte Ernst Jacobi. Das Drehbuch zu diesem Film schrieb Heinar Kipphardt, der zuvor durch sein zeitkritisches Schauspiel In der Sache J. Robert Oppenheimer größere Bekanntheit erlangte. Ein Jahr später, 1976, legte er das gleiche Thema als seinen ersten Roman, unter dem Titel „März“ vor. Kurz danach schrieb Kipphardt eine Hörspielfassung unter dem Titel „März – ein Künstlerleben“ für den Bayerischen Rundfunk, in welcher Ulrich Gerhardt 1977 Regie führte. Erst am 16. Oktober 1980 kam es im Düsseldorfer Schauspielhaus zur Uraufführung des Theaterstücks unter dem Titel „März, ein Künstlerleben“.

Heinrich „Heinar“ Mauritius Kipphardt (* 8. März 1922; † 18. November 1982 in München) war ein deutscher Schriftsteller und bedeutender Vertreter des Dokumentartheaters.

Die Geschichte des unglücklichen Anti-Helden Alexander März ist für Kipphardt eine Abrechnung mit der Psychiatrie. Kipphardt hatte Medizin studiert und arbeitete u.a. an der psychiatrischen Klinik Düsseldorf-Grafenberg. Für ihn ist Schizophrenie, sind psychotische Krankheiten letzten Endes sozial verursacht: Sehr sensible Menschen zerbrechen an dem, was Familie und Gesellschaft ihnen antun. So auch der schizophrene Dichter März, der sich vor den Augen seines Arztes in Brand steckt, weil er sich in dieser Welt nicht mehr zurechtfinden kann. Als Grundlage für ‚März‘ diente authentisches Material.

Im Roman, den ich mir 1976 kaufte und las, heißt es u.a.:

„Die Psychiartrie ist die Heilige Inquisition der seelischen Gesundheit.“ (S. 19 – AutorenEdition Bertelsmann Verlagsgruppe – 1976)

Kofler. Notizen. Der eingelieferte Patient, der das Etikett schizophren bekommen hat, hat ohne sein Wissen eine Rolle übernommen und startet zu seiner Karriere. Von der Einlieferung an wird er ohne Unterbrechung degradiert und er verliert Stück für Stück seine Entscheidungsfreiheit und alle bürgerlichen Freiheiten. Es wird ihm bestritten, ein Mensch zu sein … (S. 20)

In kleinen Mosaiksteinchen erfahren wir vieles aus dem Leben des Patienten März, der seit Jahren in einer psychiatrischen Klinik lebt. Aus Aufzeichnungen des Patienten, seinen Gedichten, den Berichten Dritter, Gesprächen und Beobachtungen des Arztes Kofler setzt sich das Bild eines hoch sensiblen Menschen zusammen, der die »Normalität« der Gesellschaft radikal in Frage stellt. März verweigert sich dem herrschenden Leistungs- und Konkurrenzprinzip. Ausgangspunkt seiner Erkrankung ist die Kindheit: März war mit einer Gaumenspalte (Hasenscharte), auf die Welt gekommen, für die sich die beide Elternteile sehr schämten. Während die Mutter mit übertriebener Liebe ihren Sohn zu umsorgen meinte, versuchte es der Vater mit Strenge. Es herrschte so ein andauernden Konflikt im Elternhaus, der das Kind mehr und mehr in eine Außenseiterrolle drängte.

Durch März lernen wir eine ‚andere’ Sichtweise des Lebens kennen, die uns zunächst ‚krank’, wenn auch auf besondere Weise faszinierend erscheint. Zunehmend beginnt der Leser dann, diese Sichtweise zu verstehen und das ‚normale’ Leben kritisch zu beäugen:

Es wundert mich […] immer, wenn bei den ganzen vielen Teilen etwas zueinander paßt, zum Beispiel die Tasse auf dem Tisch da zu dem beschriebenen Zettel. Wieso passen die zueinander? … Vielleicht passen die meisten Teile nur zueinander, weil es gefährlich ist, nicht zueinander zu passen. Da paßt man schon lieber. Aber in Wirklichkeit paßt zueinander rein gar nichts. (S. 19)

Was ‚passt’ also wirklich im Leben zusammen? Sind wir alle nicht zu kleinen Rädchen geformt, die die Normalität am Leben erhalten? Dann vielleicht doch »lieber verrückt als ein Rädchen.«

In der „Allegorie der Höhle“ beschreibt Plato das Leben des angepassten Menschen wie angekettet an der Wand einer unterirdischen Höhle. Die Schatten welche sie auf der Wand sehen, halten sie für die Wirklichkeit. Es gibt Leute welche sich befreien von ihren Ketten, weil sie das Leben als angekettet als unerträglich erfahren. Es ist die Aufgabe der angeketteten Psychiater, die sich dessen nicht bewusst sind, diejenigen die versuchen sich zu befreien, wieder anzupassen und aufs Neue zu fesseln. Und wenn dass nicht gelingt, werden sie verbannt in einen entlegenen Winkel der Höhle, wo sie miteinander festgehalten werden, um das wahnsinnige Spiel der „Normalen“ nicht zu stören. Das nennen wir nun psychiatrische Anstalten.

aus: „Eine narratologische Analyse von Kipphardt’s März“ von Dimitri Vanlessen

Über WilliZ

Wurde geboren (in Berlin-Schöneberg), lebt (nach einem Abstecher nach Pforzheim, längere Zeit in Bremen und Hamburg) in dem Örtchen Tostedt am Rande der Lüneburger Heide - und interessiert sich für Literatur, Musik, Film und Fotografie (sowohl passiv wie aktiv) ... Ach, und gern verreise ich auch!

3 Gedanken zu „Heinar Kipphardt: März

  1. Hallo Willi,

    auch mich, als heranwachsenden jungen Mann, hat der Film stark beindruckt. Es war, als hätte jemand „die unterste Dose aus dem Dosenstapel gezogen“, worauf das Gebäude der erlernten Bedeutungen zusammenbrach.
    Die Zeit danach war hart aber es war das Beste, was mir passieren konnte, war ich doch der „Hölle“ entkommen und konnte nun selber denken, fühlen und mein Leben gestalten.
    Danke für deinen Beitrag.
    Es gibt noch einen Menschen, den der Film beeindruckt hat.

    Gruß Dirk

    1. Einige Monate später entdecke ich obigen kleinen Dialog. Ich würde mir gerne die Verfilmung „Leben des schizophrenen Dichters Alexander M.“noch einmal ansehen, aber meine Bemühungen an eine Kopie (z.B. VHS Kassette) des Film zu kommen, sind bisher im Sand verlaufen. Hätten Sie eine Idee?
      Stefan

    2. Ja, Dirk, dem kann ich mich nur anschließen. Wir sollten uns mal an die ARD wenden, da es mal wieder Zeit wär den Film öffentlich zu zeigen. Ich hatte ihn 1975 im Alter von 17 Jahren gesehen, im Jahr drauf meinen Zivildienst in eben jener psychiatrischen Klinik in Düsseldorf-Grafenberg begonnen, in der Kipphardt einst als Psychiater tätig war. Nach dieser Erfahrung war mein Blick auf die Welt eine völlig andere.
      Thomas Giese

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