Die Spitze des Eisbergs

Aus Erklärungsnot waren die norwegischen Sicherheitsbehörden am Freitag zunächst davon überzeugt, dass Islamisten hinter dem Anschlag auf das Regierungsgebäude in Oslo, in dem sich das Büro des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Jens Stoltenberg befindet, stecken: al-Qaida bzw. islamische Fundamentalisten. Der Terrorismus-Experte des ZDF, Elmar Theveßen, beleuchtete auch gleich den Hintergrund: Norwegen und sein Öl. Da wusste man noch nicht viel von dem eigentlichen Verbrechen, bei dem fast 90 Jugendliche auf der Ferieninsel Utøya unweit von Olso sterben sollten. In Medienberichten war zunächst von fünf Verletzten bei einer Schießerei die Rede.


Utøya

Gegen 17 Uhr am Freitag, gut anderthalb Stunden nachdem die Autobombe in Oslo explodiert war, erreicht ein Mann in Polizeiuniform mit einem kleinen Boot die Insel Utøya. Er trägt sichtbar zwei Waffen, was in Norwegen ungewöhnlich ist. Zunächst erklärt er, er sei zum Schutze der Jugendlichen gekommen, plötzlich beginnt er dann aber zu schießen. Mehrere Jugendliche rufen eine Notrufnummer an. Dort wird ihnen jedoch erklärt, sie sollten die Leitung nicht blockieren, falls ihr Anruf nicht mit dem Anschlag in Oslo zu tun habe. Um 17 Uhr 38 bricht endlich eine Sondereinheit der Polizei von Oslo nach Utøya auf. Die Einsatzleitung entscheidet, über Land zu fahren, da ein Hubschrauber offenbar nicht unmittelbar einsatzbereit ist. 17.52 Uhr: Ein Patrouille kommt zum Tyrifjord. Ein geeignetes Boot zur Überfahrt auf die kaum einen Kilometer entfernte Insel muss erst geordert werden. 18.09 Uhr: Die Antiterror-Einheit „Delta“ aus Oslo trifft am Fjordufer ein. 18.25 Uhr: Die Polizei erreicht die Insel. (Quelle: zdf.de – Chronologie eines Massakers)

Um 18.27 Uhr wird der 32-jährige Täter gestellt. Der Mann ergibt sich und wird festgenommen. Es handelt sich um Anders Behring Breivik, der später auch den Anschlag in Oslo gesteht. Er möchte als konservativer Christ gesehen werden und gibt sich als Tempelritter aus, der in einem 1.516 Seiten starken Pamphlet in wirren Thesen, das er rund eine Stunde vor dem ersten Attentat an zahlreiche Freunde gemailt hat, schreibt, er habe Europa retten wollen. „Die Zeit für Dialog ist vorbei. Wir haben dem Frieden eine Chance gegeben. Jetzt ist die Zeit für bewaffneten Widerstand gekommen“, schreibt Breivik unter englischem Pseudonym in seinem Manifest. „2083. Eine europäische Unabhängigkeitserklärung“ – hat er das Manuskript genannt. Er will Europa vor dem Islam und dem „Kulturmarxismus“ retten. Sein Kampf gilt dem Multikulturalismus, also den politischen Kräften und ihren Anhängern, die eine multikulturelle Gesellschaft propagieren.

Was für ein Mensch ist dieser Massenmörder, der fast 100 Menschen auf dem Gewissen hat? Ich kann nur mutmaßen, gehe aber davon aus, dass er an einem psychischen Defekt leidet. Er hat sich in einen Wahn hineingesteigert und lebt in einer anderen Wirklichkeit als die unsere. Sein ganzes Tun und Trachten der letzten neun Jahre, so lange hat er diese Anschläge vorbereitet, war auf diesen einen Tag ausgerichtet. Aber wir konnte es dazu kommen, dass er sich z.B. die Rolle eines Tempelritters zu eigen machte? Allein die Faszination für ein Computerrollenspiel wie „World of Warcroft“ kann es nicht sein. Stand er unter dem Einfluss rechtsgerichteter Zirkel?

Es ist noch nicht allzu lange her, da haben konservative Politikerkreise in Deutschland, die multikulturelle Gesellschaft in Deutschland für gescheitert erklärt (siehe meinen Beitrag: Multikulturelle Gesellschaft und Leitkultur). Und ich erinnere an das Buch „Deutschland schafft sich ab“ eines Herrn Sarrazin, immerhin SPD-Mann. Hier wurde die Saat gesät, die jetzt in Norwegen ihre unheilvollen Früchte trägt. Anders Behring Breivik ist nur die Spitze eines Eisberges, einer Szene, „die in den Krisen und Kriegen dieser Welt den großen Endkampf der Religionen – die Schlacht von Armageddon – wiederzuerkennen glaubt; die den Islam als das Böse und jeden Muslim als Feind ansieht. Und die jeden Europäer, der für Toleranz und Offenheit zwischen den Religionen, den ethnischen Gruppen und gegenüber Zuwanderern eintritt, zum Verräter stempelt, der in der großen Schlacht sterben muss. Die Anhänger dieser Theorien lesen Bücher, in denen der Generalsekretär der Vereinten Nationen der Antichrist ist, spielen christliche Ballerspiele, trainieren ihre Kinder für den Kampf und vernetzen sich quer durch Europa und die USA.“ Das sind nicht meine Worte, so schreibt Elmar Theveßen im ZDF Kennzeichen Digital – das Blog.

Natürlich erklärt sich hiermit dieser Blutrausch in Norwegen nur zum Teil. Es muss wahrscheinlich dem Täter vor Jahren etwas innerlich zu tiefst verletzt haben. Zusammen aber entwickelte sich aus diesen Einflüsterungen, dem ‚Spiel’ mit Rollen und weiteren bisher unbekannten Komponenten, über die man heute nur spekulieren kann, dieser explosive Cocktail. Zuvor hatte sich der Täter im Internet in Szene gesetzt. Dem nicht genug, will er seine Motive nun vor dem Haftrichter darlegen. Dafür wünsche er Öffentlichkeit, um diesen Auftritt zu Propagandazwecken zu nutzen. Anders Behring Breivik äußerte außerdem den Wunsch, „in Uniform“ vor dem Richter erscheinen zu dürfen.

Über WilliZ

Wurde geboren (in Berlin-Schöneberg), lebt (nach einem Abstecher nach Pforzheim, längere Zeit in Bremen und Hamburg) in dem Örtchen Tostedt am Rande der Lüneburger Heide - und interessiert sich für Literatur, Musik, Film und Fotografie (sowohl passiv wie aktiv) ... Ach, und gern verreise ich auch!

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