Neben den vielen Märchen, die uns in mündlicher Überlieferung vorliegen und z.B. von den Gebrüdern Grimm gesammelt wurden (Grimmsche Volksmärchensammlung „Kinder- und Hausmärchen“), gibt es die so genannten Kunstmärchen, also die von Schriftstellern verfassten. In Deutschland hat z.B. Wilhelm Hauff Märchen geschrieben, aber auch von Hermann Hesse gibt eine größere Anzahl. Die wohl bekanntesten Kunstmärchen sind die des Dänen Hans Christian Andersen, der weit über 100 solcher Märchen zu Papier gebracht hat. Wer kennt sie nicht: „Das hässliche Entlein“, „Die kleine Meerjungfrau“, „Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern“ oder „Des Kaisers neue Kleider“. Andersens Märchen sind nicht nur zeitlos; sie gehören mittlerweile zur Weltliteratur und sind nicht nur für Kinder geeignet.
Vor vielen Jahren lebte ein Kaiser, der so ungeheuer viel auf neue Kleider hielt, daß er all sein Geld dafür ausgab, um recht geputzt zu sein. Er kümmerte sich nicht um seine Soldaten, kümmerte sich nicht um das Theater und liebte es nur, spazieren zu fahren, um seine neuen Kleider zu zeigen. Er hatte einen Rock für jede Stunde des Tages, und eben so, wie man von einem Könige sagt, er ist im Rathe, sagte man hier immer: »Der Kaiser ist in der Garderobe!«
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»Aber er hat ja nichts an!« sagte endlich ein kleines Kind. »Herr Gott, hört des Unschuldigen Stimme!« sagte der Vater; und der Eine zischelte dem Andern zu, was das Kind gesagt hatte.
»Aber er hat ja nichts an!« rief zuletzt das ganze Volk. Das ergriff den Kaiser, denn es schien ihm, als hatten sie Recht; aber er dachte bei sich: »Nun muß ich die Procession aushalten.« Und die Kammerherren gingen noch straffer und trugen die Schleppe, die gar nicht da war.
Hans Christian Andersen: Sämmtliche Märchen. Einzige vollständige vom Verfasser besorgte Ausgabe