Abenteuer Ulysses von James Joyce (12): 11. Kapitel – Sirenen [Odyssee]

Heute nun das 11. Kapitel (von 18 – wobei ich gerade 40 % des gesamten Romans ‚geschafft‘ habe) des Ulysses von James Joyce.

Inhalt des 11. Kapitels:

Szene Konzerthalle des Hotels Ormond • Uhrzeit 16 Uhr

Wen der Gesang der Sirenen an ihre Gestade lockt, dessen Schiff zerschellt. Odysseus kann ihnen nur am Mast festgebunden widerstehen, während er seinen Gefährten die Ohren verstopft. Als Prolog montiert Joyce einen klangpoetisch verdichteten Text aus den Sätzen, Motiven und Geräuschwörtern des Kapitels. Die Sirenen selbst personifizieren die Bardamen Miss Kennedy und Miss Douce des Ormond Hotels. Bloom sieht zufälligerweise zum dritten Mal auf der Straße Boylan, dem er in die Hotelbar folgt. Boylan ist eigentlich auf 16 Uhr mit Molly verabredet. Er und Lenehan lassen sich aber auf einen Flirt mit den beiden Damen ein und können Miss Douce sogar überreden, ihr Strumpfband gegen die Schenkel klatschen zu lassen. Boylan hat es beim Blick auf die Uhr eilig und geht – zu Molly. Bloom weiß das, bleibt zurück, sitzt neben Richie Goulding, dem Onkel Stephens, und schreibt Martha Clifford einen Brief, bevor er die Bar verlässt. Musik ist die Kunst dieses Kapitels. Von und über Musik wird geredet und erzählt, aber hier spielt auch Pater Cowley Klavier, Simon Dedalus singt virtuos die Arie „M’appari“ aus Flotows „Martha“ und Ben Dollard den irische Traditional „The Croppy Boy“. Die Lieder handeln von unglücklicher Liebe und einem von den Briten erhängten Bauernjungen.

Bloom speist mit Stephens Onkel Richie Goulding im Ormond-Hotel, während Blazes Boylan, der gerade auf dem Weg zu Molly ist, vorbeigeht. Blooms Gedanken sind von seiner Eifersucht geprägt, weshalb er seine Umwelt und auch die Reize der Bardamen Miss Douce und Miss Kennedys nur bedingt wahrnimmt.

In diesem Kapitel steht die Musik im Vorder- und Hintergrund: In der Bar wird gesungen, die Herren verlangen von den Bardamen, sie mögen „sonner la cloche“ – „die Glocke ertönen lassen“ – eine der Damen tut ihnen den Gefallen und lässt ihren Strumpfhalter auf den Oberschenkel schnalzen. Die Figuren sprechen über musikalische Themen – der Tratsch über Molly bezieht sich hier vornehmlich auf ihre Tätigkeit als Sängerin –, Lied- und Melodiefetzen scheinen in ihrem Bewusstsein auf. Die Struktur des Kapitels ist musikalisch geformt: So kann man die ersten Seiten als Ouvertüre bezeichnen, denn hier werden eine Reihe von – dem Leser zunächst unverständlichen – Sätzen exponiert, die erst im weiteren Verlauf ausgeführt werden und somit ihren Sinn im Handlungsgefüge erhalten, dann wiederholt und variiert werden. Der erste „Satz“ lautet zum Beispiel „Bronze bei Gold hörte die Hufeisen, stahlklingend.“ Zwei Seiten später wird er sinnhaft erweitert: „Bronze bei Gold, Miss Douces Kopf neben Miss Kennedys Kopf über der Kreuzblende der Ormond-Bar, hörte die vizeköniglichen Hufe vorüberklappern, klingenden Stahl.“ – was gegen Ende bruchstückhaft wieder aufgegriffen wird: „Nah Bronze von nah, nah Gold von fern“.

Die Sprache selbst ist rhythmisch. Teilweise imitiert sie den Rhythmus bestimmter Lieder. Dies ist als weiterer Versuch Blooms, den Gedanken an Mollys Ehebruch durch Erinnern oder Summen bestimmter Melodien zu verdrängen, interpretierbar. Dabei verwendet Joyce nicht nur musikalische Fachbegriffe („Eine Duodene von Vögeltönen zwitscherte hell diskantene Antwort“), sondern setzt auch musikalische Zeichen ein, wie das Wiederholungszeichen „:“, das auf Blooms kreisende Gedanken hinweist. Verschiedene Geräusche werden lautmalerisch dargestellt („Tapp. Tapp. Ein Jüngling, blind, mit tappendem Stock, kam tapptapptappend an Dalys Fenster vorbei“).

Die Personen und ihr Handeln werden vom Erzähler mit Begriffen und zahlreichen Zitaten aus musikalischen Werken beschrieben, wobei das Spektrum (meist irische) Volkslieder bis große Bühnenwerke wie Mozarts Don Giovanni umfasst. Unter anderem werden Meyerbeer, Händel, Mozart, Verdi, Offenbach, Donizetti und Bellini zitiert. Insgesamt sind Anspielungen auf über 150 musikalische Werke entdeckt worden.

Die titelgebenden Sirenen werden durch die Bardamen (hinter einem „Thekenriff“) repräsentiert, deren Verführungskünsten Bloom wie seinerzeit Odysseus ohne Gefahr gegenübertreten kann.

Die Erzählstruktur des Textes nutzt musikalische Techniken wie Fuge und Kanon, mit denen Joyce Handlung und Figuren in Szene setzt.
(Quellen: swr.de/swr2/hoerspiel & de.wikipedia.org)

Oh, oh, die Jungs von Kilkenny ... (Kapitel 3 – S. 63)
Oh, oh, die Jungs von Kilkenny … (Kapitel 3 – S. 63)
James Joyce: Ulysses (in dt. Übersetzung von Hans Wollschläger) / Penelope (The Last Chapter of ) / Flasche Kilkenny – Irish Red Ale / Fritz Janschka: Ulysses-Alphabet mit signierter Originalgraphik: Harenbergs Joyce

Personen des 11. Kapitels

Leopold Bloom, die Hauptfigur dieses Romans, tritt also wieder auf. Bloom ist der „moderner Held“ und als Kontrast zu dem homerischen Helden Odysseus zu verstehen. Er hat die Rolle eines Außenseiters, die sich vor allem darin spiegelt, dass er als Jude im katholischen Dublin lebt und dort einem antisemitischen Klima ausgeliefert ist.

Da sind die beiden Damen: ‚Bronze‘ Lydia Douce. bronzehaarige Bardame im Ormond Hotel, auf Boylan scharf, schamlos: Parallele zur Sirene, die sich ins Meer warf, nachdem der Versuch scheiterte, Odysseus zu betören – und ‚Gold‘ Mina Kennedy, die Goldhaarige.

Boylan, Hugh „Blazes“ Boylan kennen wir bereits als Freier um Molly/Penelope und Antagonisten von Bloom/Ulysses. Er ist Tournee-Manager und Sänger, sexueller Eroberer, Molly stört seine gefühllose Brutalität.

Matt Lenehan: Witzeklopper, unsymphatisch, einfältig, nervig, aufdringlich, wird meist ignoriert

Bloom trifft sich mit Richie Goulding, Stephen Dedalus‘ Onkel, Bruder von Stephens Mutter Mary, Rechtsanwalt, klägliche Figur, will für Bloom ein Auge auf Boylan haben, täglich Pillen gegen Rückenschmerzen, infolge alkoholischer Exzesse in der Jugend.

Musikalisch begegnen wir klavierspielend Pater Bob Cowley, einem korrupter Priester – Simon Dedalus, dem Vater von Stephen, Dilly, Maggy und Boody; einst erfolgreich, dann abgestürzter
Alkoholiker, angesehener Lebemann, gesellig, in Selbstmitleid und Trauer um seine gestorbene Frau Mary, vertrinkt alles Geld und lässt seine Töchter hungern, schimpft über Stephens Lebensstil als Künstler – sowie Benjamin „Big Ben“ Dollard, Bass-Bariton, Molly glaubt, seine tolle Stimme verdanke er seiner Körpergröße.

Anmerkungen zu diesem 11. Kapitel

Auch zu diesem Kapitel hier einige Anmerkungen und Erklärungen, die vielleicht helfen, mehr Verständnis für den Text zu erlangen. Natürlich bin ich mir nicht sicher, immer ‚das Richtige‘ gefunden zu haben. Für Korrekturen und weitere Anregungen bin ich dankbar:

S. 355: Idolores [Kofferwort]
‚Die hellen Sterne blassen … Bricht der Morgen an.‘ [Liedertext von John L. Hatton]
Sonnez [läuten]
La Cloche! [die Glocken]
Bloo. [wie im Original]
S. 356: Kock [Paul de Kock, frz. Romanschriftsteller]
Naminedamine. Alles dahin. Alle gefallen. [Text aus ‚The Croppy Boy‘, einer melodramatischen Ballade aus den 1840er Jahren über den Aufstand von 1798]
Pwii! …wii. [im Original: Pwee … wee.]
Lid Ker Cow De und Doll [wie im Original … and …]
S. 357: eau de Nil [Wasser des Nils = blasses Grün]
Blooder [im O. Bloowho – zu Bloom]
S. 358: beau [Schönling]
S. 359: Borax [Mineral, borsaures Natron]
Valet [Tschüss]
S. 360: Bloodessen [im O. Bloowhose]
Aaron Figatner [wohl jüdischer Juwelier]
S. 362: Cantrell & Cochrane [Ginger Ale]
S. 363: Solmisationsfabel [Art Noten im Mittelalter]
S. 364: en ville [in der Stadt]
Sur mer [auf See]
S 365: Koinzidenz [Zusammenfallen zweier Ereignisse]
S. 365 f.: Bloo läch mach ra. Chmittag. [im O. Bloo smi qui go. Ternoon]
S. 366: Duodene [12-Töne-Gruppe]
S. 367: Streck [Dehnung]
S. 368: … Goulding, Collis, Ward … [Rechtsanwaltspraxis – ironische Auflistung]
S. 370: Hat man ‘n Ständer gekriegt oder was? [im O. Gott he horn or what!]
Hitzerefraktor [eigentlich: Fernglas]
S. 371: Collard-Flügel [eigentlich: ‚Collard & Collard‘ – zwei Brüder]
S. 373: Drumcondra [Stadtteil von Dublin]
S. 374: Trommelfell … Häutchen [im O. tympanum … membrane]
Amoroso ma non troppo [verliebt, aber nicht zu sehr – ]
S. 375: Ben Howth [Ben of h. – hügeliges Gebiet bei Dublin]
S. 376: M’appari tutt’amor: Il mio sguardo l’incontr… [Sie erschien mir, reinste Liebe, ich entdeckte mit meinen Augendiesen Anblick der Freude]
Sonnambula [Oper von Bellini: Die Nachtwanderin]
Joe Maas [engl. Tenor, verstorben 1886]
S. 377: M’Guckin [Barton M’G., irischer Tenor, verstorben 1913]
Vartry-Wasser [Wasserreservoir südl. von Dublin]
Banshee [‚Frau aus den Hügeln‘, irisch = weiblicher Geist aus der Anderswelt]
Eine Tross [im O. thrush, Soor = Hefepilz]
S. 379: Hackbrett [im O. dulcimer – Musikinstrument]
Schockweise [60 Stück]
Da kann einen glatt ja. [im O. My head it simply (whirls) – Mein Kopf dreht sich einfach]
Glatt ja der Schwündel. [im O. your head it simple swurls (statt: swirls)]
S. 380: Cachous [mildes Kräuterbonbon mit Lakritzstückchen]
Ausgeleiert [im O. wore out]
Jenny-Lind-Suppe [nach Sängerin benannt, nachfolgend die Zutaten]
Martha [Geleibte Blooms, s. S. 101]
Lionels Lied [‚The Troppy Boy‘, irische Ballade, s.o., Liebe zwischen Martha und Lionel]
Ga [im O. pres]
S. 381: Siedolores [im O. Shedolores – she im Gegensatz zu I (sie … ich)]
S. 382: Irradiation [optische Täuschung]
Siopold! (Kofferwort: Simon – Leopold]
Theobald Matthew [irischer kath. Geistlicher -> Alkoholabstinenz]
Ihr welligwalligwilligwelwelwellig Haar ent k: ‘mmt. [im O. Her wavyavyeavyheavyeavyevyevy hair un comb:’d.]
S. 386: Fawcett [u.U. brit. Forschungsreisender, verschollen]
Freeman-Stab [Tageszeitung Dublins – Taktstock = im O. baton] -> Blooms zusammengerollte Zeitung
E’s griechisch [Epsilon (Majuskel Ε, Minuskel ε oder ϵ)]
Bloo mur [wie im O.: zu murmur = murmelt]
S. 387: Agendath [zionistische Pflanzergesellschaft]
S. 388: Henry [gemeint ist Bloom, s.S. 101]
Titbit [brit. Wochenmagazin]
Matcham [Matchum’s masterstroke (Geniestreich) – preisgekrönter Artikel in ‚Titbit‘ von Philip Beaufoy]
U.p.: up. [Postkarte an Josie Breen: UP -> soll bedeuten: Ihr Mann Dennis ist am Ende (psychische Erkrankung)]
Gerards Rosengarten [Pub]
S. 389: Pat. [Name der Bedienung]
mitraisiert [engl. mitred = auf Gehrung (schräger Zuschnitt) geschnitten]
S. 390: Yaschmak [Schleier]
Diskant [u.a. rechte Hälfte der Klaviatur]
S. 391: in quis est homo [Wer ist der Mann/Mensch]
Mercadente [it. Komponist]
Qui sdegno [… non s’accende = etwa: Hier leuchtet Verachtung nicht auf – Gesangsstück]
The Croppy Boy [1840 – Ballade über die Rebellion von 1798 gegen England]
S. 392: Falliert [in Konkurs gehen]
Der Priester war daheim … [Text aus ‚The Croppy Boy‘]
S. 393: … Jüngling hatt‘ eine einsame Halle … [Text aus ‚The Croppy Boy‘]
Seine Sünden … [Text aus ‚The Croppy Boy‘]
S. 394: Spinoza [niederl. Philosoph -> Ethik]
Beim Sturm auf Ross … [Text aus ‚The Croppy Boy‘]
S. 395: Von Schnuckiputzis allerliebstem Katerchen [im O. From Chickabiddy’s own Mumpsypum]
S. 396: apoplektisch [zu Schlaganfall neigend]
Mit heiser roher Wut … [Text aus ‚The Croppy Boy‘]
An den glatten vorstehenden Bierzapfhahn … [hier wird’s pornografisch … 😊]
S. 398: Lablache [it. Opernsänger/Bass]
Cachuchate [zu span. Solotanz]
S. 399: Die letzte Sommerrose [trad. Irisches Lied]
Demisemitriller [halb-halb – (in der Nähe von …)]
S. 400: Die Herren Beutel und Schneider [im O. Messrs. Pick and Pocket]
S. 401: da capo [‚vom Beginn‘ – Wiederholung]
S. 402: Stista. Siesah. [im o: Heehaw. Shesaw.]
Unschlitt [Talg]

In deutscher Sprache gibt es zwei Übersetzungen, zunächst die vom Verfasser, also James Joyce, autorisierte Übersetzung von Georg Goyert (1927) – dann die 1975 erschienene Neuübersetzung von Hans Wollschläger, auf die ich mich hier beziehe (ich habe die einmalige Sonderausgabe aus dem Jahr 1979 – 1. Auflage – Suhrkamp Verlag)

siehe auch: Abenteuer Ulysses von James Joyce (01): Vorgeplänkel
Abenteuer Ulysses von James Joyce (02): 1. Kapitel – Telemachos [Telemachie]
Abenteuer Ulysses von James Joyce (03): 2. Kapitel – Nestor [Telemachie]
Abenteuer Ulysses von James Joyce (04): 3. Kapitel – Proteus [Telemachie]
Abenteuer Ulysses von James Joyce (05): 4. Kapitel – Kalypso [Odyssee]
Abenteuer Ulysses von James Joyce (06): 5. Kapitel – Lotophagen [Odyssee]
Abenteuer Ulysses von James Joyce (07): 6. Kapitel – Hades [Odyssee]
Abenteuer Ulysses von James Joyce (08): 7. Kapitel – Äolus [Odyssee]
Abenteuer Ulysses von James Joyce (09): 8. Kapitel – Lästrygonen [Odyssee]
Abenteuer Ulysses von James Joyce (10): 9. Kapitel – Scylla & Charybdis [Odyssee]
Abenteuer Ulysses von James Joyce (11): 10. Kapitel – Symplegaden (Irrfelsen) [Odyssee]

Über WilliZ

Wurde geboren (in Berlin-Schöneberg), lebt (nach einem Abstecher nach Pforzheim, längere Zeit in Bremen und Hamburg) in dem Örtchen Tostedt am Rande der Lüneburger Heide - und interessiert sich für Literatur, Musik, Film und Fotografie (sowohl passiv wie aktiv) ... Ach, und gern verreise ich auch!

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