- … wenn wir endlich … die nicht gelingen könnende Liebe feiern …
(Martin Walser: Die Inszenierung S. 128)
Augustus Baum, ein berühmter Theaterregisseur, liegt nach einem leichten Schlaganfall im Krankenhaus. Herausgerissen aus der Inszenierung der Möwe von Anton Tschechow, inszeniert er weiter, vom Krankenzimmer aus. Nicht nur das Stück, sondern auch sich selbst. Die Nachtschwester Ute-Marie, seine Frau Dr. Gerda und er sind die Personen, die er so handeln lässt, dass ein Roman draus wird.
Es ist ein Roman, der ohne Erzähler auskommt. Die Figuren handeln durch Rede und Gegenrede, mit einander und gegen einander redend handeln sie: Sie stehen auf dem Spiel, darum müssen sie sprechen. Obwohl es in der «Inszenierung» um nichts als Liebe geht, ist, was darin verhandelt wird, etwas Unerhörtes, eine Sensation: Dr. Gerda, die Ehefrau, und Ute-Marie, die Nachtschwester, sind bei aller Lebensverschiedenheit gleich gut, gleich bedeutend, gleich zurechnungsfähig und auch gleich schön. Das gibt dem Uralt-Thema eine überraschende Aktualität.
Nicht erst seit seinem flammenden Roman «Ein liebender Mann» kreist Martin Walser um Themen wie Leidenschaft, Abhängigkeit und Wahn. «Die Inszenierung» ist ein zwischen Ironie und Tragik oszillierendes Kammerspiel über das Kunstwerk der Verheimlichung, die Ehe, und das seriöseste und zugleich lächerlichste Leiden überhaupt: die Liebe.
(aus dem Klappentext)
Martin Walser hat für seinen neuen Roman Die Inszenierung (Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1. Auflage August 2013) den Dialog, die direkte Rede gewählt. Ohne Anführungsstriche unten und oben. Die wenigen kurzen Zwischentexte lassen sich wie Regieanweisungen lesen. Eigentlich ist der Roman also ein Bühnenstück. So ist Shakespeares „All the world’s a stage“, übrigens der vorletzte Satz im Roman, schlechthin Programm. Okay, da sind noch zwei längere Briefe des alten Freundes Hans Georg, der in die USA geflüchtet ist und dort als Platon-Kenner eine Dozentenstelle angenommen hat – und die zwei kurzen Antworten von Augustus Baum, dem Helden des Romans. Hier könnte man sich auf der Bühne Stimmen aus dem Off vorstellen. Diese Briefe des Freundes sind Schlüssel zur Form, denn es geht auch um Platon, dem Philosophen der direkten Rede. Platon, das ist Philosophie auf der Bühne, Denken im Dialog, so eng hängen Philosophie und Theater zusammen.
„… das Theater …, dass es öffentlich mache, was ganz im Inneren stattfindet.“ (S. 7) heißt es im Roman – oder: „Mach nur ein Theater daraus. …“ (S. 39).
Augustus Baum war mitten in der Inszenierung zu Tschechows „Die Möwe“. So verwundert es keinen, wenn sich das, was sich nun im Krankenhaus, in dem sich Augustus Baum nach seinem leichten Schlaganfall zur Genesung aufhält, abspielt, Parallelen zu Tschechows Stück aufweist. Vom Bett aus gibt er seiner Regieassistentin Lydia Anweisungen, wie im Stück zu verfahren ist. Aber längst ist er dabei, seinen Aufenthalt in der Klinik ‚in Szene zu setzen’.
So spielt Augustus Baum, der Regisseur, die Rolle des Regisseurs und ist gleichzeitig auch Hauptdarsteller seines ‚eigenen’ Stücks. Daneben treten auf: Ute-Marie, die Nachtschwester, 29 Jahre alt und Baum durch seine geistreiche Eloquenz in Liebe verfallen, so wie er auch ihr. Baums Ehefrau Dr. Gerda, Psychologin von Beruf und seit 29 Jahren mit ihm verheiratet. Die bringt ihm jeden Morgen sein Frühstück ins Krankenhaus, weil es ohne das nicht geht. (Sie kennt ihren Augustus, dessen Lieblingszahl die Drei ist. Sein Traum: Augustus, Ute-Marie UND Gerda. Offen, ohne Betrug. Die Trinität der Liebe. Aber Gerdas neues Buch heißt „Abhängigkeit, Wahn, Wirklichkeit“, ein Kapitel: Schweigen und Verschweigen, ein anderes: Verheimlichung und Geheimhaltung) Außerdem: Lydia, Baums Assistentin und ehemalige Geliebte, und, ganz zum Schluss, Ute-Maries Verlobter, Andreas, genannt Vinze. Hier die Personen im Überblick, soweit sie selbst auftreten oder Erwähnung finden:
Augustus Baum, Theaterregisseur
Dr. Gerda Baum, geborene Schlatt
Daniel, Sohn der beiden
Ute-Marie Wiese, Krankenschwester
Andreas Vinzenz Breitenmüller, genannt Vinze, Ute-Maries Verlobter
Pfleger Robert
Professor Overath, Chefarzt
Lydia, Regieassistentin und Baums ehemalige Geliebte
Max Stallhofer, Schauspieler
Corinna, Schauspielerin
Hans Georg, Freund Baums und mittlerweile Dozent in den Vereinigten Staaten
Ursula, seine Ex-Ehefrau
Bertie, sein Ex-Liebhaber
Ähnlich wie im Stück von Tschechow geht es auch hier um die Liebe als unheilbaren Zustand. Bühnenreif wird geseufzt, es entspinnt sich ein Gesäusel und Geraune bis hin zu Baums „Immunschwäche der Seele“. Ich nenne das gern auch Liebesgesülze:
„Ich bin nicht mehr der, der ich vor dir war. Ich bin nur noch der, der ich durch dich bin. Und sein werde.“ – „Du hast mich reich gemacht. Ich bin jetzt ein Fluss, der über die Ufer tritt und Wüsten zum Blühen bringt.“ – „Vor dir war nichts. Nach dir wird nichts sein. Du bis alles, was sein kann.“ (alles auf S. 39)
Das mag peinlich klingen für den Zuhörer (oder Leser). Frau Dr. Gerda Baum, die Psychologin, sieht es eher ‚sach-, gar fachbezogen’. Fachgerecht verkürzt sie dabei den Geschlechtsverkehr auf ein Kürzel:
„Wahrscheinlich gilt Liebe als die alles erklärende und entschuldigende Ursache. Bekannt genug ist, dass GV ohne Liebe stattfinden kann. Statistisch gesehen wahrscheinlich viel häufiger ohne als mit oder durch Liebe stattfindet. Aber ebenso sicher: Liebe kann durch GV entstehen. Und noch sicherer: Was zum GV führt, ist in der Regel nicht Liebe. Liebe kann eine Folge des GV sein. Kann! Was zum GV führt, ist bekannt. Warum aber dann Liebe? Man muss jemanden, mit dem man Tennis spielt, nicht lieben. Und kann doch leidenschaftlich gern mit ihm Tennis spielen. Die Sprache, die der GV produziert, ist nicht die Sprache der Liebe. Sondern? Sondern, sagen wir einmal, die des Konsums. Also der Leistung. …“ (S. 50)
Usw. – Der Monolog endet wie folgt und wendet sich an Augustus Baum direkt:
„Auch du bis persönlich an nichts so wenig beteiligt wie am GV. Du bist beim GV nichts als der Funktionär des Geschlechts. Ich kenne die Hilfskonstruktionen, mit denen man vor sich selbst verbergen will, dass die uns am meisten beschäftigende Handlung auch die unpersönlichste ist. Das Un-Ganzsein der Individualität. Das Charisma der Agape. Oder wie Plato erzählt: Zuerst ein Doppelgesicht, dann entzweigeschnitten, dann sehnen sich die Teile zu einander, sind voller Begierde, wieder zusammenzuwachsen. Tausend solche Märchen, […] um die GV-Realität zu verklären. Die Nivellierung bis zur Unterschiedslosigkeit, die außerhalb des GVs durch alles Erdenkliche verborgen, verheimlicht, verleugnet wird. Der GV ist also ein Geschehen, dem wir unter keinen Umständen als eben unter denen des GVs entsprechen wollen und können. Die Natur will das so, die will das immer noch so. Die ganze Kultur nichts als ein Überbau, um zu verbergen, was uns das Wichtigste ist. Nämlich: keine Persönlichkeit XY zu sein, sondern ein GV-Partner, der es bringt, eine GV-Partnerin, die es bringt.“ (S. 52.)
Aber genug der wissenschaftlichen Betrachtung. Am Ende laufen Augustus Baum nicht nur die Schauspieler für die Tschechow-Inszenierung davon, sondern auch die in dem Stück, in dem Baum die Hauptrolle spielt. Schlimmer noch, die Frauen als die Vernünftigen übernehmen die Regie. In einem Monolog klagt er gegen Ute-Marie und seine Frau Gerda vor dem „Gerichtshof der Liebe. Erster und einziger Anklagepunkt: Herrschsucht.“ (S. 167)
„Die Inszenierung“ [hat] kein Happy End. Alle Paare sind verloren, die Ehen kaputt. So lässt Walser auch noch die Beziehung von Ute und Vinze scheitern. Alle sind einsam. Die Verschwörung der Vernünftigen macht keinen glücklich. Darum bleibt Augustus das letzte Wort: Badenweiler. Da, wo Tschechow gestorben ist.
Für einen Walser-Einsteiger würde ich diese kleine Büchlein nicht gerade empfehlen. Es wird viel gesprochen und nur sehr wenig gehandelt (und Tschechows Stück sollte man möglichst auch kennen). Ja, es ist eigentlich ein Bühnenstück, nur in einem Roman verpackt. Für Einsteiger eignen sich andere Walser-Romane besser. Was mich erstaunt ist, dass Walser selbst im hohen Alter immer noch etwas Neues zum alten Thema der Liebe einfällt. Sogar der Form nach. Sicherlich ist dieser Roman wie überhaupt seine letzten etwas abgehoben und dürfte in gewissen Kreisen eher Spott als Anerkennung erzeugen. Aber ich liebe diesen alten Mann vom Bodensee. Und ich freue mich, immer noch, wenn auch nur weniges Ungelesene von ihm im Bücherregal stehen zu haben.
Zum Roman siehe auch folgende aufschlussreichen und ergänzenden Rezensionen:
zeit.de: Die Immunschwäche der Seele – Das Krankenzimmer als Weltbühne: Martin Walsers Roman „Die Inszenierung“ tanzt in Dialogen um die Liebe als unheilbaren Zustand.
faz.net: Niemals schien der Graben zwischen Männern und Frauen tiefer
Siehe und höre auch: ndr.de: Martin Walser liest aus „Die Inszenierung“.