Was ist bloß mit Ian los? Teil 56: Up the Pool

Hallo Wilfried,

da bin ich wieder. Ich habe mich bewusst in letzter Zeit am heimischen PC etwas rar gemacht; in den letzten Wochen habe ich zuviel Zeit an der Kiste verbracht. Erst vor zwei Tagen habe ich eine mehrwöchige Leseblockade beenden können. Das Internet verlangt mir ein gerüttelt Maß an Selbstdisziplin ab, wenn ich darin nicht versumpfen will.

Genug von mir, wenden wir uns der Musik zu.
Die JT – Imitatoren, die ich in meiner letzten mail ansprach, waren nicht die von Dir gelinkten Dayglo Pirates. Es war eine andere Formation, deren Namen ich bei youtube nicht ausfindig machen kann. Ihre Imitation erfolgte sicher in bester Absicht, als Tribut gewissermaßen. Trotzdem bin ich mir nicht sicher, ob sie mit ihren Bemühungen der Musik des Mr. Anderson einen großen Gefallen erweisen.

Mein heutiges Hauptthema soll das Tampa-Video sein, für das ich mich noch einmal aufrichtig bedanken möchte. Ich habe es in den vergangenen Tagen einige Male angeschaut und ich möchte hier einige Dinge unsortiert und ungewichtet aufführen, die mir dabei aufgefallen sind:

Ich wusste bis dato nicht, dass Tampa ein Open-Air Konzert war. Ich bin davon ausgegangen, dass es in einer Konzerthalle stattgefunden hat.

Dass der Meister sich in meinen Augen Mitte der 70er Jahre auf dem Höhepunkt seines Könnens befand, habe ich bereits mehrfach erwähnt, aber ich werde nicht müde, dass zu betonen. Denn wenn ich sehe und höre, was er in den letzten 27 Jahren verbrochen hat, muss ich mir die 70er immer wieder vor Augen und Ohren führen.

Der Meister kommt in Tampa für seine Verhältnisse ziemlich bartlos daher. Lediglich die Koteletten sind ausgeprägt, der Rest der Gesichtsbehaarung ist nur wenige Tage alt. (Bevor Du mich fragst, ob ich meinen Bart in Anlehnung an Mr. Anderson trage: Nein).

Der Kameramann hat viele Großaufnahmen von des Meisters Gesicht aufgenommen. Dafür bin ich ihm dankbar, denn diese Bilder sind sehr aufschlussreich. Sie zeigen, wieviel Kraft, Energie und Konzentration ein Künstler aufbringen muss, um seine Show so lebendig und virtuos zu gestalten wie Mr. Anderson. Wenn ich in 17″-Größe sehe, wie ihm der Schweiß in die Augen fließt, kann ich das Brennen in den Augen fast selber spüren. Ich habe bei den Großaufnahmen das ein oder andere Standbild gemacht und es ein wenig länger betrachtet. Das Gesicht des Meisters, das beim Flötenspiel seine große Konzentration widerspiegelt, hat etwas Passionartiges. Es klingt in diesem Zusammenhang vielleicht etwas seltsam, aber ich habe in der Tat Abbildungen des leidenden Christus mit einem ähnlichen Gesichtsausdruck gesehen. Nun ja, lassen wir die Kirche im Dorf, denn da gehört sie hin. Ich gehe davon aus, dass Mr. Anderson oder andere ambitionierte Vortragskünstler sich nicht mit Christus vergleichen, aber die erwähnten Großaufnahmen machen deutlich, dass man für eine Show Anderson’scher Ausprägung sehr fit und im besten und wörtlichen Sinne leidenschaftlich sein muss. Mit dem bloßen Wunsch nach Geldverdienen ist dieser Einsatz nicht zu erklären, da gehört schon mehr zu. Die Freude an der Darbietung, der Wunsch, dem Publikum zu gefallen und dafür sein Bestes zu geben. Eine kleine Portion Wahnsinn macht die Sache bestimmt leichter. Wahnsinn in dem Sinne, dass man seine Ratio überwindet und dadurch dem Körper ermöglicht, die üblichen Grenzen zu überwinden. Ich bin kein Mediziner, aber ich denke, ein Schuss Adrenalin im Blut ist schon nötig, um sich derart zu verausgaben. Unter diesem Aspekt kann man den ambitionierten Künstler mit einem Leistungssportler oder einem Berserker vergleichen. Man hört hin und wieder von Künstlern, die auf der Bühne zu Mr. Hyde werden und im Alltag das beschauliche Leben des Dr. Jeckyll führen. Im Rampenlicht gelten andere Gesetze als im Tageslicht. So glaube ich auch nicht, dass Mr. Anderson seinem alten Kumpel Martin auf der Straße ein Küsschen aufgedrückt hätte. Das ist das Entscheidende am Berserkerwahn: Der Betroffene unterscheidet nicht zwischen Freund und Feind.

Das Nächste, das mir aufgefallen ist, ist dass der Meister in Tampa nicht auf einem Bein zu sehen ist. Das kann an der Vielzahl der Portraitaufnahmen liegen, die einen Blick auf die Beine unmöglich machen.

Was ich noch nicht einschätzen kann ist ein Grammatikfehler des Meisters in einer seiner Ansagen, den er selber korrigiert. Es geschah bei den einleitenden Worten zu Too old for Rock’n’Roll. Hier erzählte der Meister etwas von zu langen Haaren und benutzte die Vokabel „…he growed his hair too long“, was er nachher in „…grew his hair too long“ verbesserte. Da ich davon ausgehe, dass Mr. Anderson die englische Sprache sehr viel besser beherrscht als ich, muss ich davon ausgehen, dass der Fehler absichtlich eingebaut wurde. Mir ist nur noch nicht klar, was er damit bezweckte. Vom amerikanischen Englisch habe ich noch weniger Ahnung als vom britischen, aber ich bin fast sicher, dass to grow auch im Amerikanischen ein unregelmäßiges Verb ist. Du kennst den Meister länger und besser als ich; hast Du eine Idee, was hinter diesem Phänomen stecken könnte ?

Ein Indiz für die hohe Professionalität von JT ist die Tatsache, dass sie bei ihren Konzerten nicht immer die gleichen Lieder spielen.

An anderer Stelle habe ich darüber geschrieben, dass es in unserem Städtchen eine Laiengruppe gab, die sich der britischen Folklore verschrieben hatten (diese Gruppe hatte u.a. Ye Jacobites by Name im Repertoire. Hiervon habe ich die Noten. Falls Du Interesse daran haben solltest, einfach melden). Diese Gruppe spielte bei ihren (viel zu seltenen) Auftritten fast immer die selben Lieder, dazu in immer gleicher Reihenfolge. Ich habe einen der Musiker so vorsichtig wie möglich darauf angesprochen und er klärte mich darüber aus, dass das Einstudieren eines neuen Liedes sehr aufwendig sei und dass ihnen als Amateuren die Zeit dafür fehle.

Das waren die Punkte, die mir bis jetzt aufgefallen sind. Die genaue Analyse eines Auftritts ist eine interessante Tätigkeit. Vielleicht entdecke ich im Laufe der Zeit noch einige Besonderheiten. Durch die hohe Qualität des Tampa-Videos eignet es sich wunderbar, um screenshots des Meisters zu ziehen.

Quintessenz: Sollte ich jemals vergessen, warum ich JT – Fan bin, brauche ich nur das Tampa-Video einzulegen.

Soviel für heute. Vor uns liegen Palmsonntag und die Karwoche und in meinem Fall 10 arbeitsfreie Kalendertage. Das Wetter soll gut werden und ich hoffe, dass ich einige schöne Fotos schießen kann.

Für den Fall, dass wir uns nicht mehr lesen werden, wünsche ich Dir und Deinen Lieben einen wahrhaft besinnlichen Karfreitag und ein fröhliches Osterfest ! (Es juckt mir schon wieder in den Fingern, mich über religiöse Themen auszulassen, aber dafür ist es schon zu spät, mein Buch ruft).

Also, einen schönen Start in den Frühling und bis bald !
Lockwood

31.03.2007

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Hallo Lockwood,

auch ich habe die Tage vor Ostern frei und werde nicht nur vor dem Rechner hocken, das Wetter ist zu schön dazu. Und so will auch ich die Zeit dafür nutzen, einmal wieder ein Buch zur Hand zu nehmen.

Zu den Tampa-Videos und speziell zum Meister hast Du Dich ja genügend ausgelassen. Da wäre jeder Wort von mir an dieser Stelle zu viel. Schön wie Du wieder Deine Beobachtungsgabe einsetzt und uns aufzeigst, was wir ansonsten bestimmt übersehen würden. Für mich persönlich sind die Tampa-Videos mit Ian Anderson etwas überfrachtet, also zu viel und zu dicht an des Meisters Angesicht. Aber das gleicht sich durch die Hippodrom-Videos von 1977 aus, da bekommen wir auch die Mitstreiter von Anderson zu sehen.

Für den Growed-grew-Versprecher kann ich leider auch keine Erklärung finden. Ich habe einige Dictionaries durchgesucht (online wie offline), aber growed, auch nicht in anderen Schreibweisen, lässt sich nicht finden. Growl wäre vielleicht noch möglich, ergibt aber keinen Sinn.

Zum Kommentar: Der stammt aus der Laufi-Ecke. Dort pflegt man, wie es scheint, eine Art elitäres Bewusstsein von Exklusivität. Ich habe überlegt, ob ich dazu etwas antworten soll (ich mache es hier), bin dann aber zu dem Entschluss gekommen, es zu unterlassen: Es hat keinen Zweck! Mir ist dabei nur klar geworden, warum es von Laufi schon so lange keine weiteren Videos des Monats gibt: Da gibt es Pöbel wie mich, der die Videos einfach ‚ungefragt’ bei youtube.com einstellt. Wie gut, dass es diesen Pöbel gibt, denn sonst würde das ganze Tull-Material hinter elitären Mauern verborgen bleiben. Für alle, die sich für Jethro Tull interessieren, wäre das allerdings sehr schade. Statt die Plattform von youtube.com zu nutzen, tauscht man lieber im Geheimen Scheiben untereinander im kleinen Laufi-Kreis.

Ich will mich heute kurz fassen. Trotzdem möchte ich kurz auf unsere kleine Diskussion hinsichtlich des Background-Chors (z.B. bei „Songs from the Wood“) zurückkommen, der bekanntlich aus der Konserve kommt und von Ian Anderson höchst persönlich ‚eingesungen’ wurde. Ich habe da auf meinem Rechner ein kleines Video gefunden, woher ich es habe, weiß ich schon gar nicht mehr. Es ist von einer TV-Sendung des amerikanischen Senders NBC: NBC Friday Night, also eine Art Talk-Show, vom 15.11.1996. Auch immerhin schon über 10 Jahre alt. Anderson und Mannen tragen das Lied „Up The Pool“ vor, Anfang der 70-er Jahre zusammen mit „Life is a Long Song“ als Single und dann 1972 auf dem Doppelalbum „Living in the Past“ erschienen. Leider ist es nur ein RealMedia-Video in abgehakter Daumenkino-Qualität (stammt also aus Vor-DSL-Zeiten). Aber es ist im besten Sinne unplugged. Selbst Jon Noyce spielt einen akustischen Bass – und Martin Barre die Flöte. Und: Der Chor kommt nicht vom Band, alle versuchen sich darin, ihren gesanglichen Beitrag zu leisten (Martins Stimme ist dabei unüberhörbar). Das Ganze hat ohne Zweifel einen eigenartigen Charme:

Jethro Tull: Up the Pool (NBC Friday Night – 15.11.1996)

Vielen Dank für Deine Ostergrüße. Auch ich wünsche Dir und Deiner Familie schöne, geruhsame und besinnliche Ostertage. Wir lesen voneinander.

Wilfried

03.04.2007

English Translation for Ian Anderson