Gedichte sind nicht jedermanns Sache. Schon Romane, also Prosa, liegt manchem schwer im Magen. Wie anders sollte es da mit Lyrik sein. Wenn Romane in der Regel auch fassbare Handlung wiedergeben, so ist ein Gedicht … ja, was eigentlich?
Romane kann man vielleicht mit einem Film vergleichen. Nicht umsonst müht sich mancher Regisseur, einen Roman in bewegte Bilder umzusetzen. Ein Gedicht ist dagegen eher ein Standbild, eine Momentaufnahme – ganz auf die Sicht eines Dichters bezogen. Es kann ein Blick nach außen sein oder eher noch nach innen. Es gibt Empfindungen preis. Und wenn ein Gedicht in uns nicht ähnliche Gefühle weckt, dann können wir meist mit dem Gedicht nichts anfangen.
Gedichte sind eine besondere Kunstform. Es hat etwas mit Musik zu tun, denn viele Verse haben einen ganz gestimmten Rhythmus (Versfuß und Versmaß). Und da gibt es auch den Reim, der übrigens nicht immer am Ende von Zeilen stehen muss.
Aber ich verlaufe mich da geradezu. Ich will hier keine Verslehre betreiben. Geht man bei Gedichten von einem bestimmten Versmaß aus und reimen sich diese Gedichte, dann kann man sich denken, welche Schwierigkeit die Übersetzung in eine andere Sprache bereitet. Ich will nicht behaupten, dass z.B. die Sonette eines William Shakespeare nur im Original gelesen werden sollten. Es gibt wohl kaum einen Verszyklus, der öfter aus einer anderen Sprache ins Deutsche übersetzt wurde, als Shakespeares Sonette.
Einen Roman mag man ja Satz für Satz übersetzen (Wort für Wort macht natürlich keinen Sinn, das kann schon der Google Übersetzer besser). Aber ein Gedicht mit Maß und Reim?
Aber auch da verlaufe ich mich … Vor anderthalb Jahren hatte ich mich hier bereits schon einmal mit Charles Baudelaires „Les Fleurs du Mal“ befasst: „Die Blumen des Bösen“. Wenn ich heute noch einmal auf diesen Gedichtsband zurückkomme, so unter dem Aspekt der Übersetzbarkeit ins Deutsche. Denn auch Baudalaires Gedichten wurden von vielen, teilweise wirklich namhaften Schriftstellern, ins Deutsche übertragen (neben den unten Genannten u.a. auch noch Walter Benjamin, Rainer Maria Rilke und Stefan Zweig)
Hierzu habe ich ein Gedicht gewählt, Der Mensch und das Meer, das den Menschen mit dem Meer vergleicht, beide mit ‚tiefsten Gründen’ ausgestattet. Zunächst aber das Original und dann einige Beispiele der deutschen Übersetzung:
L’HOMME ET LA MER
Homme libre, toujours tu chériras la mer!
La mer est ton miroir; tu contemples ton âme
Dans le déroulement infini de sa lame,
Et ton esprit n’est pas un gouffre moins amer.
Tu te plais à plonger au sein de ton image;
Tu l’embrasses des yeux et des bras, et ton cœur
Se distrait quelquefois de sa propre rumeur
Au bruit de cette plainte indomptable et sauvage.
Vous êtes tous les deux ténébreux et discrets,
Homme, nul n’a sondé le fond de tes abîmes;
O mer, nul ne connaît tes richesses intimes,
Tant vous êtes jaloux de garder vos secrets!
Et cependant voilà des siècles innombrables
Que vous vous combattez sans pitié ni remord,
Tellement vous aimez le carnage et la mort,
O lutteurs éternels, ô frères implacables!
Der Mensch und das Meer
Du freier Mensch, du liebst das Meer voll Kraft,
Dein Spiegel ist’s. In seiner Wellen Mauer,
Die hoch sich türmt, wogt deiner Seele Schauer,
In dir und ihm der gleiche Abgrund klafft.
Du liebst es, zu versinken in dein Bild,
Mit Aug‘ und Armen willst du es umfassen,
Der eignen Seele Sturm verrinnen lassen
In seinem Klageschrei, unzähmbar wild.
Ihr beide seid von heimlich finstrer Art.
Wer taucht, o Mensch, in deine letzten Tiefen,
Wer kennt die Perlen, die verborgen schliefen,
Die Schätze, die das neidische Meer bewahrt?
Und doch bekämpft ihr euch ohn‘ Unterlass
Jahrtausende in mitleidlosem Streiten,
Denn ihr liebt Blut und Tod und Grausamkeiten,
O wilde Ringer, ewiger Bruderhass!
Original und Übersetzung von Terese Robinson, 1925
DER MENSCH UND DAS MEER
Auf immer, freier Mensch, wirst lieben du das Meer,
Dein Spiegel ist das Meer. Du schaust der Seele Bildnis
Im weiten Wellenspiel der ungeheuren Wildnis,
Gleich ihm ist deine Brust von Bitternissen schwer.
Gern schaust dein Bild du, das die Wellen dir enthüllen,
Mit Auge und mit Arm faßt du es, und dein Herz
Vergißt wie trunken oft den eignen lauten Schmerz
Bei dieses Klagesangs unzähmbar wildem Brüllen.
Schweigsam und dunkel seid ihr beide allezeit:
Mensch, noch drang keiner je in deine tiefsten Gründe,
Meer, noch fand keiner je den Reichtum deiner Schlünde,
So bergt ihr euren Hort in finstrer Heimlichkeit.
Jahrtausende hindurch rollt euer nimmermüder
Und mitleidsloser Kampf bar jeder Reue fort.
So sehr liebt beide ihr die Schlachten und den Mord,
O ewges Kämpferpaar, o nie versöhnte Brüder!
Übersetzung von Graf Wolf von Kalckreuth, 1907
Der Mensch und das Meer
Freier mensch! das meer ist dir teuer allzeit ·
Es ist dein spiegel · das meer · du kannst dich beschauen
In seiner wellen unendlichem rollendem grauen ·
In deinem geist ist ein abgrund nicht minder weit.
Gerne versenkest du dich tief in dein bild ·
Ziehst es an dich mit auge und hand – deine sinne
Halten manchmal im eigenen tosen inne
Bei dem geräusch dieser klage unzähmbar und wild.
Beide lebt ihr in finstrer und heimlicher flucht.
Mensch noch sind unerforscht deine innersten gründe!
Meer noch sind unentdeckt deine kostbarsten schlünde!
Euer geheimnis bewahrt ihr mit eifersucht.
Und seit unzähligen jahren rollet ihr weiter
Ohne mitleid ohne reuegefühl ·
So sehr liebet ihr blut und totengewühl –
Unversöhnliche brüder! ewige Streiter!