Was ist bloß mit Ian los? Teil 77: Jethro Tull auf Kreta – Teil 2

Hallo Wilfried, Hallo Lockwood!

Lendas, Kreta – 24.06.2007/25.06.2007

Nun bin ich also in Lendas angekommen, und es ist brütend heiß. Das war es schon gestern in Iraklio – 39°C nach Auskunft meines Autoverleihers, in Athen wohl sogar 42°C. Es ist kurz vor Mitternacht, ich sitze auf der Terrasse vor dem Zimmer und die Luft ist zum Schneiden – an Schlafen nicht zu denken. Aber fangen wir von vorne an.

Gestern war also der große Tag, an dem ich mein erstes Jethro Tull Konzert erleben sollte. Nach 10 Uhr war ich in Xerokambos aufgebrochen und gegen 2 Uhr kam ich in Iraklio an. Da ich, wie ich schon wiederholt erwähnt habe, immer sehr für sparsame Haushaltsführung bin, hatte ich beschlossen mein Nachtlager im Youth Hostel aufzuschlagen. Schließlich brauchte ich nur eine Schlafunterlage für die Nacht, und außerdem liegt es nicht weit von meiner Autovermietung entfernt. Nun, jetzt weiß ich auch wie diese Art der Unterbringung zu bewerten ist: Nicht zu empfehlen. Das Etablissement in Iraklio ist äußerst schlicht, nicht unbedingt sauber und kostet immerhin 10 EUR die Nacht. Auch beunruhigte mich von Anfang an die Auskunft, dass um 24 Uhr die Pforte geschlossen wird. Wer bis dahin nicht im heimischen Hafen eingelaufen ist, darf unter freiem Himmel nächtigen. Und schließlich wußte ich nicht so genau, wie lang das Konzert dauern könnte.

Wie auch immer – bis 15 Uhr hatte ich im Youth Hostel eingecheckt und mein Gepäck in einem 8-Bett-Zimmer auf einer Pritsche abgeladen. Bei der Autovermietung war niemand anzutreffen, also machte ich mich erst einmal auf den Weg die Busverbindung nach Lendas für den nächsten Tag auszukundschaften. Dazu war ein kleiner Fußmarsch von 20 Minuten zur Busstation erforderlich. Auf dem Weg kam ich an zahlreichen Plakatwänden vorbei, an denen die verschiedensten Konzerte angekündigt wurden – nur konnte ich nicht den Zipfel eines Plakats von Jethro Tull entdecken. Das begann mich zu beunruhigen.

Mich peinigte der Gedanke, dass das Konzert vielleicht inzwischen abgesagt worden war, und ich nur nichts davon mitbekommen hatte. Oder hatte man aus organisatorischen Gründen nur einfach vergessen Plakate zu kleben? Das soll ja schon 1976 Cat Stevens in Athen passiert sein – er durfte vor nahezu leerem Haus auftreten. Oder hatte man die Plakate überklebt, weil längst ausverkauft war? Um eine Antwort zu erhalten würde mir nichts anderes übrig bleiben, als vor Ort am Kipotheatro die Lage zu peilen. Nachdem ich an der Busstation mit der Information beglückt worden war, dass weder samstags noch sonntags Busse nach Lendas fahren – ich würde also zumindest für die letzten 30 km ein Taxi brauchen – machte ich mich auf zum Ort der Handlung, dem „Gartentheater“, in dem Jethro Tull nach meiner Information heute Abend 20 Uhr auftreten sollten.

Nochmals 20 Minuten Fußmarsch bei sengender Hitze, ich mußte mich durchfragen. Trotzdem war ich eigentlich erstaunt, wie nahe alles beieinander lag. Nach der Karte hätte ich die Entfernungen viel weiter geschätzt. Iraklio, die fünftgrößte Stadt Griechenlands, ist im Zentrum eigentlich auch nur ein großes Dorf.

Als ich am Kipotheatro ankam war es ca. 16:30 Uhr. Im Cafe vor dem Eingang saßen eine Handvoll Leute, sonst war nichts los. Der Eingang stand offen, und hier hingen tatsächlich auch ein paar Jethro Tull Plakate. Ich warf einen Blick in die heiligen Hallen und bekam folgendes zu sehen: Kipotheatro1 Kipotheatro2. Es sah tatsächlich so aus, als ob hier ein Konzert vorbereitet würde. Das ließ mich Hoffnung schöpfen. Wenn ich nur auch schon ein Ticket hätte. Der Verkaufsschalter am Kipotheatro war geschlossen. Und auch sonst hatte ich bislang nirgendwo einen Laden entdecken können, der so aussah als ob dort Konzertkarten zu bekommen wären.

Nur als Einschub zwischendurch: Selbst ich war von der Überschaubarkeit dieser Lokalität überrascht. Ich schreibe das nur, weil immer wieder von verschiedener Seite vermutet wird, Mr. Anderson ginge auf Tournee um Geld zu scheffeln. Spätestens wenn man die Größe dieser Venue sieht muss einem klar werden, dass so eine Vermutung lächerlich ist. Für die paar Kröten, die hier zu verdienen sind, würde ich mir den Stress eines Konzerts jedenfalls nicht antun. Hier tritt nur auf, wer es wirklich nötig hat, oder wer es überhaupt nicht nötig hat. Bei Mr. Anderson würde ich das Zweite vermuten. Konzerttourneen scheinen sein Hobby zu sein, solange er nicht draufzahlt, ist es ok.

Jetzt wurde es aber wirklich langsam Zeit, dass ich das Auto loswurde. Also nochmal zur Autovermietung. Nach einem Telefonat, 10 Minuten warten auf den Vermieter, einer Limo und einem Schwätzchen war das auch erledigt. Nichts wie zurück zum Kipotheatro. Wer wußte schon, wann der Verkaufsschalter öffnen und sich die Menschenmassen drängen würden. Es war ca. 17:45 Uhr als ich ankam, und diesmal klang mir bereits das Intro zu Locomotive Breath entgegen. Der Eingang stand immernoch offen und so bot sich mir das folgende Bild: Kipotheatro3. Eindeutig waren bereits die Herren Perry, Goodier und O’Hara auf der Bühne zu erkennen, der äußerst Rechte (Stage Left) könnte Mr. Barre sein. Nur vom Meister keine Spur. Würden Jethro Tull etwa ohne Mr. Anderson auftreten? Das wäre ja mal ganz was Neues.

Während ich photographierte lief ein Trupp schwarz gekleidete Sicherheitsleute an mir vorbei. Es wollte zwar Keiner etwas von mir, aber ich dachte ich sollte vielleicht doch besser nicht so auffällig im Weg herumstehen. Außerdem hatte ich noch ein Telefonat zu erledigen. Als ich 18:00 Uhr zurückkam, tönte mir eine Flöte entgegen – Mother Goose. Da war der Meister wohl doch noch eingetroffen. Allerdings: Jetzt war der Eingang zu und mindestens 15 bis 20 Sicherheitsleute standen oder saßen herum. Pech!

Wie man vielleicht schon auf den Bildern gesehen hat, ist das Kipotheatro von beiden Längsseiten von hohen Mauern eingeschlossen. Die im Bild rechte ist die Außenseite der historischen Stadtmauer. Links des Theaters führt eine Straße den Berg hinauf. Der Hang ist ebenfalls durch eine Mauer abgesichert. Von der Straße her ist die Mauer natürlich so hoch gezogen, dass man nicht von oben ins Theater hineinsehen kann – das wäre ja auch zu einfach. Allerdings zieht sich die Mauer mit einer Höhe von nur etwa einem Meter bis kurz hinter den Eingang, und von dort aus konnte ich durch die Zweige einer Kiefer hindurch zumindest Teile der Bühne einsehen. Hier bezog ich für die nächsten anderthalb Stunden Stellung.

Ich konnte nun erstmals den Meister erspähen, wie er in schwarzem T-Shirt und schwarzer Hose, Flöte in der Hand, auf er Bühne herumsprang. Und – welch Wunder – er trug keine Kopfbedeckung. Hatte ihn etwa die kretische Sonne dazu animiert, sie sich auf’s blanke Haupt scheinen zu lassen? Wäre es gar möglich, dass es ohne den lächerlichen Kopf-Fummel auftreten würde? Die Aussichten für den Abend wurden immer erfreulicher.

Gegen 18:30 Uhr war der Soundcheck zu den Instrumenten „akustische Gitarre und Gesang“ fortgeschritten. Es wurde der Anfang von „Thick As A Brick“ geboten – das klang nicht einmal so schlecht. Als ca. 19:00 Uhr noch ein komplettes „Farm On The Freeway“ gespielt wurde, kam bei mir langsam richtig Stimmung auf. Dem Meister schien allerdings irgendetwas nicht gefallen zu haben. Es gab eine kurze Diskussion und danach wurde ein Teil wiederholt.

Eigentlich sind diese Open Air Venues garnicht so schlecht. Sollte ich wirklich kein Ticket mehr bekommen, dann hatte ich hier auf der Mauer im Schatten einer Platane trotzdem einen luftigen Sitzplatz, von dem aus ich einiges sehen und alles hören konnte. Aber meine diesbezüglichen Bedenken waren grundlos. Inzwischen hatte der Kartenverkaufsschalter geöffnet und die Länge der Schlange hielt sich in Grenzen. Tickets schienen noch genug vorhanden, es wurde vom dicken Block herunter verkauft und ich erhielt das Ticket No. 5 (ein Jethro Tull Ticket ist ja vielleicht nichts sooo Sensationelles, aber nicht jeder hat eins in griechischer Schrift…). Auf dem Ticket las ich dann auch die „richtigen Öffnungszeiten“: Einlass 19:30 Uhr, Beginn 21:30 Uhr!!! Um Mitternacht schließt das Youth Hostel, und für die Strecke brauche ich mindestens 20 Minuten zu Fuß. Das könnte knapp werden. Ich begann mich mit dem Gedanken anzufreunden, dass ich die Nacht auf einer Parkbank verbingen würde, während mein Gepäck sanft auf der Pritsche ruhte.

Ticket Jethro Tull 2007 auf Kreta

Nach dem Kartenkauf bezog ich wieder meinen Logenplatz auf der Mauer. Jetzt wurde es richtig rockig, gegen 19:20 Uhr stand „Sweet Dream“ auf dem Programm. Danach wurden noch Ausschnitte aus „America“ und nochmals „Mother Goose“ geboten. Der Soundcheck schien um 19:40 Uhr beendet, die Herren verschwanden von der Bühne. Inzwischen hatten auch die ersten Besucher Stellung vor dem Eingang bezogen, und es wurde Zeit, dass ich mich für den Einlass günstig positionerte. Das gelang mir auch problemlos.

Das Publikum, das sich allmählich vor dem Eingang sammelte, war erstaunlich bunt gemischt. Neben einem älteren deutschen Ehepaar waren Griechen allen Alters vertreten, teilweise ganze Familien einschließlich Kindern unter 10. Außerdem bemerkenswert viele junge Leute und Jugendliche, aber auch ein typischer, mindestens 60-jähriger kretischer Opa. Natürlich muss man dabei bedenken, dass es sich um eine Samstag Abend Veranstaltung handelte. Bestimmt hatten sich einige Zuschauer nach dem Motto – „Was gibt’s diesen Samstag?“ – „Jethro Tull spielen“ – „Kenne ich nicht, aber gucken wir mal, was das ist“ – zu diesem Konzertbesuch entschlossen. Viele der Jugendlichen waren wahrscheinlich einfach gekommen, weil ein Rock-Konzert angesagt war. So groß wird das kulturelle Angebot in Irakio nicht sein – zumindest was „ausländische“ Musik und Rockmusik betrifft. Da nimmt man mit, was man bekommen kann.

Trotzdem muss man sich bei den Preisen doch wundern, wer sich das alles leisten wollte. 40 EUR sind für einen 13- oder 14-Jährigen (und es gab eine ganze Menge Jungs in etwa der Altersklasse) doch bestimmt eine Menge Geld, und wenn eine dreiköpfige Familie für einen Samstag Abend 120 EUR hinblättern muss, ist das auch kein Pappenstiel. Wenn ich da an die Preise in meiner Jugend denke – Cat Stevens 1976 kostete 16 DM, Al Stewart 1977 14 DM, Dire Straits 1979 waren schon teuer mit 20 DM. Früher war halt alles besser und vor allem billiger.

Kurz nach 20:00 Uhr wurden dann tatsächlich die Tore geöffnet, man wurde gruppenweise eingelassen und ggf. gefilzt (so wie ich z.B. mit meinem kleinen Rucksack – Wasserflasche, ein Apfel, eine Packung Kekse und eine Packung Nüsse gingen aber anstandslos durch, das Seitenfach mit der Kamera interessierte niemanden). Da ich gleich in der zweiten eingelassenen Gruppe war, hatte ich noch praktisch freie Platzwahl, und ich positionierte mich in der Mitte der vierten Reihe ungefähr auf gleicher Fußhöhe mit der Bühne – das sollte sich später noch als gute Wahl erweisen. Aus unerfindlichen Gründen wollte sich niemand neben mich setzen, so dass die Plätze rechts und links von mir frei blieben (eigentlich kann ich mir nicht vorstellen, dass ich sooo gestunken habe…), obwohl sich das Theater allmählich füllte. Gegen 21:30 Uhr konnte ich jedenfalls in den Reihen vor und hinter mir keine freien Plätze mehr erkennen, stattdessen saßen inzwischen Zuschauer auf den Mäuerchen rechts und links oder standen in den Gängen. Auch die Stehplätze hinter den Sitzreihen schienen nicht unbenutzt zu bleiben. Ich dagegen tronte in der Mitte der vierten Reihe auf drei Plätzen wie die Königin von Saba.

Nachdem ich mich auf meinem Sitz häuslich eingerichtet hatte, war bis zum Konzertbeginn noch über eine Stunde totzuschlagen. Etwas Abwechslung bot das Programm auf der Bühne, hier hantierten 3 Männer mit einer Leiter, um sämtliche Scheinwerfer neu zu justieren. Hinter mir hatte sich ein griechischer Jethro Tull Experte – so um die 40 – platziert, der seiner Gesellschaft lautstark die Bedeutung von Aqualung und Songs From The Wood näherbrachte, selbst Marin Barre’s Stage Left war ihm nicht unbekannt. Vor mir hatte ein Ehepaar für die gesamte Verwandschaft und Bekanntschaft gleich 10 Plätze belegt, setzte sich dann direkt vor mich und begann zu qualmen, was die Lunge hergab (Dazu muss man wissen: Mir wird von Rauch in kleinsten Mengen schlecht – ich rieche, wenn sich jemand in 100 m Entfernung eine Zigarette anzündet). Überhaupt schien sich um das strikte Rauchverbot, auf das schon am Eingang hingewiesen wurde, niemand zu scheren. Vor und während der Vorstellung stiegen aus dem Publikum immer wieder regelrechte Rauchwolken auf. Die Sicherheitskräfte hatten damit kein Problem.

Nachdem sich das Publikum weitgehend auf den Plätzen etabliert hatte, begann es sich mit Lebensmitteln einzudecken. Jede Menge Bier in Pappbechern wurde in Freundeskreisen verteilt, hinter mir wurden Chipstüten durchgereicht. Inzwischen begann es einzudunkeln, und die Bühnenscheinwerfer mussten nochmals ausgiebig getestet werden. Dazu wurde auch das Publikum angestrahlt und ausgeleuchtet. Mehrmals traf mich einer der Scheinwerfer so ins Auge, dass ich danach einige Momente lang überhaupt nichts mehr sah. Das ist Körperverletzung, hoffentlich machen die das nicht auch während der Vorstellung so!

Dann endlich, um 21:45 Uhr (es wird wohl doch die Parkbank werden) ging das Licht aus, einige Schattengestalten huschten über die Bühne, dann Licht an und los ging’s mit „Living In The Past“. Gejohle und Beifall aus dem Publikum, und jetzt wurde mir schnell klar, warum vor der Bühne Absperrgitter aufgestellt und dahinter Sicherheitsleute postiert waren. Wie auf Kommando stürzte Publikum aus den Gängen, von hinten und von der Seite vor zur Bühne, die erste Reihe wurde einfach überrannt. Schon nach wenigen Takten war von der ersten Sitzreihe nichts mehr zu sehen, wer dort gesessen hatte musste notgedrungen auch stehen, sonst wäre er wohl erstickt. Direkt vor der Bühne bildeten sich etwa 4 Steh-Reihen, aber von meinem Sitzplatz in der vierten (jetzt dritten) Reihe konnte ich gerade eben bequem über die Köpfe hinweg sehen – das hatte ich mal wieder optimal getroffen.

Was mir sofort auffiel: Oh nein, er hat doch wieder die schwarze Abdeckplane übers bare Haupt gezogen, und hat er sich eigentlich den Bart passend zum Kopfverband gefärbt? Der war doch früher nicht schwarz, oder? Ansonsten war Mr. Anderson mit der gleichen gelb-rot gemusterten Weste bekleidet, die ich schon aus den Südamerika-Videos kannte. Eigentlich kam ich mir vor wie in YouTube mit Vergrößerung.

Was mir nach dem Soundcheck schon klar war: Es war keine Geigerin mit von der Partie, die Herren waren unter sich und spielten das „klassische“ Programm. Ich werde jetzt nicht jeden gespielten Titel einzeln durchgehen, sondern nur allgemein ein paar Anmerkungen machen. Eine tabellarische Zusammenfassung des Konzerts einschließlich Setlist findet Ihr am Ende meines Beitrags.

Nach dem ersten Titel musste Mr. Anderson erst einmal mit dem Publikum schimpfen: Warum denn hier alle vor an die Bühne rennen, es wäre doch nicht nett den dahinter Sitzenden die Sicht zu versperren. Also zurück auf die Plätze, er habe schließlich noch nicht einmal richtig angefangen. Das brachte ihm zwar ein paar Lacher ein, aber natürlich hat sich trotzdem niemand auch nur einen Zentimeter von der Stelle gerührt. Immerhin, er hat’s versucht, das fand ich eigentlich ganz nett.

Was mir schon bei „Living In The Past“ auffiel – die Stimme hatte nachmittags beim Soundcheck noch besser geklungen. Auch bei „Mother Goose“ und erst recht bei „Thick As A Brick“ bekam er die hohen Töne nicht und lag teilweise im Ton daneben. So etwas tut mir immer in der Seele weh, ich hätte am liebsten beim Singen ausgeholfen. Bei den lauteren Titeln fiel es nicht so auf, da hörte man die Stimme teilweise kaum. Vielleicht liegt es auch vor allem an der Tonhöhe. Beim „Locomotive Breath“ am Schluss klang die Stimme wieder garnicht so schlecht.

Der zweite gespielte Titel war „Jack In The Green“. Hier habe ich versucht, mit meiner (schon etwas älteren) Digitalkamera ein paar Photos zu machen. Nach dem zweiten Bild waren die Akkus leer, andere hatte ich nicht dabei (auf der Pritsche im Youth Hostel…). Letztendlich hätten mir andere Akkus aber auch nichts genützt, denn offensichtlich war meine Kamera von den Lichtverhältnissen überfordert. Ich glaube die Griechen um mich herum haben mit ihren Handys bessere Photos geschossen. Teilweise wurde mit dem Handy wohl auch gefilmt, die Dame schräg vor mir verfolgte das Geschehen immer wieder minutenlang über das 5×5 cm Display ihres Handys, statt sich die Aktion auf der Bühne 3 m vor ihrer Nase anzusehen. Mit der Faszination der Technik kann ein Mr. Anderson halt selbst in Lebensgröße nicht mehr mithalten.

Da die beiden von mir gemachten Bilder so schlecht sind, dass sie schon fast wieder einen künstlerischen Wert besitzen, möchte ich sie Euch nun doch nicht vorenthalten. Ihr werdet sehen, man sieht so gut wie nichts: Bild1 Bild2

Ich bin bei diesem Live-Erlebnis einmal wieder zu dem Schluss gekommen, dass bei solch einem Konzert die eigentliche Attraktion nicht das ist, was man sieht, sondern dass man aufgrund der Lautstärke die Musik nicht nur hört sondern auch fühlt. Und so kam die richtige Begeisterung beim Publikum auch immer dann auf, wenn es laut und schnell wurde. „Living In The Past“, „Sweet Dream“ (angekündigt als „a lot of noisy guitar from Mr. Barre“), „Aqualung“ (aber erst der „eigentliche“ Teil nach dem neuen Intro), „My God“ und zum Schluss natürlich „Locomotive Breath“ kamen daher am besten an. Dabei war die Lautstärke für mein Gefühl absolut ok, weder zu leise noch zu laut.

Auch die diversen Flötensolos oder geflöteten Instrumentalstücke brachten Stimmung – „The Donkey An The Drum“ (klingt wegen des ungeraden Takts für mich auch wie ein griechischer Tanz, das Publikum ging entsprechend mit), „Bourree“ (von Mr. Anderson als „a piece of porn Jazz“ angekündigt) und „King Henry’s Madrigal“ (dazu gab’s einige launige Anmerkungen zu König Henry, seiner poetischen Ader und seinen „kopflosen“ Frauen) wurden vom Publikum entsprechend freudig aufgenommen. Weniger gut konnte Martin Barre mit seinem „After You, After Me“ landen – auch ich merkte, dass ich nach kurzer Zeit nach den Glühwürmchen Ausschau hielt (es flogen tatsächlich einige herum), überprüfte wieviele Sterne am Himmel standen etc.. Nun ja, ich habe ja bereits an anderer Stelle erwähnt, dass Instrumentalmusik nicht so mein Fall ist und Gitarrensolos mich üblicherweise eher langweilen. Dem übrigen Publikum schien es ähnlich zu gehen.

Allgemein war zu bemerken, dass die Aufmerksamkeit des Publikums nachließ, sobald das Spotlight längere Zeit von Mr. Anderson auf Mr. Barre schwenkte (wegen eines Solos), und der Erstere evt. sogar vorübergehend hinter Schlagzeug oder Kulisse verschwand. Der Show-Effekt, den ein Ian Anderson auf die Bühne bringt, ist auch heute noch nicht zu unterschätzen. Auch wenn es teilweise albern wirkt, wenn er wie Rumpelstilzchen über die Bühne hüpft und stapft, die Beine schmeißt oder Grimassen zieht, es gibt einfach immer etwas zu sehen. Irgendwie verstehe ich ja, wenn er sich nicht seriöser kleidet, es würde zu seinem unseriösen Auftreten nicht passen. Ich komme aber immer mehr zu dem Schluss, dass eine Montur im Stile „Pontischer Kriegstänzer“ Mr. Anderson’s Naturell am ehesten entgegen käme. Wenn er sich schon unbedingt einen schwarzen Putzlappen auf den Kopf binden muss, dann wäre das die passende Tracht dazu. Sie würde viele seiner „Aufführungen“ weniger lächerlich sondern stattdessen symbolhaft bedeutsam erscheinen lassen. Ich denke ich werde ihm mal einen Tipp geben müssen.

Ernsthafte Geschmacklosigkeiten oder Entgleisungen gehörten nicht zum Programm. Die üblichen Schlüpfrigkeiten eben: Die große Blockflöte (gespielt in „Mother Goose“ von Mr. Barre) und die kleine Flöte (Mr. O’Hara), und ob es nun auf die Größe ankommt? Natürlich durfte auch der „Flötenpenis“ wieder nicht fehlen, obwohl er es nicht allzu sehr übertrieben hat. Ich weiß nicht ob Mr.Anderson aufgefallen war, dass sich im Publikum kleine Kinder (und gleich vorne an der Bühne auch eine ganze Reihe ziemlich junge Mädchen) befanden.

Auch auf die Erwähnung der Konkurrenz (bzw. den Hinweis darauf, in welcher Klasse er spielt) musste man natürlich nicht verzichten. So verkündete Mr. Anderson, jetzt komme sein bekanntestes Stück, „Smoke On The…äh…Stairway To…Aqualung“. Na ja, „Whole Lotta…Brick“ fand ich den besseren Gag, aber der ist ja nun halt auch schon 30 Jahre alt. Um noch kurz bei „Aqualung“ zu bleiben – das neue Intro passt meiner Meinung nach überhaupt nicht, es ist viel zu süßlich. Die Melodie erinnert mich an den Titanic-Schmachtfetzen (ist jetzt nicht abwertend gemeint, ich mag dieses Lied) „The Heart Does Go On“, eigentlich scheint es mir das Intro zu diesem Titel zu sein. Ein Intro zu „Aqualung“ müsste viel rockiger klingen.

Was die Setlist betrifft, dürfen natürlich bei Auftritt an einem Ort, an dem man bestenfalls alle 10 Jahre mal vorbeikommt, die Klassiker nicht fehlen – „Living In the Past“, „Bourree“, „Thick As A Brick“, „Aqualung“ und „Locomotive Breath“ sind daher unvermeidlich. Ansonsten fand ich die Auswahl allerdings stark „1969-lastig“, auch „Farm On the Freeway“ und „Budapest“ sind meiner Meinung nach nicht beide notwendig. Die Titel klingen für mich irgendwie ähnlich, und „…Freeway“ gefällt mir besser. „America“ halte ich nun für völlig überflüssig. Ich hätte mir eher noch ein oder zwei Stücke aus der „Songs-From-The-Wood-Heavy-Horses-Phase“ gewünscht, auch ein Titel aus „Broadsword“ oder noch etwas rockiges aus „Crest Of A Knave“ hat meiner Meinung nach gefehlt. Aber natürlich muss Mr. Anderson die Auswahl auch danach treffen, was er stimmlich noch halbwegs hinbekommt – es ist ein Jammer.

Zusammenfassend würde ich trotzdem sagen, dass es ein gelungener Abend war und auch das griechische Publikum zufrieden nach Hause ging. Ganz besonders dankbar war ich den Jungs dafür, dass sie ohne Pause durchgespielt haben und daher laut meiner Uhr um 23:33 Uhr (einschließlich Zugabe) fertig waren. Das gab mir Chancen der Parkbank zu entkommen. Nachdem ich mich durch den Stau in den Theatergängen gekämpft hatte, eilte ich durch die Stadt nach Hause und erreichte die rettende Pforte um 5 vor 12. So konnte ich mich noch zu meinem Gepäck auf die Pritsche legen und trotz der Affenhitze habe ich tatsächlich ein paar Stunden geschlafen.

So, das war’s erst einmal zum Thema „Jethro Tull auf Kreta“.

Es grüßt Euch
Kretakatze

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Jethro Tull in Iraklio, Kreta – Samstag 23.06.2007

Venue: Kipotheatro „Nikos Kazantzakis“ (Gartentheater)
Offiziell laut Internet Einlass ab 19:00 Uhr, Beginn 20:00 Uhr
Offiziell laut Ticket Einlass ab 19:30 Uhr, Beginn 21:30 Uhr
16:30 Uhr: erste Vorbereitungen auf der Bühne
17:45 Uhr: Intro von Locomotive Breath, die Herren O’Hara, Goodier, Perry (und Barre) auf der Bühne
18:00 Uhr: eine Flöte tönt (Mother Goose), Tor ist geschlossen
18:30 Uhr: Soundcheck „akustische Gitarre mit Gesang“ – Thick As A Brick
19:00 Uhr: Farm On The Freeway (komplett und ein Teil wiederholt)
19:20 Uhr: Sweet Dream (Ausschnitt) – America (Flöte) – Mother Goose (Flöte)
19:40 Uhr: Soundcheck beendet, die Herren verschwinden
20:00 Uhr: Einlass

Beginn: ca. 21:45 Uhr
Es treten auf die Herren Anderson, Barre, Perry, Goodier, O’Hara
(Wer welches Instrument spielt muss ich wohl nicht extra erwähnen)

Setlist:
Living In The Past
Jack In The Green
The Donkey And The Drum
Thick As A Brick (Really don’t mind…, Spin me back down the years…, A son is born…, I come down from the upper class…, So you ride yourself…)
Mother Goose
Sweat Dream
King Henry’s Madrigal (Pastime With Good Company)
Bourree
Nothing Is Easy
Barre Solo: After You, After Me
Farm On The Freeway
Aqualung (mit neuem Intro)
America
My God
Budapest
Zugabe: Locomotive Breath

Es wurde ohne Pause durchgespielt
Ende: kurz nach 23:30 Uhr

English Translation for Ian Anderson

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