Liebe Kretakatze, lieber Wilfried,
ich hätte da den ein oder anderen Gedanken zum Thema Ian Anderson:
Ich frage mich bereits seit einiger Zeit, worauf die Ansprüche des Mr. Anderson , ein Intellektueller aus der Upperclass zu sein, basieren. Die Wikipedia-Aufzählung der von ihm besuchten Schulen ist in der Tat sehr übersichtlich. Eines wollen wir ihm aber zu Gute halten: Man kann sich auch jenseits der Schule noch Einiges an Bildung aneignen. Ich wage zu behaupten, dass ich (von den Grunddisziplinen Lesen, Schreiben, Rechnen abgesehen) abseits der Schulen mehr gelernt habe als in diversen Klassenzimmern. So sollte es auch sein, das geht wohl den meisten Menschen so. Den Intellektuellen können wir also so gerade noch gelten lassen. Daraus ergibt sich aber die Frage: Wie äußert sich sein Intellekt, wie nutzt er ihn, was stellt er damit an ?
Nun, die erste Antwort darauf liegt für mich auf der Hand: Die Songs, die Melodien der frühen Jahre, die ihn für mich zum „Meister“ machen, können nur schwerlich dem Hirn eines Dummkopfes entsprungen sein. Intelligenz und Genius bedingen einander zwar nicht, gehen aber oft Hand in Hand. Nur so als Beispiel: Vor vielen Jahren las ich (in einem MAD – Heft), dass W.A. Mozart im Alter von drei Jahren seine erste Symphonie schrieb und mit fünf Jahren zum ersten Mal auf dem Topf saß. Zum zweiten kann ihm niemand abstreiten, dass er in Interviews einen sehr souveränen Eindruck macht. Auch das spricht nicht unbedingt für einen Hohlkopf. Damit kommen wir zur dritten und kritischsten Antwort: Seine Texte. Nach seiner eigenen Aussage macht er keine Texte für Fußballfans. Was er damit ausdrücken will, ist klar: Er hält Fußballfans für intellektuell limitiert, sodass sie seine Texte nicht verstehen können. Nun, ich bin kein Fußballfan, verstehe seine Texte aber auch nicht immer. Natürlich, es gibt auch Dumme außerhalb der Fußballszene. Kretakatze hat in einer ihrer letzten mails die Frage aufgeworfen, ob ich zwangsläufig als klug zu gelten habe, wenn ich mich so ausdrücke, dass die Mehrheit mich nicht versteht. Ich denke, diese Frage trägt die Antwort bereits in sich. Natürlich braucht man ein gewisses Niveau, um seine Sprachintention in Metaphern, Allegorien oder sonstwie bildlich an den Mann zu bringen. Ebenso selbstverständlich muss der Leser oder Hörer sich auf einem vergleichbaren Level befinden, um begreifen zu können, welche Information gerade transportiert werden soll. Mr. Anderson könnte also in seinen Texten ein hohes sprachliches Niveau einnehmen, um die Schar seiner Anhänger zu polarisieren. Er will damit die Spreu vom Weizen trennen. Mögliche Gründe hierfür kann ich nicht benennen. Vielleicht liegt Kretakatze richtig mit ihrer Annahme, dass er sich dadurch einen intellektuellen Anstrich geben will.
In diesem Zusammenhang muss ich an meine Deutschlehrerin aus der Fachoberschule denken: Bei ihr mussten wir u.a. Texte von Hans Magnus Enzensberger lesen. Je weniger wir die Texte verstanden, desto lauter lobte sie das Genie des Künstlers. Dabei bin ich jeden Tag, der seitdem vergeht, mehr davon überzeugt, dass sie das Geschreibsel selbst nicht durchschaute. Aber sie dachte wohl, sie gelte deswegen als klug. Wenn die wüsste…
Wie dem auch sei, mir gefällt die Anderson’sche Musik der frühen Jahre auch trotz der oft kryptischen Texte.
Soviel zum Intellekt des Meisters. Hier hat er die Kurve so gerade noch bekommen. Wenden wir uns seiner Herkunft aus der Upperclass zu.
Irgendwo (vielleicht Wikipedia) stand zu lesen, sein Vater sei Hotelmanager gewesen. Hotelmanager. Klingt irgendwie nach Hilton oder Walldorf-Astoria. Aber, dank Wilfried wissen wir, dass das Hotel der Familie Anderson sen. ein eher bescheidenes Haus war. Mich erinnert es mehr an eine Pension. Ein Familienbetrieb, in dem der Hotelmanager noch selber mithilft, die Betten zu beziehen und Frühstück zuzubereiten. Das ist für mich ein klassisches Beispiel für den Mittelstand, nicht für die Oberklasse. Damit will ich nichts gegen den Mittelstand sagen: Meine Eltern führten seinerzeit ebenfalls ein kleines Familienunternehmen und ich selber sehe mich als Kind des Mittelstands. Also, Mr. Ian Scott Anderson, mit Upperclass ist wohl nichts.
Ich gebe aber eines zu bedenken: Unsere Annahme, dass er sich als Member of the Upperclass sieht, beruht einzig auf der Textzeile in „Thick as a Brick“: „I came down from the Upperclass…“. Nun ist die Frage zu klären, ob er das biographisch meint, also auf sich selber bezieht, oder ob er nur das vertonte Gedicht des kleinen Gerald Bostock interpretiert. Bevor diese Frage nicht ausreichend beantwortet ist, wäre jeder weitere Gedanke zur Upperclass-Herkunft des Meisters reine Spekulation.
Ein Wort zur Spontaneität auf der Bühne:
Wer sich die JT-Auftritte aus den 70er Jahren anschaut, wird feststellen, dass in der Bühnenshow überhaupt kein Platz für Spontaneität ist. Das ist reine Choreografie. Bei jeder Note eines Konzertes hat Mr. Anderson die gleiche Mimik und die gleiche Körperhaltung und steht an genau der gleichen Stelle auf der Bühne wie in einem Konzert, dass einige Jahre später auf einem anderen Kontinent stattfindet. Er funktioniert präzise wie ein schweizer Uhrwerk. Er ist viel zu sehr Perfektionist, um der Spontaneität willen irgendetwas dem Zufall zu überlassen.
Liebe Kretakatze, in Deiner letzten mail sprichst Du mir aus der Seele: Dem frühen Anderson konnten wir begeistert zujubeln, den aktuellen Anderson kennen wir nicht mehr. „Wer ist das ?“ schreibst Du. Genau so ist es. Wir haben ihn verloren. Zumindest Du und ich. Wilfried scheint noch etwas näher bei ihm zu sein. Er kennt ihn schon länger und hat ihn nie aus den Augen verloren. Aber für mich ist Mr. Anderson ein Fremder geworden. Er sieht anders aus, er singt anders und er spielt andere Musik als früher. Er ist einfach ein Anderer. Ich habe ihn verloren, und in Deinem letzten Schreiben sagst Du, dass er sich möglicherweise selber verloren hat. Nur ihm scheint das weniger auszumachen als uns.
Gnothi seauton
Lockwood
PS: Als Kind sah ich im Fernsehen „Die Brüder Löwenherz“ von Astrid Lindgren. Was mich damals am meisten daran faszinierte war der Soundtreck. Eine wunderschöne kleine Melodie, die ich zu meiner großen Freude vor kurzem bei youtube wiederfand und Euch hiermit zu Gehör bringen möchte. Vielleicht gefällt sie Euch auch. Nichts an ihr erinnert an einen startenden Jet.
31.07.2007
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Hallo Wilfried, Hallo Lockwood,
nun ist also der 60. Geburtstag des Meisters auch vorüber, und außer meiner „erfrischenden“ Kritik und ein paar daraus resultierenden dilettantischen guten Ratschlägen, die ich in letzter Zeit hier verbreitet habe, ist mir nichts eingefallen, was ich ihm auf seinen weiteren Lebensweg mitgeben könnte. Ich bin auch dieser Tage ein wenig schreibmüde geworden…
Dabei gibt es durchaus noch eine Reihe interessante offene Themen, die von Euch in letzter Zeit angesprochen wurden und die ich auch noch aufgreifen möchte. Lockwood hat sich einige Gedanken über Mr. Anderson gemacht, die wiederum mir zu denken gegeben haben. Es geht einmal mehr um seine unerklärliche Entwicklung vom bewunderten Meister der 70er Jahre zu dem, was er heute darstellt. Bevor ich darauf eingehe werde ich Euch aber, ganz wie es meine Art ist, mit meinem beliebten Gegenbeispiel quälen (ich kann einfach nicht anders…).
In meinem ersten kurzen Beitrag, den ich an dieser Stelle zu Mr. Fogerty verfasst hatte (das war übrigens zufällig genau an seinem 62. Geburtstag, wie mir später aufgefallen ist), hatte ich behauptet er habe sich in den letzten 40 Jahren nicht weiterentwickelt. Inzwischen habe ich feststellen müssen, dass das ein Irrtum war. Ich nehme diese Aussage daher hiermit zurück und behaupte das Gegenteil (ist ja nicht das erste Mal…). Tatsächlich hat sich Mr. Fogerty – zumindest was sein Auftreten auf der Bühne betrifft – seit 1970 geradezu dramatisch gewandelt.
Mr. Fogerty anno 1970 („Tombstone Shadow“ live in London) erscheint nicht nur in Arbeitskleidung auf der Bühne, er wirkt auch wie jemand, der zielgerichtet, ernst und konzentriert seiner Arbeit nachgeht. Er scheint voll und ganz mit sich, seiner Musik und seiner Gitarre beschäftigt zu sein, es sieht aus als spielt er vor allem für und mit sich selbst, eventuell noch mit seiner Band. Dass ein Publikum existiert, scheint er – zumindest während er spielt – nicht wahrzunehmen, er schaut es kaum an. Bestenfalls riskiert er noch einen kurzen Blick in die Kamera (die guckt auch nicht zurück). Während der Gitarrensolos zieht er sich vom Mikrophon weg nach hinten ans Schlagzeug zurück, dreht dem Publikum fast den Rücken zu. Zwischen den Songs verständigt er sich kurz mit dem Drummer, dreht an Amp und Gitarre, stimmt eine Saite nach – aber er spricht nicht ein Wort mit dem Publikum. Er wirkt auf mich ein bißchen wie ein Zootier, das man gegen entsprechenden Eintritt aus gebührender Entfernung beim mehr oder minder artgerechten Verhalten beobachten darf. Wenn die Band in ihrer Fabrikhalle probt, sieht das wahrscheinlich auch nicht viel anders aus.
Eigentlich ist es kaum zu fassen, aber das Bühnen-Verhalten des Mr. Fogerty hat sich im Laufe der Jahre ins exakte Gegenteil verkehrt. Fogerty 2007 („Bootleg“ live in Ontario) wirkt auf der Bühne als ob er eine Riesen-Party feiert. Da scheint alles mächtig viel Spass zu machen und mit keinerlei Mühe oder Anstrengung verbunden zu sein. Offensichtlich tut er das alles nur zum reinen Vergnügen, zu seinem eigenen wie zu dem des Publikums. Wenn er einmal 3 Sekunden lang nicht singen muss, rennt er sofort vom Mikrophon weg zum vorderen Bühnenrand um einen Meter vor den Nasen seiner Zuschauer seine Gitarrenkünste darzubieten. Zwischen den Songs unterhält er sein Publikum mit Stories darüber, wie er mit seiner Tochter Eis isst oder wie sich eine halbe Million matschverschmierte Menschen in Woodstock ausziehen. Und auch da läuft er wieder ständig zum Bühnenrand um auf jeden noch so dämlichen „Hey John“-Zuruf aus dem Publikum einzugehen. Es ist ein einziges Bad in der Begeisterung und Sympathie der Menge, und so ein Bad scheint ganz nach seinem Geschmack zu sein. Wie man sich so ein Bad einlässt und wie man sich das Badewasser angenehm temperiert, das hat er inzwischen gelernt. Die Lernfähigkeit des Mr. Fogerty ist wirklich bemerkenswert. Wenn man einmal davon ausgeht, dass das „Beliebtheitsbad“ auch schon 1970 sein Ziel gewesen sein müsste, dann konnte er seinen Zielerreichungsgrad inzwischen ganz ungemein steigern.
Die Bühnen-Präsenz des Mr. Anderson scheint sich mir dagegen im Laufe der Jahre in die genau entgegengesetzte Richtung entwickelt zu haben. In diesem Video („A New Day Yesterday“ 1969 live in New York) teilt er uns gleich zu Anfang mit, was er auf der Bühne tut – es ist sein „Ego-Trip“, das heißt er tobt sich aus, und zwar zu seinem Privatvergnügen. Was die Spontanität seiner Bühnenaktivitäten betrifft, sehe ich das etwas anders als Du, lieber Lockwood. Es ist einfach so, dass jedes Lied eine ganz bestimmte Geschichte erzählt, jede Melodie ein bestimmtes Gefühl ausdrückt, und wenn man das in Gestik, Mimik und Bewegung darzustellen versucht, dann wird naturgemäß auch immer etwas ähnliches dabei herauskommen. Durch ständige Wiederholung schleift sich schließlich im Laufe der Zeit eine Art „optimale“ Version ein, die dann wirklich praktisch immer identisch ist. Bei Songs wie „Aqualung“ oder „Thick As A Brick“, die Mr. Anderson in den 70ern 100 Mal im Jahr auf der Bühne gespielt hat, ist ihm mit Sicherheit jede einzelne Bewegung so in Fleisch und Blut übergegangen, dass er er sie noch im Schlaf aufführen könnte. Vermutlich würde er noch im Koma liegend beim Klang bestimmter Musikpassagen seinen Kopf auf eine ganz bestimmte Art zurückwerfen oder den Arm nach oben reißen. Eine bewußt einstudierte Choreographie ist etwas anderes.
Sicher hat Mr. Anderson zumindest manche seiner akrobatischen Übungen geprobt, bevor er sie auf der Bühne vorgeführt hat. Manches sind eindeutig Figuren aus dem Ballett, und seit ich durch Wilfried weiß, dass sein älterer Bruder Ballettmeister ist, hat mich das auch nicht mehr gewundert. Dass er sich allerdings jemals eine Choreographie für eine Auftritt vorher zusammengestellt hat, wage ich zu bezweifeln. In so ein Korsett hätte er sich nicht zwängen wollen, das hätte ihm doch den ganzen Spaß verdorben. Schließlich wollte er sich austoben, das macht man nicht nach Plan. Ganz abgesehen davon ist der „spontane Ausdruck der Persönlichkeit, der Gedanken oder Gefühle“, von dem ich in meinem letzten Beitrag sprach, nicht so sehr eine Frage des Was und schon garnicht des Wo einer Darstellung, sondern vielmehr des Wie. Am Wie erkennt man, ob jemand wirklich mit Freude und Enthusiasmus bei der Sache ist oder nur etwas herunterspult.
Allmählich glaube ich auch, dass Mr. Anderson in die Jahre gekommen ist. Die Begeisterung hat nachgelassen. Wen wundert’s, dass nach mindestens 2000 Aufführungen „Thick As A Brick“ bei ihm heute nicht mehr so frisch rüberkommt wie 1972. Vermutlich ist auch das Bedürfnis sich auszutoben weitgehend erloschen. Im Vergleich zu Mr. Fogerty wirkt er inzwischen zahm und schaumgebremst. Seine Bühnenaktivitäten erscheinen nicht spontan sondern bewusst und kontrolliert. Was ihn heute auf die Bühne treibt ist wahrscheinlich vor allem sein Hang zur Selbstdarstellung und sein Hunger nach Anerkennung. Und da haben sich seine Chancen der Zielerreichung seit den 70ern dramatisch verschlechtert. Er sieht einfach nicht mehr aus wie 25, mit akrobatischen Übungen ist auch nichts mehr und die Stimme ist kaputt. Eigentlich wirklich erstaunlich, dass er in Anbetracht dieser katastrophalen Voraussetzungen nicht einfach aufgibt, aber er kann wohl nicht anders. Folgerichtig setzt er auf den einzigen Trumpf, den er noch hat – seine Flötenkünste. Er flötet extensiv und in den höchsten Schwierigkeitsgraden (das nehme ich jedenfalls mal an, beurteilen kann ich es nicht), aber das erfordert Konzentration. Vermutlich wirkt er auch deshalb beim Flöten teilweise fast finster, unbeschwerte gute Laune strahlt er jedenfalls für mein Gefühl dabei nicht aus. Mr. Anderson ist bei der Arbeit angekommen.
Um die Vergleichs-Landschaft weiter zu beleben werde ich jetzt noch einen anderen Musiker ins Feld führen, den vermutlich auch noch nie jemand mit Mr. Anderson verglichen hat – Neil Diamond („I Am…I Said“ live ca. 1971 – zur Einstimmung). Auf den ersten Blick gibt es da wirklich keine Ähnlichkeiten, Mr. Diamond ist eher eine Mischung aus Elvis Presley und Roy Black. Zwei Parallelen könnte man aber doch aufführen. Zum Einen ist auch Mr. Diamond dafür bekannt, dass er es liebt in mehr oder minder schrillen Kostümen aufzutreten – wobei es sich dabei eher um Glitzer-Anzüge a la Elvis Presley handelt, dessen Nachfolge er ja auch in Las Vegas übernommen hatte. Seine Auftritte sehen daher auch alle stark nach Las Vegas aus. Zum Anderen hatte Mr. Diamond, nachdem er die Filmmusik zu „Jonathan Livingston Seagull“ geschrieben hatte, angefangen sich selbst mit Beethoven zu vergleichen und seine erste Symphonie zu komponieren. Was daraus geworden ist weiß ich nicht so genau, ich meine er hat sie tatsächlich fertig geschrieben, die Wiener Philharmoniker haben sie aber wohl noch nicht im Programm.
Da auch Mr. Diamond zu den Musikern gehört, deren Scheiben Anfang der 70er auf meinem Plattenteller lagen, habe ich dieser Tage in YouTube geforscht, was denn im Laufe der Jahre aus ihm geworden ist, und ich war eher positiv überrascht. Diese Version von Cherry Cherry (2005 live) zeigt meiner Meinung nach: Es ist durchaus möglich 64 Jahre als zu sein, wie 64 Jahre auszusehen, in einem Kostüm auf einer Bühne zu stehen und eine ziemlich flotte Nummer zu spielen, und trotzdem nicht lächerlich zu wirken. Am Alter allein kann es also nicht liegen. Mr. Diamond hat allerdings gegenüber Mr. Anderson den Vorteil, dass seine Stimme noch genauso klingt wie vor 40 Jahren, sie hat wirklich nicht den kleinsten Kratzer abbekommen. Im Gegenteil, ich finde er singt den Titel heute besser und spielt ihn rockiger als in der Original-Version von 1966.
Wenn man Mr. Anderson also mit seinen Musiker-Kollegen in der Altersklasse ab 60 vergleicht, muss man sagen: Die Anderen sind auch nicht mehr so jung oder so schlank wie 1970 (Mr. Fogerty sollte vielleicht seiner Tochter mal nicht ständig das Eis wegessen – kleiner Scherz am Rande…), wie Mr. Fogerty über die Bühne stapft wirkt auch auf keinen Fall eleganter als das Gehüpfe von Mr. Anderson, und kommt es nun wirklich darauf an, ob der Typ oben auf der Bühne in Jeans und Karohemd, im Glitzerkostüm oder im Piraten-Outfit erscheint? Wichtiger ist doch, was der Kerl, der in den Klamotten steckt, für eine Ausstrahlung hat. Und da wirkt Mr. Anderson im Vergleich zu seinen Kollegen irgendwie verbissen und fast zynisch.
Lockwood hat einmal ganz richtig bemerkt, dass Fogerty-Fans vermutlich wesentlich glücklicher sind als Anderson-Fans. Ich würde soweit gehen zu behaupten, dass auch der Mr. Fogerty der heutigen Tage deutlich glücklicher sein dürfte als der Mr. Anderson. Dass sein Zielerreichungsgrad nicht mehr der ist, der er einmal in den 70ern war, kann auch Mr. Anderson nicht entgangen sein. Und ich glaube er ist selbst ziemlich ratlos, wie er die Situation wieder verbessern könnte.
Um noch einmal zum Thema „Intellektueller aus der Upper Class“ zurückzukommen – ich meine schon mehrere Photos von Mr. Anderson vom Ende der 60er Jahre gesehen zu haben, die die Unterschrift „… mit Laby X“ bzw. „… mit Lord Y“ trugen, leider kann ich sie nicht mehr finden. Ich glaube zumindest eines der Bilder stammte von der Hochzeit mit seiner ersten Frau. Woher kommen die Kontakte zum Hochadel, wenn er eigentlich aus der Mittelschicht stammt? Seine Behauptung „I come down from the upper class“ halte ich durchaus für glaubwürdig, auch wenn sie sicher ironisch gemeint war. „Thick As A Brick“ ist praktisch seine Autobiographie, und nach meiner Meinung sind Songtexte eine ziemlich zuverlässige Quelle über Vergangenheit und Hintergrund ihres Verfassers. Jeder Songtexter, den ich kenne, hat in seinen Liedern seine eigene Vergangenheit verarbeitet, und die eigenen Songs sind ein viel zu persönliches und zugleich öffentliches Medium, um darin zu wild zu phantasieren. Ein bißchen übertreiben tut man darin vielleicht schon, aber nicht lügen.
Auch den „Intellektuellen“ möchte ich Mr. Anderson garnicht absprechen. Ich halte ihn durchaus für intelligent und sicher hat er sich außerhalb der Schule ein umfangreiches Wissen über Geschichte, Kultur, Literatur etc. angelesen, das meines sehr wohl übersteigen könnte (das ist nicht sehr schwer). Zum Intellektuellen wird man wohl weniger über die klassische Bildung, es ist mehr der Typ des Dichters und Denkers, der Einen dazu qualifiziert. Ich selbst bin zum Beispiel höchst gebildet (nicht nur eingebildet) – mit Abitur, Studium, Lehre und Umschulung (übrigens alles mit besten Abschlüssen – ich schreibe das nur, weil diese Bildungskarriere so aussieht als hätte ich nichts auf die Reihe bekommen und deshalb ständig was Neues angefangen, und das kann ich natürlich nicht auf mir sitzen lassen) habe ich wirklich so ziemlich alles durch, was man an Bildung machen kann, mehr Bildung geht eigentlich kaum – trotzdem würde ich mich nicht als intellektuell bezeichnen. Dazu bin ich einfach nicht der Typ. Soweit die heutigen Selbstbekenntnisse der Frau Professor Dr.h.c. Kretakatze.
Seid herzlich gegrüßt bis demnächst
Kretakatze
PS.: Lieber Lockwood, was Herrn Mozart betrifft, scheinen MAD-Hefte doch keine sehr zuverlässige Quelle zu sein (wen wundert’s?). Mozart war 5, als er seine erste Komposition ablieferte, die im Übrigen keine Symphonie sondern ein Klavierstück war. Da wird er wohl 3 gewesen sein, als er auf dem Topf saß, was für einen Jungen auch ein ganz normales Alter ist. Das hat auch weniger mit Intelligenz oder Genie als vielmehr mit Körperbeherrschung zu tun – aber lassen wir dieses unappetitliche Thema…
Apropos unzuverlässige Quelle – inzwischen musste ich herausfinden, dass der Wikipedia-Eintrag über Creedence Clearwater Revival zahlreiche Fehlinformationen enhält. Das hat mein Vertrauen in die Zuverlässigkeit von Wikipedia doch stark erschüttert. Ich denke bevor man blind den Wikipedia-Daten glaubt, sollte man doch besser noch ein oder zwei andere Quellen gegenchecken…
14.08.2007
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Hallo, Ihr beiden Hübschen,
da bin ich also und der Alltag hat mich wieder. Oh, Graus!, kann ich nur sagen. Aber es hilft ja nichts, ich habe nicht das Bankkonto eines Herrn Anderson (selbst das von Herrn Fogerty wäre nicht zu verachten), also ’ran ans Werk bzw. an die Arbeit …
Ihr wart ja inzwischen wieder fleißig, besonders Kretakatze, die sich nicht zurückhalten konnte, auf mein früheres Geschreibsel ausführlich zu antworten.
Zunächst eines vorneweg: Das Bild mit Ian Anderson im Rollstuhl ist KEINE Fotomontage, so etwas würde ich erst gar nicht wagen. Es ist real und stammt aus dem Jahre 1988, wenn ich das richtig sehe. Nach einem Sturz (von der Bühne? Ich weiß es nicht genau) trat der Meister tatsächlich im Rollstuhl auf und nutzte sein Unglück zu diesem makabren Scherz. Also wieder einer dieser Unwägbarkeiten des Anderson’schen Charakters.
Wenn ich auf alles, was Ihr da in der letzten Zeit verfasst habt, einginge, dann müsste ich auch ins Romanhafte ausschweifen. Daher doch möglichst in Kürze eine Antwort:
Der Vergleich Anderson-Fogerty hinkt für mich einfach deshalb, weil beide nicht zu vergleichen sind. Das spricht nicht unbedingt gegen Fogerty (oder gegen Anderson), aber für mich liegen zwischen den beiden Welten, sodass sich für mich (ich wiederhole: für mich) ein Vergleich nicht ziehen lässt. Trotzdem will ich kurz auf Deinen ‚Vergleich’, Kretakatze, zu sprechen kommen: Fogerty bzw. Anderson früher und heute. Wenn John Fogerty früher eher schüchtern wirkte, so wohl deshalb, weil er sich ganz auf seine Arbeit konzentrieren musste. Sowohl Fogerty als auch Anderson waren in ihrer Anfangszeit keine Virtuosen, denen das Spiel ohne Anstrengung aus dem Instrument perlte. Ian Anderson kompensierte seine noch nicht ganz ausgereifte Spieltechnik durch seine Bühnenpräsenz, während Fogerty sich voll und ganz auf sein Instrument (und seinen Gesang) konzentrierte. Anderson hatte also das nötige Selbstbewusstsein, das sich Fogerty erst noch erwerben musste. Mit den Jahren war es dann soweit (Übung macht den Meister): Fogerty wurde selbstbewusster und spielsicherer. Und das kommt dann auch auf der Bühne ’rüber. Und wie ist das bei Herrn Anderson heute? Er konzentriert sich verstärkt auf sein Flötenspiel. Das ist sein verbliebenes Pfund, mit dem er noch wuchern kann.
Diese Oimel-Verlängerung (Ihr wisst schon, was ich meine) ist eine Art Automatismus. In jungen Jahren war das vielleicht noch ganz witzig anzusehen, jetzt wirkt es natürlich lächerlich. Aber alle Welt kennt nun mal den Flötenoimel, also muss er gezeigt werden. Neben diesem Automatismus denke ich mir noch, dass Herr Anderson etwas falsche Vorstellungen von den Erwartungen seiner Zuschauer hat. Er denkt wahrscheinlich wirklich: Die wollen meinen Flötenoimel sehen! Also zeige ich ihn ihnen! Und so ist es auch mit den anderen Elementen seines Auftritts, z.B. seinem Outfit. Eine vielleicht halbwegs plausible Erklärung habe ich für Andersons Schlabberleibchen. Als Flötist hat er eine andere Armhaltung als ein Gitarrist. Die Oberarme liegen nicht am Körper an, sondern sind fast horizontal zur Schulter, die Unterarme sogar noch höher gestreckt. Da würde ein zu enges Jäckchen eher zwacken und die Blutzirkulation behindern. In jungen Jahren mag das noch gehen, aber bei einem 60-Jährigen ist das ein Problem. Vielleicht erklärt sich auch damit die Angewohnheit des Meisters, in Spielpausen mit der rechten Hand Pumpbewegungen zu vollziehen (das Thema hatte ich schon früher einmal mit Lockwood erörtert). Also lassen wir ihm sein luftiges Hemdchen. Damit er uns nicht mit Kreislaufzusammenbruch von der Bühne fällt.
Wie auch immer: Anderson ist ein Schauspieler. Da gebe ich Kretakatze Recht. Er war es und ist es noch immer und unterscheidet sich da von John Fogerty. Er umgibt sich mit einer Aura (fast hätte ich Dickicht geschrieben) von Unnahbarkeit (mir fällt kein besseres Wort auf die Schnelle ein).
Aber genug! Dass sein Outfit, sein Herumgehüpfe und was auch immer nicht zeitgemäß sind (im Sinne von: zu seinen 60 Lebensjahren passend), darüber sind wir uns einig. Ich habe 2005 mein letztes Tull-Konzert miterlebt und muss aber sagen, dass mich diese Äußerlichkeiten eigentlich nicht gestört hat. Mir ist einfach klar gewesen, dass ich 2005 nicht die Jungens von z.B. 1972 zu Gesicht bekäme.
Noch etwas zu den Anderson’schen Texten: Sicherlich finden sich viele autobiographische Bezüge in den Texten. Um diese Bezüge nicht allzu schnell sichtbar werden zu lassen, greift der Dichter gern zu Mittelchen, die das Ganze mehr oder weniger verhüllen sollen (Metaphern, Allegorien usw.). Mögen die gewählten Bilder für den Autoren klar und verständlich sein – für den Leser sind sie es noch lange nicht, besonders dann, wenn eine Bildersprache benutzt wird, die sich nicht im gemeinsamen Fundus einer Sprache wiederfindet. Dann kann man als außenstehender Leser (oder Hörer) nur noch die Farbigkeit oder Wortgewalt der beschriebenen Bilder bewundern. Manche sehen das denn vielleicht auch als Fiebrigkeit des Dichters.
Apropos Andersons 60. Geburtstag – da hat sich der Meister doch wohl mit Recken der Stones (Keith Richards und Ron Wood) getroffen, um aus diesem Anlass (mit was auch immer) anzustoßen. Man kennt sich also. Nicht erst seit dem Rock ‚n’ Roll Circus von 1968 (lief übrigens dieser Tage im Fernsehen, es war auf Arte; 3Sat hatte wohl am 10. August in der Sendung Kulturzeit Herrn Anderson ein Ständchen gebracht – eigentlich gucke ich mir die Sendung öfter an, sogar im Urlaub, da sie gleich nach den Heute-Nachrichten folgt, aber an dem Tag war ich mit meinen Lieben in München zum Shoppen).
Ich hoffe, nicht allzu viel Blödsinn geschrieben zu haben. Mit Selbsterkenntnis ist das so etwas, Lockwood, bzw. mit Selbstfindung, Kretakatze.
Nun denn – bis bald
Wilfried
16.08.2007