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Über WilliZ

Wurde geboren (in Berlin-Schöneberg), lebt (nach einem Abstecher nach Pforzheim, längere Zeit in Bremen und Hamburg) in dem Örtchen Tostedt am Rande der Lüneburger Heide - und interessiert sich für Literatur, Musik, Film und Fotografie (sowohl passiv wie aktiv) ... Ach, und gern verreise ich auch!

Neil Postman: Wir amüsieren uns zu Tode

    „Wir beeilen uns sehr, einen magnetischen Telegraphen zwischen Maine und Texas zu konstruieren, aber Maine und Texas haben möglicherweise gar nichts Wichtiges miteinander zu besprechen. […] Wir beeilen uns, den Atlantischen Ozean zu durchkabeln, um die Alte Welt der Neuen ein paar Wochen näher zu rücken, vielleicht lautet aber die erste Nachricht, die in das große amerikanische Schlappohr hineinrinnt: Prinzessin Adelheid hat den Keuchhusten.“

Neil Postman (* 1931 in New York; † 2003 ebenda) war ein US-amerikanischer Medienwissenschaftler, insbesondere ein Kritiker des Mediums Fernsehen, und in den 1980er-Jahren ein bekannter Sachbuchautor. In Deutschland wurde besonders sein Buch Wir amüsieren uns zu Tode – Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie (mir liegt vor: S. Fischer – 5. Auflage. 82. – 110. Tausend, 1986 – aus dem Amerikanischen übersetzt von Reinhard Kaiser – Original: Amusing Ourselves to Death. Public Discourse in the Age of Show Business, 1985) bekannt.

    Neil Postman: Wir amüsieren und zu Tode

Orwell fürchtete diejenigen, die Bücher verbieten. Huxley befürchtete, daß es eines Tages keinen Grund mehr geben könnte, Bücher zu verbieten, weil keiner mehr da ist, der Bücher lesen will.“ – „In 1984 […] werden die Menschen kontrolliert, indem man ihnen Schmerz zufügt. In Schöne neue Welt werden sie dadurch kontrolliert, daß man ihnen Vergnügen zufügt. Kurz, Orwell befürchtete, das, was uns verhaßt sei, werde uns zugrunde richten. Huxley befürchtete, das, was wir lieben, werde uns zugrunde richten.
Dieses Buch handelt von der Möglichkeit, daß Huxley und nicht Orwell recht hatte.“
(aus der Einleitung, S. 7f.)

„ […] kündigt [Postmans] Buch […] neuen, grundsätzlichen Meinungsstreit an. Denn diesmal kritisiert er die allmähliche Zerrüttung der Kulturtätigkeiten durch den gewerbsmäßigen Illusionismus, das totale Entertainment. Postmans These lautet, daß die Medien zunehmend nicht nur bestimmen, was wir kennenlernen und erleben, welche Erfahrungen wir sammeln, wie wir Wissen ausbilden, sondern auch, was und wie wir denken, was und wie wir empfinden, ja, was wir von uns selbst und voneinander halten sollen. Zum ersten Mal in der Geschichte gewöhnen die Menschen sich daran, statt der Welt ausschließlich Bilder von ihr ernst zu nehmen. An die Stelle der Erkenntnis- und Wahrnehmungsanstrengung tritt das Zerstreuungsgeschäft. Die Folge davon ist ein rapider Verfall der menschlichen Urteilskraft. In ihm steckt eine unmißverständliche Bedrohung: Er macht unmündig oder hält in der Unmündigkeit fest. Und er tastet das gesellschaftliche Fundament der Demokratie an. Wir amüsieren uns zu Tode.“
(aus dem Klappentext)

Neil Postmans Buch beleuchtete Mitte der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts die Medienlandschaft der USA, besonders das Fernsehen. Was wir als ‚amerikanische Verhältnisse’ bezeichnen ist längst zu uns nach Europa herübergeschwappt. Von 50 TV-Sender und mehr werden wir in Deutschland 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche berieselt. Das Fernsehen ist lange schon zum Leitmedium bei uns geworden.

„Gegen das ‚dumme Zeug’, das im Fernsehen gesendet wird, habe ich nichts, es ist das beste am Fernsehen, und niemand und nichts wird dadurch ernstlich geschädigt. Schließlich messen wir eine Kultur nicht an den unverhüllten Trivialitäten, die sie hervorbringt, sondern an dem, was sie für bedeutsam erklärt. Hier liegt unser Problem, denn am trivialsten und daher am gefährlichsten ist das Fernsehen, wenn es sich anspruchsvoll gibt und sich als Vermittler bedeutsamer kultureller Botschaften präsentiert. Paradoxerweise verlangen Intellektuelle und Kritiker vom Fernsehen häufig genau dies.“ (S. 26 f.)

Postmans Kritik am Fernsehen gilt natürlich auch heute noch und lässt sich mit Einschränkungen auch auf das Internet ausweiten. Aber beginnen wir in einer Zeit, in der bereits Henry David Thoreau die anfangs erwähnte ‚Belanglosigkeit’ einer Mitte des 19. Jahrhundert aufkommenden neuen technischen Errungenschaft, die Telegrafie, erkannte.

„Der Angriff des Telegraphen auf die aus dem Buchdruck erwachsene Definition von Urteilsbildung hatte drei Stoßrichtungen: Er verschaffte der Belanglosigkeit, der Handlungsunfähigkeit und der Zusammenhanglosigkeit Eingang in den Diskurs. Entfesselt wurden diese bösen Geister des Diskurses dadurch, daß die Telegraphie der Idee der kontextlosen Information Legitimität verlieh, also der Vorstellung, daß sich der Wert einer Information nicht unbedingt an ihrer etwaigen Funktion für das soziale und politische Entscheiden und Handeln bemißt, sondern einfach daher rühren kann, daß sie neu, interessant und merkwürdig ist. Der Telegraph machte aus der Information eine Ware, ein ‚Ding’, das man ohne Rücksicht auf seinen Nutzen oder seine Bedeutung kaufen und verkaufen konnte.“ (S. 85)

Zuvor waren es die Druckpresse, der Buchdruck, die den Diskurs bestimmten: „Ich möchte die Zeit, in der der amerikanische Geist unter der Souveränität der Druckpresse stand, das Zeitalter der Erörterung nennen. Die Erörterung ist zugleich Denkweise, Lernmethode und Ausdrucksmittel. Fast alle Eigenschaften, die wir einem entfalteten Diskurs zuordnen, wurden durch den Buchdruck verstärkt, der die stärkste Tendenz zu einer erörternden Darstellungsweise aufweist: die hochentwickelte Fähigkeit zu begrifflichem, deduktivem, folgerichtigem Denken, die Wertschätzung von Vernunft und Ordnung; der Abscheu vor inneren Widersprüchen, die Fähigkeit zur Distanz und zur Objektivität; die Fähigkeit, auf endgültige Antworten zu warten.“ (S. 82)

Mit der Zeit bestimmten Bilder, weniger das geschriebene Wort die Medienlandschaft: Manches Bild sagte plötzlich mehr aus als viele Worte:

„Die neuen Bildformen mit der Photographie in vorderster Linie traten nicht als bloße Ergänzung von Sprache auf, sie waren vielmehr bestrebt, die Sprache als unser wichtigstes Instrument zur Deutung, zum Begreifen und Prüfen der Realität zu ersetzen. […] Dadurch, daß das Bild in den Mittelpunkt des Interesses trat, wurden die überkommenden Definitionen der Information, der Nachricht und in erheblichen Umfang der Realität selbst untergraben.“ (S. 95)

„‚Bilder’, so hat Gavriel Salomon geschrieben, ‚muß man erkennen, Wörter muß man verstehen’. Damit will er sagen, daß die Photographie die Welt als Gegenstand präsentiert, während die Sprache sie als Idee präsentiert.“ (S. 93)

Es geht dabei nicht um Falschinformationen, sondern um Desinformationen: „Desinformation ist nicht dasselbe wie Falschinformation. Desinformation bedeutet irreführende Information – unangebrachte, irrelevante, bruchstückhafte oder oberflächliche Information -, Information, die vortäuscht, man wisse etwas, während sie einen in Wirklichkeit vom Wissen weglockt. […] Unwissenheit läßt sich allemal beheben. Aber was sollen wir tun, wenn wir die Unwissenheit für Wissen halten?“ (S. 133 f.)

„Wenn ein Volk sich von Trivialitäten ablenken läßt; wenn das kulturelle Leben neu bestimmt wird als eine endlose Reihe von Unterhaltungsveranstaltungen, als gigantischer Amüsierbetrieb, wenn der öffentliche Diskurs zum unterschiedslosen Geplapper wird, kurz, wenn aus Bürgern Zuschauer werden und ihre öffentlichen Angelegenheiten zur Varieté-Nummer herunterkommen, dann ist die Nation in Gefahr – das Absterben der Kultur wird zur realen Bedrohung.“ (S. 190)

Wie kann man dem aber entgegenwirken? „Das Problem besteht … nicht darin, was die Leute sehen. Es besteht darin, daß wir sehen. Und die Lösung müssen wir darin suchen, wie wir sehen.“ (S. 194)

Postman setzt dabei auf die Schulen und die Erziehung: „Schon immer galt die Schule in Amerika als Patentlösung für alle bedrohlichen sozialen Konflikte, und ein solcher Vorschlag beruht natürlich auf einen naiven Vertrauen in die Wirksamkeit von Erziehung.“ (S. 197)

… und weiter: „Die Lösung, die ich hier vorschlage, ist die gleiche, die Aldous Huxley vorgeschlagen hat. Und ich kann es nicht besser als er. Er meinte mit H. G. Wells, daß wir in ein Wettrennen zwischen der Bildung und der Katastrophe eingetreten sind, und immer wieder hat er in seinen Schriften betont, wie dringlich es sei, die Politik und die Epistemologie der Medien begreifen zu lernen. Letzten Endes wollte er uns zu verstehen geben: Die Menschen in Schöne neue Welt leiden nicht daran, daß sie lachen, statt nachzudenken, sondern daran, daß sie nicht wissen, worüber sie lachen und warum sie aufgehört haben, nachzudenken.“ (S. 198)

Computer spielten vor knapp dreißig Jahren noch nicht die Rolle, die sie heute spielen samt Internet und all den sozialen Medien. In vielem lässt sich Postmans Kritik am Fernsehen auch auf das Internet übertragen. Besonders die sozialen Medien strotzen geradezu von Belanglosigkeiten und unnötigem Wissen. Auf der anderen Seite bietet das Internet aber die Möglichkeit, schnell an Informationen zu kommen, die man z.B. für die Arbeit, aber auch privat benötigt. Hier gilt natürlich, was für Medien anderer Art (Bücher eingeschlossen) ebenso gilt: Informationen sind an anderer Stelle auf ihre Richtigkeit zu überprüfen.

Es ist wenig, was Postman zu Computern schreibt, u.a.: „ … daß die Speicherung gewaltiger Datenmengen und ihre lichtgeschwinde Abrufbarkeit zwar für große Organisationen von hohem Wert sind, daß sie den meisten Menschen aber bei wichtigen Entscheidungsfindungen wenig geholfen und mindestens ebenso viele Probleme hervorgebracht wie gelöst haben.“ (S. 196) – Der erste Halbsatz ließ mich aufhorchen, denn da kam mir natürlich sogleich der NSA-Skandal in den Sinn.

Neil Postmans Buch ist auch heute noch aktuell, wenn sich die ‚Akzente’ auch deutlich verschoben haben. Es regt auf jeden Fall zum Nachdenken an – und darin besteht ja der Lösungsansatz, den Postman vertritt: das Erkennen der Gefahr für Kultur und Demokratie, die durch ein Überangebot an belanglosen Informationen hervorgerufen wird. Ich habe es auf jeden Fall mit großem Interesse erneut gelesen.

Zu Huxleys ‚Schöne neue Welt’ und Orwells ‚1984’ sowie zu den Verfilmungen beider Romane komme ich demnächst zu sprechen.

Siehe auch meine Beiträge:
Jugendkriminalität und das geschriebene Wort
Die Philosophie der Uhr

Die Philosophie der Uhr

„Wer ein Buch liest, wer vor dem Fernseher sitzt oder wer auf seine Armbanduhr schaut, der interessiert sich im allgemeinen nicht dafür, wie diese Vorgänge sein Denken organisieren und kontrollieren, und erst recht nicht dafür, welche Vorstellung von der Welt das Buch, der Fernseher oder die Uhr ihm nahe legen. Aber es gibt Menschen, die diese Dinge registriert haben, vor allem in unserer Zeit. Und einer der hellsichtigsten unter ihnen war Lewis Mumford. Er gehört nicht zu denen, die bloß deshalb auf die Uhr sehen, weil sie wissen wollen, wie spät es ist; sehr viel mehr interessiert er sich dafür, wie die Uhr die Vorstellung von einem ‚Moment’ und einer Abfolge von Momenten hervorbringt. Er beschäftigt sich mit der Philosophie der Uhr, mit der Uhr als Metapher, ein Thema, über das unsere Wissenschaften bisher wenig zu sagen hatten und die Uhrmacher schon gar nichts. „Die Uhr’, so erklärt Mumford, ‚ist ein Antriebsmechanismus, dessen >Produkt< Sekunden und Minuten sind.’ Die Uhr, die dieses Produkt erzeugt, löst die Zeit aus unserem Erlebniszusammenhang heraus und nährt damit den Glauben an eine unabhängige Welt mathematisch meßbarer Sequenzen. Die Gliederung der Zeit in eine Abfolge von Momenten ist, wie sich herausstellt, nicht gott- oder naturgegeben. Der Mensch selbst hat sie hervorgebracht, indem er sich mittels einer von ihm geschaffenen Maschine mit sich selbst unterhält.

In seinem großen Buch >Technics and Civilization< hat Mumford dargestellt, wie uns die Uhr, beginnend im 14. Jahrhundert, zunächst zu pünktlichen Zeit-Messern, dann zu Zeit-Sparern und heute schließlich zu Dienern der Zeit gemacht hat. Im Zuge dieser Entwicklung haben wir gelernt, der Sonne und den Jahreszeiten unseren Respekt zu entziehen, denn in einer Welt, die aus Sekunden und Minuten besteht, ist die Autorität der Natur abgeschafft. Mit der Erfindung der mechanischen Uhr, so kann Mumford zeigen, hörte die Ewigkeit auf, Maßstab und Fluchtpunkt menschlichen Erlebens und Handelns zu sein. Es mag manchen überraschen, aber das unerbittliche Ticken der Uhren hat vielleicht mehr zur Schwächung der Allmacht Gottes beigetragen als sämtliche Traktate der Philosophen der Aufklärung; die Uhr erzeugte eine neue Form des Austauschs zwischen den Menschen und Gott, wobei Gott offenbar der Verlierer blieb. Vielleicht hätte Moses ein weiteres Gebot erlassen sollen: Du sollst dir keine mechanischen Nachbildungen der Zeit machen.“

aus: Neil Postman: Wir amüsieren uns zu Tode – Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie, 1986, S. 20 f .

Die Philosophie der Uhr

Zu dem Buch von Neil Postman komme ich noch. In diesen zwei Absätzen befasste sich Postman mit den Gedanken Lewis Mumfords zur ‚Philosophie der Uhr’. Die Zeit ist ein besonderes Phänomen. Und der Mensch hat sie sich Untertan gemacht, in dem er sie in berechenbare Einheiten zerstückelte. Welche Veränderungen damit einhergehen, ist den meisten Menschen heute nicht bewusst, auch wenn wir alle das ‚Diktat der Zeit’ kennen. Unser tägliches Leben ist von der Zeit geprägt, die uns die Uhren dieser Welt vorgeben. Höchstens an unseren freien Tagen versuchen wir uns von diesem ‚Diktat’ zu befreien, was aber meist nur unzureichend gelingt. Selbst am Wochenende oder während des Urlaubs bestimmt die Zeit unseren Tagesrhythmus.

Vielleicht sollten wir es einmal wagen, ohne Blick auf die Uhr einen Tag zu verbringen und dabei einfach einmal wieder ‚in den Tag hineinzuleben’.

Kastanienkerzengerade

Es ist schon erstaunlich, wie schnell manche Pflanze wächst. Irgendwann muss sich bei uns eine Kastanie (genauer: Rosskastanie) selbst verpflanzt haben. So ein kleines Kastanienbäumchen hat ja etwas. Es ist schön anzuschauen. Aber in wenigen Jahren gedeiht so ein Bäumchen zum ‚jugendlichen’ Baum. Und inzwischen ist der Kastanienbaum vor unserer Haustür haushoch hinaufgeschossen. Jetzt im Mai blüht ‚unsere’ Kastanie. Und bei den Blüten spricht man auch von Kerzen, weil sich die Blüten wie Kerzen aus dem grünen Laub aufrichten.

Kastanie in AlbinZ Garten - Mai 2014

'Kerzen' der Kastanie in AlbinZ Garten - Mai 2014

'Kerzen' der Kastanie in AlbinZ Garten - Mai 2014

‚Kerzen‘ der Kastanie in AlbinZ Garten – Mai 2014

Hummeltag

Zum Ausgleich zu den vielen „katholischen Feiertagen“ in Bayern, in deren Genuss unsere Münchener Arbeitskollegen kommen, haben wir hier in Hamburg heute gewissermaßen einen Für-die-vielen-katholischen-Feiertage-in-Bayern-Ausgleichstag. Da der Name etwas zu lang wäre, haben wir uns auf Hummeltag geeinigt. Der leitet sich vom so genannten Hamburger Gruß ab („Hummel, Hummel!“ – „Mors, Mors!“). Außerdem klingt er überhaupt ganz positiv (wer mag nicht diese possierlich brummend-summenden Tierchen).

Hummeltag Hamburg 2014

Dank des gestrigen Feiertags (Tag der Arbeit) haben wir also ein „verlängertes Wochenende“ mit insgesamt vier freien Tagen (viele andere nehmen heute einen Brückentag). So lässt sich der Mai gut angehen.

Tag der Arbeit 2014

Neben dem Tanz in den Mai (der 30. April ist auch die Walpurgisnacht) und der Tradition des Maibaumaufstellens ist der 1. Mai seit vielen Jahren der Tag der Arbeit, also der Tag, an dem die Arbeiterbewegung ihre Forderungen durch Demonstrationen bekräftigt. Statt Arbeiter setze man heute Arbeitnehmer.

In einer Gesellschaft, die sich als zivilisatorisch versteht, sollte jeder durch seinen Fähigkeiten entsprechende Arbeit den ihm angemessenen Lebensunterhalt bestreiten können. Dass das nicht immer selbstverständlich war und teilweise auch heute nicht ist, bedarf keiner weiteren Erörterung.

Seit 2001 ist der 1. Mai auch der internationale EuroMayDay, dessen zentrales Anliegen ist, den verschiedenartigsten Formen von Prekarisierung in Arbeit und Leben (Unsicherheiten der Erwerbstätigkeit z.B. durch geringe Arbeitsplatzsicherheit) einen Ausdruck zu geben, die durch die klassischen Institutionen der Arbeiterbewegung und der Linken nicht (mehr) organisiert werden.

Tanz in den Mai: Annnngieeeeeeee …

Kaum hatte der hiesige Bürgermeister das Fest für eröffnet erklärt und seine Rede mit „Nun tanzt mal schön?“ beendet, übernahmen wir das Zepter: Tanz in den Mai! Und wir sorgten für die Schweinemucke.

Es dauerte zwei, drei Stücke, bis sich das erste Pärchen auf das Parkett wagte. Und bis zum sechsten Lied waren es bereits fünf Paare, die mehr oder weniger tanzten. Unser Sänger versuchte mit lockeren Sprüchen, etwas Stimmung in die Bude zu bringen. Aber noch waren die meisten damit beschäftigt, ihren Alkoholpegel steigen zu lassen und nur die wirklich Wagemutigen tanzten.

Nach acht Liedern gab es die erste Pause. Das war natürlich Grund für Unmutsbekundungen. Das kannten wir und hauten nach nur fünf Minuten wiederum in die Saiten, Tasten und Trommelfelle. So ging das die ganzen nächsten Runden weiter.

Nach fast drei Stunden kam mit wachsendem Alkoholkonsum auch die Stimmung. Schon schwankte der erste Geselle auf unseren Sänger zu und fragte: „Könnt ihr auch Angie spielen?“. Natürlich konnten wir auch „Angie“ von den Stones spielen. Man kennt ja seine Pappenheimer. „Auf Wunsch eines einsamen Herren spielen wir jetzt Angie!“, verkündete unser Sänger.

Beim Refrain (eigentlich nur beim Wort „Angie“) stimmte der hiesige Männergesangsverein mit ein: „Annnngieeeeeeee …!“. „Na, der Text liegt wohl an der Kasse, was Jungs?!“, wagte unser Sänger und Ansager die Sangeslust der Dörfler zu karikieren.

Endlich schlug es vom Kirchturm zwölf, also Zeit, „Der Mai ist gekommen!“ anzustimmen. Schon kam ein weiterer Geselle und forderte vehement nach der Herausgabe eines Mikrofons. Das ließ uns Böses ahnen: Jetzt wollte der Saal das Kommando übernehmen und wir sollten lediglich die Begleitmusik dazu liefern. Da muss man hart bleiben. Man muss alle Hexen und Teufel beschwören, damit man das Ruder fest in der Hand behält: „Nö, Jungs, vielleicht später …!“.

Ein Später gibt es bei solchen Veranstaltungen meist nicht, ist auch gut so. Gegen vier Uhr morgens bauten wir unsere Anlage zusammen, und der Wirt war damit beschäftigt, die letzten Schnapsleichen von der Tanzfläche zu räumen.

Als wir in unserem VW-Bus saßen, kam die Sonne bereits am Horizont hervor …

siehe auch: Jethro Tull: Beltane

Wenn’s um die ‚Wurst’ geht …

Wenn’s um die ‚Wurst’ geht, zeigen manche plötzlich Nerven. Bis zum 27. Spieltag zeigten sich die Bayern nicht nur allein allen anderen überlegen, sondern geradezu uneingeschränkt souverän – national wie international. Dann rieselte plötzlich Sand ins Getriebe und es gab nur einen Punkt (am 28. Spieltag ein 3:3 zu Hause gegen Hoffenheim) aus drei Spielen (dem 0:1 in Augsburg folgte eine 0:3-Niederlage zu Hause gegen Dortmund). Alles halb so schlimm, tönte es aus München. Aber jetzt nach der 0:1-Niederlage im Halbfinale der Champions League bei Real Madrid steht der FC Bayern heute im Rückspiel plötzlich mit dem Rücken zur Wand. Sollten die Münchener wirklich auf der Zielgeraden schwächeln?

Als Werder Bremen am letzten Wochenende zur Halbzeit in München mit 2:1 gegen die Bayern führte, bedurfte es nur der Einwechslung von Philipp Lahm – und schon waren die Bayern wieder im Fahrwasser. Ausgerechnet der Ex-Bremer Claudio Pizarro drehte mit einem Doppelpack die Partie – und am Ende siegten die Bayern wieder einmal sehr selbstsicher mit 5:2 gegen plötzlich wenig gewitzte Bremer. Man kennt außerdem das schon sprichwörtliche ‚Bayern-Glück’. Also sehen wir die Bayern doch am 24. Mai im Champions League-Finale von Lissabon ? Ich denke: ja !

Apropos Bayern! Die spielen beim Bundesliga-Finale (noch zwei Spieltage in der jetzt 51. Bundesliga-Saison warten auf die Akteure), was den Abstieg angeht, eine noch wichtige Rolle. Nachdem es der SV Werder geschafft hat, die Klasse zu halten, sind es nur noch vier Vereine, die für den Abstieg in die 2. Liga in Frage kommen. Und die weitaus besten Karten hat dabei natürlich der VfB Stuttgart mit 32 Punkten und einer Tordifferenz von –11. Das sind fünf Punkte vor dem HSV, der zz. auf Platz 16, also dem Relegationsplatz steht. Da es nur noch höchstens sechs Punkte für jeden Fußball-Club zu holen gibt, geht es eigentlich nur noch darum, wer von den drei Ligaletzten, diesen 16. Platz am Ende innehat.

Stuttgart spielt übrigens zu Hause noch gegen Wolfsburg und am letzten Spieltag auswärts gegen die Bayern. Wolfsburg hat natürlich noch Ambitionen auf den 4. Tabellenplatz, der für die Champions League-Qualifikation berechtigt. Trotzdem sollte ein Punkt (also ein Unentschieden) für Stuttgart im letzten Heimspiel möglich sein.

Das sieht für den HSV schon schlechter aus. Mit 27 Punkten bei einer Tordifferenz von –20 warten in Hamburg zunächst die Bayern auf den Verein. Und im letzten Spiel geht es nach Mainz, die unbedingt ihre Teilnahme an der Europa League sichern möchten. Null Punkte für den HSV – aus meiner Sicht.

    Der ‚unabsteigbare’ HSV: Läuft die Uhr jetzt ab? Stand: 29.04.2014 – 8 Uhr 20

Der ‚unabsteigbare’ HSV: Läuft die Uhr jetzt ab? Stand: 29.04.2014 – 8 Uhr 20

Dann ist da der 1. FC Nürnberg mit 26 Punkten (und einer Tordifferenz von schon –28 Toren). Die spielen zunächst zu Hause gegen Hannover 96, dann auf Schalke, die ihren 3. Platz unbedingt halten wollen. Der fast schon ewige Tabellenletzte dieser Saison, die Eintracht aus Braunschweig kommt zz. auf 25 Punkte (bei ebenfalls –28 Toren Differenz) und haben noch Augsburg (die Europa League-Teilnahme ist für die bayrischen Schwaben noch möglich) zu Hause und auswärts Hoffenheim als Gegner. Da sind durchaus noch Punkte für einen der beiden Abstiegskandidaten möglich.

Ich will nicht orakeln. Und mit Tipps liege ich meist ziemlich daneben. Mehr als der Verbleib des HSV auf dem Relegationsplatz ist allerdings bei aller Liebe nicht drin. Und dann ginge es gegen den Drittplatzierten der 2. Liga (möglich wären der SC Paderborn 07, die SpVgg Greuther Fürth oder vielleicht doch noch der 1. FC Kaiserslautern – ich tippe auf Fürth) um den Erhalt der Zugehörigkeit auch im 53. Jahr des Bestehens der Bundesliga. Ist der Hamburger Sportverein wirklich unabsteigbar? Ich wage doch einen Tipp und der lautet: Nein! Nürnberg gewinnt am kommenden Samstag gegen Hannover und überholt damit den HSV, der als Tabellen 17. neben Braunschweig direkt in die zweite Liga absteigt.

Okay, liebe Hamburger, noch ist nicht aller Tage Abend. Und solltet Ihr doch noch auf Platz 16 bleiben, dann bricht Euer Genick sicherlich in der Relegation. Ein Jahr Bundesligapause (oder zwei) werden Euch ganz gut tun. Dann wird es vielleicht wirklich wahr: Zwei Vereine. Eine Stadt. Eine Liga! (HSV und FC St. Pauli – Hamburg – 2. Liga)

Nachtrag 1: Ich und meine Tipps: Bayern erlebte gestern im Rückspiel ein 0:4-Debakel gegen Real Madrid und ist damit im Halbfinale der Champions League ausgeschieden. Nichts mit erneutem Triple wie im letzten Jahr. Da kann man nur hoffen, dass die Bayern am Samstag nicht auch noch dem HSV das Feld überlassen …

Jugendkriminalität und das geschriebene Wort

In einer vor Kurzem vom Center for Crime and Justice am King’s College in London durchgeführten Studie wurden 120 verurteilte Straßenräuber gefragt, warum sie ihre Straftaten begangen hatten. Ihre Antworten sagten eine Menge über das moderne britische Straßenleben aus. Nervenkitzel. Spontaner Impuls. Status. Und finanzieller Gewinn – in ebendieser Reihenfolge. Genau das sorglose, gefühllose Verhalten, das man oft bei Psychopathen antrifft.
Erleben wir also die Entstehung einer sub-psychopathischen Minderheit, für die die Gesellschaft nicht existiert? Einer neuen Spezies von Individuen, für die es weitgehend keine sozialen Normen gibt, die keinen Respekt vor den Gefühlen anderer haben und gleichgültig gegenüber den Folgen ihres Handelns sind? […] Den Ergebnissen einer neueren, von Sara Konrath und ihrem Team am Institute for Social Research der University of Michigan durchgeführten Studie zufolge lautet die Antwort auf diese Fragen Ja.
(Kevin Dutton: Psychopathen, 2013)

Von Erasmus im 16. Jahrhundert bis hin zu Elizabeth Eisenstein im 20. Jahrhundert sind fast alle Gelehrten, die sich mit der Frage befaßt haben, wie sich das Lesen auf die geistige Verfassung eines Menschen auswirke, zu dem Schluß gelangt, daß es die Rationalität fördert; daß der sequentielle, aussagebestimmte Charakter des geschriebenen Wortes das unterstützt, was Walter Ong die „analytische Verarbeitung von Wissen“ nennt. Wer sich auf das geschriebene Wort einläßt, der macht sich eine Denkweise zu eigen, die hohe Ansprüche an die Fähigkeit, zu klassifizieren, Schlüsse zu ziehen und logisch zu denken, stellt. Dazu gehört, daß man imstande ist, Lügen, Irrtümer und übermäßige Verallgemeinerungen zu erkennen oder eine mißbräuchliche Verwendung der Logik und des gesunden Menschenverstandes aufzudecken. Dazu gehört auch, daß man Gedanken zu gewichten, Behauptungen zu vergleichen und gegeneinander abzuwägen und eine allgemeine Aussage mit einer anderen zu verbinden vermag. Um dies zu erreichen, muß man einen gewissen Abstand von den Wörtern selbst gewinnen, was durch den isolierten, unpersönlichen Text selbst unterstützt wird. Deshalb bricht ein guter Leser nicht in lauen Beifall aus, sobald er auf einen treffenden Satz oder auf eine geistreiche Wendung stößt. Hierzu ist das analytische Denken zu konzentriert und zu distanziert.
(Neil Postman: Wir amüsieren und zu Tode, 1985)

Es ist nichts Neues, dass die Alten über die junge Generation stöhnt. Junge Menschen neigen nun einmal dazu, sich von den Älteren zu unterscheiden, was diese oft mit Unverständnis quittieren. Trotzdem muss nicht ausdrücklich betont werden, dass die heutige junge Generation nicht schlechter oder besser ist als z.B. meine Generation. Aber es gibt Hinweise, dass sich bestimmte Trends entwickelt haben, die sich zumindest bei einer Minderheit der Jungen zunehmend negativ auswirken.

Zwischen den Texten von Kevin Dutton und Neil Postman liegen fast 30 Jahre. Auf den ersten Blick haben beide Texte nichts miteinander gemeinsam. Ich denke aber, doch …

Es ist erst wenige Wochen her, da vermeldeten die Medien einen Rückgang der Jugendkriminalität. Allerdings sei die Jugendgewalt deutlich brutaler geworden. Das deckt sich durchaus mit der Aussage von Kevin Dutton, der von einer möglichen „Entstehung einer sub-psychopathischen Minderheit“ spricht, die skrupel- und gewissenloser gegen ihre Mitmenschen vorgeht.

Ein Grund hierfür könnte die unzureichende Urteilsbildung in einer Zeit sein, die zunehmend von der Unterhaltungsindustrie geprägt ist (hierzu und zu dem Buch von Neil Postman komme ich später noch einmal ausführlicher zu sprechen). Dazu gehört auch, dass gerade ein Großteil der jungen Menschen weniger liest. Die positiven Auswirkungen des Lesens beschreibt Neil Postman sehr eingehend. Daraus lassen sich die negativen Folgen des Nichtlesens ableiten.

Natürlich gibt es jede Menge Schund zu lesen. Was in irgendwelchen Bestsellerlisten auftaucht, muss nicht unbedingt gut sein. Aber immer ist es nicht nur nach meiner Meinung besser zu lesen als gar nicht.

Neil Postman schreibt: „Problematisch am Fernsehen ist nicht, dass es uns unterhaltsame Themen präsentiert, problematisch ist, dass es jedes Thema als Unterhaltung präsentiert.“ Und was fürs Fernsehen gilt, gilt u.a. auch für ein Medium wie das Internet. Es sind Bilder, die längst das Wort abgelöst haben. Selbst wenn Wörter ein Bild umrahmen (wer liest den Text denn noch), so ist es das Bild, das sich uns einprägt. Postman weiter: „Fernsehen wurde nicht für Idioten erschaffen – es erzeugt sie“.

Wen wundert’s da noch, wenn manch jugendlicher ‚Idiot’ des Nervenkitzels wegen zum brutalen Straftäter wird. Es sind nicht nur die so genannten Ballerspiele, es ist die kritiklose Spaßgesellschaft insgesamt, in der dank einer geldgierigen Unterhaltungsindustrie der einzelne zu verblöden droht.

Tulpen mit Osterhase in AlbinZ Garten (April 2014)

Alle Jahre wieder blühen (nicht nur) in unserem Garten die Tulpen. Auch an den wenigen Rhododendronbüsche öffnen sich in diesem Jahr schon frühzeitig die roten und weißen Blüten.

Um unseren Garten kümmert sich meine Frau. Ich bin nur fürs Grobe zuständig, z.B. fürs Rasenmähen oder wenn es etwas Schwereres zu schleppen gibt. Und erst am Dienstag habe ich mit unserem jüngeren Sohn die Gartenabfälle mit dem Auto zum Kompostplatz in Todtglüsingen gekarrt (haushaltsübliche Kleinmengen sind kostenlos).

Aber natürlich (sic!) erfreue ich mich ebenso an der Blütenpracht wie meine Frau. Es ist einfach schön zu sehen, wie alles wächst und gedeiht. Und in diesem Jahr ist alles zwei bis drei Wochen früher dran, weil der Frühling schon frühzeitig Einzug hielt.

Tulpen in Albinz Garten (April 2014)

Tulpen in Albinz Garten (April 2014)

Tulpen in Albinz Garten (April 2014)

Tulpen (und mehr) in Albinz Garten (April 2014)

Tulpen in Albinz Garten (April 2014)

Rhododendren mit Osterhase in Albinz Garten (April 2014)

Kandidaten für das Samtgemeindebürgermeisteramt stellen sich vor

Morgen am Sonntag, den 27.04.2014 um 15.00 Uhr, findet im Gasthaus Zum Meierhof ein Event der Töster Bürgerstiftung statt. Es gibt Kaffee und Kuchen und die Horny Jazz Union sorgt mit Musik für gute Stimmung. Zudem stellen sich alle drei Kandidaten für das Samtgemeindebürgermeisteramt vor:

Dirk Bostelmann, Reinhard Riepshoff sowie Peter Dörsam. Im ersten Programmteil stellt Walter Marquardt, ehemaliger Direktor des Gymnasiums in Tostedt, als Moderator die Fragen. Im zweiten Teil der Veranstaltung können BürgerInnen die Kandidaten (kritisch) befragen.

Wichtig ist, dass die Veranstaltung gut besucht wird. Nach vorliegenden Informationen wurde im Vorfelde versucht, dieses Event ein wenig zu boykottieren. Umso wichtiger ist es, dass die Veranstaltung ein voller Erfolg wird.

Der Eintritt beträgt 8 Euro 50 und enthält u.a. ein Kaffeegedeck. Der Rest geht an die gemeinnützige Töster Bürgerstiftung.

Außerdem kann jeder Teilnehmer gegen eine kleine Spende den Töster Wahltipp abgeben und prognostizieren, welche prozentuale Wahlquote die einzelnen Kandidaten bei der Samtgemeindebürgermeisterwahl am 25.05.2014 erreichen werden.

Die Auswertung der abgegebenen „Stimmzettel“ erfolgt am 26.05.2014. Die drei Wahltipper mit der geringsten Abweichung zum tatsächlichen Wahlergebnis können sich über Restaurantgutscheine freuen. Bei einem etwaigen Gleichstand entscheidet die Wahlbeteiligungsprognose, welche ebenfalls angegeben werden muss.

Kevin Dutton: Psychopathen

Es ist schon wieder einige Tage her, da habe ich das Buch Psychopathen: Was man von Heiligen, Anwälten und Serienmördern lernen kann – aus dem Englischen von Ursula Pesch (Deutscher Taschenbuch Verlag – dtv premium 24975 – deutsche Erstausgabe 2013) von Kevin Dutton zu Ende gelesen (Originaltitel: The Wisdom of Psychopaths – Lessons in Life from Saints, Spies and Serial Killers).

    Kevin Dutton: Psychopathen

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Es geht in dem Buch in erster Linie um Psychopathie und nicht um psychische Störungen, insbesondere Psychosen. Psychopathie bezeichnet eine schwere Persönlichkeitsstörung, die bei den Betroffenen mit dem weitgehenden oder völligen Fehlen von Empathie, sozialer Verantwortung und Gewissen einhergeht. Wer ein Psychopath ist, lässt sich an der Psychopathie-Checkliste (PCL) von Robert D. Hare ablesen.

Kevin Dutton ist promovierter Psychologe und Professor am Calleva Research Centre for Evolution and Human Science der Universität Oxford. Er ist Mitglied der Royal Society of Medicine und der Society for the Scientific Study of Psychopathy. Zahlreiche Veröffentlichungen, u.a. Autor des Bestsellers „Gehirnflüsterer. Die Fähigkeit, andere zu beeinflussen.“ (Klappentext)


Kevin Dutton: Psychopathen

Wer ist ein Psychopath?
Psychopathen gelten landläufig als schwer gestörte Menschen. Die Psychopathy Checklist , kurz PCL, ist heute ein gängiges Instrument zur Einschätzung von solchen Persönlichkeiten. Wer mehr als 75 Prozent der Merkmale auf dieser Liste besitzt, gilt als Psychopath. Es ist nicht überraschend, dass sich die größte Dichte an Psychopathen in den Hochsicherheitstrakten findet. Kevin Dutton hat einige von ihnen kennengelernt. Aber auch viele „normale“ Menschen haben das eine oder andere Merkmal von dieser Liste. Und dienen der Gesellschaft, indem sie besondere Aufgaben besonders gut erfüllen.

Das wundert nicht, wenn man erfährt, welche Eigenschaften dazugehören: Kaltblütigkeit, Durchsetzungsstärke, Konzentrationsfähigkeit, Furchtlosigkeit, rasche Auffassungsgabe, Energie, Charisma.

Natürlich sind Sie kein Psychopath. Vielleicht sind Sie eine Führungskraft oder ein sehr spiritueller Mensch. Sie haben Charme, Sie sind unerschrocken und risikofreudig, können harte Entscheidungen treffen. Sie sind sehr aufmerksam und können sich gut auf ein Ziel konzentrieren. Sie werden feststellen, dass das Eigenschaften sind, die Sie mit Psychopathen teilen. Selbstredend sind diese Eigenschaften nützlich, wenn man ein Serienmörder werden will. Aber auch im Gerichtssaal, in der Wirtschaft oder im OP. Oder im Leben eines Heiligen. Jede Medaille hat zwei Seiten. »Eine meisterhafte, sehr lesbare und unterhaltsame Darstellung der Psychopathie und ihrer Manifestationen im Alltag. Manche seiner Ideen werden kontrovers diskutiert werden, aber es ist ein höchst anregendes Buch für alle, die die ›psychopathische‹ Welt, in der sie leben, besser verstehen wollen.« Prof. Dr. Robert Hare, Erfinder der Psychopathy Checklist

Nach Ansicht von Kevin Dutton kann man sehr wohl fragen, was man von Menschen lernen kann, die solche Eigenschaften besitzen und sie nicht zerstörerisch, sondern konstruktiv einsetzen. Dazu muss man sich in eine psychologische Achterbahn begeben und eintauchen in eine eigene Welt, die bevölkert ist von Mördern, Helden, Bankern, Anwälten und Filmstars.
(aus dem Klappentext)

Ohne Zweifel ist dieses Buch von Kevin Dutton ein sehr aufschlussreiches, auch lehrreiches Buch, auch wenn ich es am Ende ziemlich ‚einseitig’ finde. Im Wesentlichen sollen Struktur- oder Funktionsdefizite in verschiedenen Hirnregionen Ursache für Psychopathie sein. Es „wurde eine Dysregulation der Amygdala-Funktion beschrieben. Man vermutet, dass dadurch wichtige soziale Lernfunktionen beeinträchtigt sind. Außerdem konnte auch eine Hippocampus-Dysfunktion belegt werden.“ (Quelle: de.wikipedia.org)

Das erklärt aber nur unzureichend den Unterschied zwischen Psychopathen wie Serienmördern und „normalen“ Menschen, die ebenfalls das eine oder andere Merkmal der Psychopathie-Checkliste und im positiven Sinne Kaltblütigkeit, Durchsetzungsstärke, Konzentrationsfähigkeit, Furchtlosigkeit usw. besitzen.

Führungsmerkmale: Psychopathische Merkmale:
Charisma Oberflächlicher Charme
Selbstsicherheit Größenwahn
Fähigkeit, zu beeinflussen Manipulation
Überzeugungskraft Hochstapelei
Visionäres Denken Erdichten komplizierter Geschichten
Fähigkeit, Risiken einzugehen Impulsivität
Handlungsorientierung Erlebnishunger
Fähigkeit, schwierige Entscheidungen zu treffen Gefühlsarmut

Die Weisheit des Psychopathen (S. 159): Führungsmerkmale und ihre psychopathischen Äquivalente

Letztere sind Psychopathen mit Methode, die fähig sind, in die entsprechende Rolle zu schlüpfen, wenn die Situation es verlangt, und sie anschließend wieder ablegen. Dutton spricht von der SOS-Mentalität: den „psychischen Fähigkeiten, sich ins Zeug zu legen (Strive), Hindernisse zu überwinden (Overcome) und erfolgreich zu sein (Succed).“

„Ich nenne dies Fähigkeiten die sieben Siegermerkmale – sieben Grundprinzipien der Psychopathie, die uns, wenn wir sie in Maßen und mit der gebotenen Sorgfalt und Aufmerksamkeit nutzen, dabei helfen können, genau das zu bekommen, war wir wollen; uns helfen können, den Herausforderungen des modernen Lebens zu begegnen, statt auf sie zu reagieren, uns vom Opfer zum Sieger werden lassen, ohne uns in einen Schurken zu verwandeln:

1. Skrupellosigkeit
2. Charme
3. Fokussierung
4. Mentale Härte
5. Furchtlosigkeit
6. Achtsamkeit
7. Handeln.“
(S. 230)

Nur wie werde ich ein Psychopath mit Methode, also ein Mensch, der sich lediglich der psychischen Fähigkeiten eines Psychopathen bedient? Darauf gibt Dutton keine klare Antwort. Er meint, dass man es durch eine Art Training erreichen könnte. Vielleicht sollte man seinen Gehirnskasten mit dem Hämmerchen an den entsprechenden Stellen leicht malträtieren?! Vielleicht hilft auch eine Erhöhung des Dopamin– und Serotonin-Spiegels? Beide Werte sind bei Psychopathen erhöht. Es wäre zu schön, wenn man sich von heute auf morgen vom eher unsicheren zum völlig coolen Typen entwickeln könnte. Kein Lampenfieber mehr bei Vorstellungsgesprächen, Vorträgen u.ä.

Wenn ich sage, Duttons Buch wäre ziemlich ‚einseitig’, so deshalb, weil er bestimmte andere Faktoren unterschlägt. Ich bin nicht unbedingt Freudianer, aber tiefenpsychologische Prozesse spielen auch bei der Psychopathie eine gewisse Rolle. Hinzu kommen mit Sicherheit Umwelteinflüsse, die die Psychopathie ‚begünstigen’. Im Grunde steht die Wissenschaft doch noch ziemlich am Anfang der Erforschung dieser schweren Persönlichkeitsstörung.

Auf jeden Fall kann ich das Buch jedem empfehlen, der sich mit der menschlichen Natur, besonders mit deren zwanghaften und kranken Seite, auseinandersetzen möchte. In meist auch dem Laien verständlichen Worten ist es ein Abriss des heutigen Wissens zum Thema Psychopathie.

„Der unwiderstehliche Kevin Dutton ist wieder da. Diesmal mit einem pietätlosen Aufriss der hellen und dunklen Seiten der geheimnisvollen Psychopathen. Er liefert eine mitreißende Mischung von Wissenschaftlichem und Persönlichen und informiert und unterhält die Leser gleichermaßen.“ (Prof. Dr. Scott Lilienfeld, Präsident der Society for the Study of Psychopathy)

„… ein überraschendes, fesselndes und scharfsinniges Buch. Kevin Dutton hat eine Fülle von Wissen über diese charmanten, kalten und furchtlosen Menschen zusammengeführt, die einerseits so anziehend sind und andererseits so abschreckend. Er tut das in einem extrem lesbaren Stil mit einer Fülle von spannenden Geschichten …“ (Philip Pullman)

siehe auch meinen Beitrag: Psychopathie: Die Geschichte von den zwei Beerdigungen

Weiteres zum Buch und zum Psychopathen-Test

außerdem: Raubtiere ohne Kette (spiegel.de) und Der ganz normale Wahnsinn (3sat.de)

sowie Interview mit Kevin Dutton: „Ein blöder Psychopath bringt es zu gar nichts“