Archiv für den Monat: März 2013

Wer glaubt denn an den Klapperstorch

In einem Buch über den Fluß Este, einem Nebenfluß der Elbe, der in der Lüneburger Heide entsteht und in nördliche Richtung östlich an Tostedt vorbeifließt, gibt es einen Artikel über die Störche, die auch bei uns immer noch bei der Brut und der Aufzucht der Jungvögel anzutreffen sind. Es handelt sich dabei meist um Weißstörche.

Im Zusammenhang mit dem Weißstorch gibt es in Europa die Legende, dass er die Babys bringt, oder, eine ältere und heute vergessene Geschichte, dass er sich um alte Leute kümmert. In vielen Gegenden Europas wird nach der Geburt eines Kindes als deren Symbolisierung vor dem Haus eine Storchenfigur angebracht. In dem genannten Artikel gibt es einen Abschnitt, der über diese Legende vom Storch Adebar hinaus uns etwas von Frau Holle und einem Jungbrunnen erzählt, und uns in die alte nordische Götterwelt und in die Welt der Märchen, die wunderbar miteinander verwoben sind, entführt:

Storchennest in Niedersachsen

In der Götterwelt vergangener Zeiten hielt die Gemahlin des Gottes Wotan [Odin] als Frigg, Fraia oder Frikka [auch Freia oder Freya] ihre schützende Hand über die Menschen. Noch immer ist Freias Tag unser Freitag. Auch unter ihrem anderen Namen Hulda [Perchta] oder Holle lebt sie in unsern Märchen fort. In der Vorstellungswelt der Alten hatte sie ihren Wohnsitz in einem See oder Brunnen. Da „besitzt Holda einen wunderlieblichen Garten, hier nimmt sie die Seelen der Verstorbenen in Empfang und sendet sie wiedergeboren als Kinderseelen auf die Erde zurück. Das ist der Ursprung des Sage vom Jungbrunnen oder Quickborn und des Glaubens, dass die neugeborenen Kinder aus dem Brunnen kommen. Hier holt sie der Storch, Adebar oder Odebar, welcher der Vogel der Freia ist.“

aus: Die Este: Von der Quelle bis zur Mündung – herausgegeben von Marlis und Hans-Joachim Dammann – 2012 Verlag Atelier im Bauernhaus – Heimatverein Buxtehude und Kulturforum am Hafen, S. 64 – eigentliche Quelle: Reallexicon der Deutschen Altertümer – Ein Hand- und Nachschlagebuch der Kulturgeschichte des deutschen Volkes bearbeitet von Dr. E. Götzinger, 1885

Schweiger, der Rächer

Mit einer Woche Verspätung habe ich ‚ihn’ mir nun doch angeschaut – den neuen Tatort aus Hamburg mit Til Schweiger. Ich wollte nun doch wissen, ob das zuviel Schweiger oder wenigstens noch etwas Tatort geworden ist.

„Der neue Tatort aus Hamburg hatte eine Rekord-Einschaltquote – und er ist gar nicht schlecht. Nur Til Schweiger nervt halt. Die Rolle des Nick Tschiller wurde ihm so bemüht auf den Leib geschrieben, dass noch der unaufmerksamste Zuschauer mitkriegt: Dieser Kommissar ist ein ganzer Kerl, ein echter Held. Das ist leider zu viel.“ So steht’s in der Süddeutschen geschrieben.

Dem kann ich mich nur anschließen. Mit diesem neuen Tatort geht es mir wie beizeiten mit dem neuen James Bond. Dieser war nicht mehr ‚mein’ James Bond (Gerührt oder geschüttet? Der neue Bond ist da). Und der actiongeladene Tatort aus Hamburg ist nicht ein Tatort, wie ich ihn mag: nah bei der Realität. In fast jeder Szene war dieser Krimi dermaßen überzogen, dass ihn dann wohl keiner mit der Wirklichkeit verwechseln konnte. Das war wohl auch nicht die Absicht des Drehbuchautoren.

Tatort Hamburg: Willkommen in Hamburg (2013)

Til Schweiger durfte dafür den Helden spielen, der er gern sein möchte (Schweigers Motto: It’s better to have a gun and don’t need it, than to need a gun and don’t have itTrue Romance): Unerschrocken, von schönen Frauen angehimmelt, draufgängerisch – und liebevoll zu geschundenen, minderjährigen Prostituierten. Das Thema hatten wir erst vor kurzem in einer Doppelfolge Tatort, nur eine Hausnummer weiter: Wegwerfmädchen und Das goldene Band – Ende 2012 aus Hannover. Auch darin ging es um Menschenhandel, wie junge Frauen aus dem ehemaligen Ostblock zu uns gelockt und zur Prostitution gezwungen werden. Wie in Hannover so wird auch in Hamburg eine Handvoll Männer der Upperclass mit jungen Mädchen ‚bedient’.

So erschreckend dieses Thema ist und Beachtung verdient, um so bedenklicher ist es, wie Till Schweiger alias Nick Tschiller als Rächer in dieser Tatort-Folge auftritt. Schweiger hat neben einem Sohn drei noch junge Töchter. Da kann man verstehen, dass ihn das Thema Zwangsprostitution junger Frauen betroffen macht. Schweiger wäre aber nicht Schweiger, wenn er sich hier nicht zum selbstgerechten Rächer der geschundenen Mädchen aufspielen würde. Was er in der Wirklichkeit nicht schafft, muss dann eben in einem Film geschehen.

Apropos Töchter: Schweigers reale Tochter Luna spielt hier seine Filmtochter und verheimlicht gekonnt möglicherweise bestehendes schauspielerisches Talent: „Der unaufgeregte Gesichtsausdruck der 16-Jährigen ändert sich kaum und den Mund kriegt sie beim Sprechen auch kaum auf. So nuscheln Vater und Tochter in ‚Willkommen in Hamburg‘ gemeinsam vor sich hin.“ (sueddeutsche.de)

Immerhin zeichnet sich dieser Krimi neben Action durchaus auch durch einige Spritzer Humor und die speziell Schweiger’sche Selbstironie aus. Der junge Kollege Yalcin Gümer (gespielt von Fahri Ogün Yardım) ist durchaus witzig und sorgt für viele auflockernde, allerdings für einen Hauptkommissar auch recht proletenhafte Sprüchlein. Unglaubwürdig ist es allerdings, wie Gümer immer dann, wenn’s der Film erfordert, über sein privates Laptop wie ein großer Hacker all die notwendigen Informationen wie aus dem Nichts hervorzaubert. Und neben Schweigers Hommage an Schimanski (statt Scheiße das heute geläufigere Fuck als erstes Wort) gesteht er ein zu nuscheln. Und notfalls ist er sogar bereit, sich als schwul darzustellen.


Schweiger – Willkommen in Hamburg (Tatort):
Fuck … Nuscheln … Schwul!

Fazit: Ein durchaus beachtlicher Actionfilm mit etwas zu viel ‚Held’ a la Schweiger. Zu viel auch der Ballerei. Und zu viele eingetretene Türen. Aber kein Tatort, wie ihn Tatort-Fans mögen. Und nachdem Schweiger sein Thema Zwangsprostitution junger Frauen abgehandelt hat, weiß ich nicht, welches Thema für eine zweite Folge noch interessant für Schweiger sein könnte. Rückfälliger Sexualstraftäter aus der Nachbarschaft – nein, das muss nicht sein.

Alles auf Null?

Eigentlich fällt mir nichts mehr ein – zum Fußball-Bundesligisten Werder Bremen. „Statt eine Aufholjagd auf die vorderen Plätze in der Bundesliga zu starten, sackt die Mannschaft immer tiefer in der Tabelle. Statt in der nächsten Jahr im internationalen Geschäft zu sein, winkt die 2. Liga.“ (Thomas Schaaf: Wieder da, wo alles begann)

Hinzu kommt, dass der SV Werder in den letzten zwei Geschäftsjahren ‚fette’ rote Zahlen geschrieben hat. Dramatisch mag das noch nicht sein, aber bei leeren Kassen ist nun einmal kein Geld da, um die Mannschaft für die nächste Saison zu verstärken. Kevin de Bruyne, den Werder für diese Saison vom FC Chelsea ausgeliehen hat, dürfte kaum länger in Bremen verweilen wollen. Er ist zz. Werders bester Spieler. Und Nils Petersen, von den Bayern ausgeliehen, hält nur halb, was er zuvor versprochen hat. Ich muss da immer an Markus Rosenberg denken, der es in der Saison 2011/2012 immerhin auf 10 Tore (und 4 Vorlagen) brachte, und trotzdem den Verein verlassen musste. Petersen kommt nach 26 Spieltagen auf 11 Tore (und ebenfalls 4 Vorlagen); so richtig ‚fett’ ist das auch nicht. Wenn er bleibt, dann darf er nicht viel kosten.

Ansonsten kann und muss Werder Bremen auf den Nachwuchs (z.B. Cimo Röcker und Levent Aycicek) setzen. Weitere Einkäufe wie die von Elia, Gebre Selassie und Sokratis sind einfach nicht mehr drin. Dabei zeigt nur Sokratis auch zuletzt eine halbwegs akzeptable Leistung.

Werder Bremen: ein sinkendes Schiff?

Vor gut zwei Jahren (im November 2010) ging ich bereits davon aus, dass die fetten Jahre in Bremen vorbei sind. Nach sieben fetten Jahren folgen bekanntlich sieben magere Jahre. Werder ist also mittendrin in der Magerkost. Und spätestens, wenn zum Saisonende Kevin de Bruyne geht, wird die Suppe noch magerer. Dann geht’s ähnlich wie jetzt eher nur gegen den Abstieg. Von den Plätzen an der Sonne werden dann die Verantwortlichen, die Spieler und die Fans nur träumen können.

Ich will den Teufel nicht an die Wand malen, aber Thomas Schaaf ist wirklich wieder da, wo er vor fast 14 Jahren begann, als er die Verantwortung des Cheftrainers beim SV Werder übernahm. Dem Verein muss schon einiges einfallen, um aus dieser Talsohle herauszukommen. Mir selbst fällt dazu zz. wenig ein, wie das gehen könnte ….

Und: Was echte Werder-Fans wohl am meisten fuchsen wird, ist die Tatsache, dass der HSV vielleicht schon bald in der ewigen Bundesliga-Tabelle an Werder vorbeiziehen könnte. Der Fußball-Gott bewahre uns und Werder davor …

Heute Ruhetag (33): Kafka & der Sex (Der Proceß)

In Kafkas Der Prozess (Titel der Kritischen Ausgabe: Der Proceß) gibt es eine pikant erotische Szene, deren ‚Ende’ zwar nicht in Worte gefasst, die aber trotz ‚Ausblendung’ zu erahnen ist. Kafka und Sex? Ja! Kafka gilt als Stereotyp des „Junggesellen der Weltliteratur“. Seine Beziehungen zu Frauen waren immer geprägt von seinem inneren Konflikt, entweder eine eheliche Bindung einzugehen oder sich in selbstgewählter Askese allein dem Schreiben zu widmen. Als er an Lungentuberkulose erkrankte, begriff er die Krankheit „wohl weniger als medizinisches Hindernis der Ehe, umso mehr aber als Zeichen, als Imperativ, nicht mehr heiraten zu sollen“. (siehe auch das Video zu: 125 Jahre Franz Kafka).

Ich habe im Netz Kafkas Roman als PDF-Datei in der Kritischen Ausgabe (Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcolm Pasley und Jost Schillemeit (Hrsg.): Kritische Ausgabe. Schriften, Tagebücher, Briefe. Frankfurt am Main: S. Fischer 1982 ff.; auch bezeichnet als „Kritische Kafka-Ausgabe“ (KKA)) gefunden, den ich hiermit (erneut) vorstellen und zum Lesen empfehlen möchte.

Der wesentliche Unterschied gegenüber der von Kafkas Freund, Max Brod, 1925 herausgegebenen Ausgabe (Brod-Ausgabe) liegt in der leicht modifizierte Kapitelreihenfolge und in der Rechtschreibung (Proceß statt Prozess bzw. Prozeß – Schooß statt Schoß usw.). Man sollte wissen, dass dieser Roman erst nach Kafkas Tod veröffentlicht wurde und eine Revision durch den Autor mithin nicht erfolgte. Außerdem entstand der Roman „in nicht-linearer Abfolge. Es lässt sich nachweisen, dass Kafka zuerst das Eingangs- und das (von Brod an diese Stelle sortierte) Schlusskapitel niederschrieb und weiterhin an einzelnen Kapiteln parallel arbeitete. Kafka schrieb den Process in Hefte, die er auch für die Niederschrift anderer Texte verwendete.“ Zudem ist „Der Proceß“ unvollendet.

Heute Ruhetag = Lesetag!

Der Onkel – Leni

[…]

Wie sie auf meinem Schooß sitzt, als sei es ihr einzig richtiger Platz! „Nein“, antwortete Leni und schüttelte langsam den Kopf, „dann kann ich Ihnen nicht helfen. Aber Sie wollen ja meine Hilfe gar nicht, es liegt Ihnen nichts daran, Sie sind eigensinnig und lassen sich nicht überzeugen.“ „Haben Sie eine Geliebte?“ fragte sie nach einem Weilchen. „Nein“, sagte K. „Oh doch“, sagte sie.„Ja, wirklich“, sagte K., „denken Sie nur, ich habe sie verleugnet und trage doch sogar ihre Photographie bei mir.“ Auf ihre Bitten zeigte er ihr eine Photographie Elsas, zusammengekrümmt auf seinem Schooß studierte sie das Bild. Es war eine Momentphotographie, Elsa war nach einem Wirbeltanz aufgenommen, wie sie ihn indem Weinlokal gern tanzte, ihr Rock flog noch im Faltenwurf der Drehung um sie her, die Hände hatte sie auf die Hüften gelegt und sah mit straffem Hals lachend zur Seite; wem ihr Lachen galt, konnte man aus dem Bild nicht erkennen. „Sie ist stark geschnürt“, sagte Leni und zeigte auf die Stelle, wo dies ihrer Meinung nach zusehen war. „Sie gefällt mir nicht, sie ist unbeholfen und roh. Vielleicht ist sie aber Ihnen gegenüber sanft und freundlich, darauf könnte man nach dem Bilde schließen. So große starke Mädchen wissen oft nichts anderes als sanft und freundlich zu sein. Würde sie sich aber für Sie opfern können?“ „Nein“, sagte K., „sie ist weder sanft und freundlich noch würde sie sich für mich opfern können. Auch habe ich bisher weder das eine noch das andere von ihr verlangt. Ja ich habe noch nicht einmal das Bild so genau angesehn, wie Sie,“ „Es liegt Ihnen also gar nicht viel an ihr“, sagte Leni, „sie ist also gar nicht Ihre Geliebte.“ „Doch“, sagte K. „Ich nehme mein Wort nicht zurück.“ „Mag sie also jetzt Ihre Geliebte sein“, sagte Leni, „Sie würden sie aber nicht sehr vermissen, wenn Sie sie verlieren oder für jemand andern z. B. für mich eintauschen würden.“ „Gewiß“, sagte K. lächelnd, „das wäre denkbar, aber sie hat einen großen Vorteil Ihnen gegenüber, sie weiß nichts von meinem Proceß, und selbst wenn sie etwas davon wüßte, würde sie nicht daran denken. Sie würde mich nicht zur Nachgiebigkeit zu überreden suchen.“ „Das ist kein Vorteil“, sagte Leni. „Wenn sie keine sonstigen Vorteile hat, verliere ich nicht den Mut. Hat sie irgendeinen körperlichen Fehler?“ „Einen körperlichen Fehler?“ fragte K. „Ja“, sagte Leni, „ich habe nämlich einen solchen kleinen Fehler, sehen Sie.“ Sie spannte den Mittel- und Ringfinger ihrer rechten Hand auseinander, zwischen denen das Verbindungshäutchen fast bis zum obersten Gelenk der kurzen Finger reichte. K. merkte im Dunkel nicht gleich, was sie ihm zeigen wollte, sie führte deshalb seine Hand hin, damit er es abtaste. „Was für ein Naturspiel“, sagte K. und fügte, als er die ganze Hand überblickt hatte, hinzu: „Was für eine hübsche Kralle!“ Mit einer Art Stolz sah Leni zu, wie K. staunend immer wieder ihre zwei Finger auseinanderzog und zusammenlegte, bis er sie schließlich flüchtig küßte und losließ. „Oh!“ rief sie aber sofort, „Sie haben mich geküßt!“ Eilig, mitoffenem Mund erkletterte sie mit den Knien seinen Schooß, K. sah fast bestürzt zu ihr auf, jetzt da sie ihm so nahe war gieng ein bitterer aufreizender Geruch wie von Pfeffer von ihr aus, sie nahm seinen Kopf an sich, beugte sich über ihn hinweg und biß und küßte seinen Hals, biß selbst in seine Haare. „Sie haben mich eingetauscht“, rief sie von Zeit zu Zeit, „sehen Sie nun haben Sie mich doch eingetauscht!“ Da glitt ihr Knie aus, mit einem kleinen Schrei fiel sie fast auf den Teppich, K. umfaßte sie, um sie noch zu halten, und wurde zu ihr hinabgezogen. „Jetzt gehörst Du mir“, sagte sie.
(S. 143 ff.)

[…]

Autograph: Franz Kafka

Franz Kafka: Der Proceß (in der kritischen Ausgabe als PDF)

Günter Grass: Grimms Wörter

Es war wohl der Sohn von Wilhelm Grimm, Herman, der meinte, das von seinem Vater und seinem Onkel, Jacob Grimm, herausgegebene deutsche Wörterbuch (DWB) wäre schon zu deren Lebzeiten ‚überholt’. Begonnen wurde mit diesem Wörterbuch 1838 (fertiggestellt dann erst 1961). Der Gebrauchswert für den heutigen Alltag, damit hat er Recht, ist sicherlich nicht sehr hoch. Da bringen Duden, Wahrig u.a. mehr Nutzen (siehe hierzu auch meine Beiträge: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm und Wortschatz).

Es beginnt damit, das der ältere der Grimm-Brüder, Jacob, keine Fremdwörter in diesem ‚deutschen’ Wörterbuch duldete. Evolution oder Revolution kommen nicht vor. Selbst der uns heute gängige Friseur (oder Frisör) und die Frisur gibt es nicht. Dafür finden wir den damals wohl eher üblichen Barbier, dann die deutschen Begriffe Haarscherer und Haarschneider – und für Frisur den Haarschnitt. Kurios muten uns heute manche ebenfalls von Jacob Grimm erstellte ‚Regeln’ des Wörterbuchs an: Durchgängige Kleinschreibung (außer bei Eigennamen), was heute ja schon fast wieder modern ist. Und das ß immer als sz geschrieben. Goethe kommt als Göthe daher.

Was den eigentlich Wert dieses 34.824 Seiten ausufernden und mit ca. 320.000 Stichwörtern versehenen Nachschlagewerkes ausmacht, sind die Hinweise auf die Herkunft der Wörter und eine nachvollziehbare Beschreibung, wie sich die Wörter im Laufe der Zeit verändert haben, oft auch dem Wortsinne nach. Vieles, wir erahnen es, rührt aus dem Stamm der indogermanischen (auch indoeuropäisch genannten) Sprachfamilie her (bis hin zum östlichen Zweig der gotischen Sprache). Oft werden viele Spalten lang Zitate (von Luther über Kant bis zu Goethe) zu den einzelnen Stichwörtern aufgeführt, die den Gebrauch der Wörter in der Literatur belegen. Allerdings wollte Jacob Grimm keine Zeitgenossen wie Heine zitiert wissen. Wer möchte, kann online im DWB stöbern. Als aufschlussreiches Beispiel empfehle ich den Artikel zum Wort Schnee (das aus gegebenem Anlass: Kate Bushs Gespür für Schnee)

Erwähnenswert ist, dass sich vor den Grimm-Brüdern bereits andere daran gemacht hatten, ein deutsches Wörterbuch zusammenzustellen. Das wohl bekannteste ist das von Johann Christoph Adelung, von dem Jacob Grimm (ja, wieder der) allerdings nicht allzu viel hielt: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart (1774–1786, 2. Aufl. 1793–1801). Adelung lässt übrigens auch Fremdwörter zu. – Online mit Volltextsuchegescannte Ansicht

Aber genug der langen Vorrede. Wie der Titel dieses Beitrags verrät, möchte ich ein 2010 erschienene Buch von Günter Grass vorstellen: Grimms Wörter. Der Untertitel, der wie eine neue literarische Gattung klingt, sagt es deutliche: Eine Liebeerklärung.

    Günter Grass: Grimms Wörter

„Die Brüder Grimm erhalten im Jahr 1838 einen ehrenvollen Auftrag: Ein Wörterbuch der deutschen Sprache sollen sie erstellen. Voller Eifer machen sie sich ans Werk. Aberwitz, Angesicht, Atemkraft – fleißig sammeln sie Wörter und Zitate, in wenigen Jahren sollte es zu schaffen sein. Barfuß, Bettelbrief, Biermörder – sie erforschen Herkommen und Verwendung, sie verzetteln sich gründlich. Capriolen, Comödie, Creatur – am Ende ihres Lebens haben Jacob und Wilhelm Grimm nur wenige Buchstaben bewältigt.

Günter Grass erzählt das Leben der Brüder Grimm als Liebeserklärung an die deutsche Sprache und die Wörter, aus denen sie gefügt ist. Er schreibt über die Lebensstationen der Brüder, über ihre uferlose Aufgabe und die Zeitgenossen an ihrer Seite.

Spielerisch-virtuos spürt ‚Grimms Wörter’ dem Reichtum der deutschen Sprache nach und durchstreift die deutsche Geschichte seit der Fürstenherrschaft und den ersten Gehversuchen der Demokratie. Von der Vergangenheit mit ihren politischen Kämpfen und ganz alltäglichen Sorgen schlägt Grass manche Brücke in seine eigene Zeit.“
(aus dem Klappentext)

Wer einen Sinn für Sprache und einen besonderen für anspruchsvolle Literatur hat, dem kann ich diese ‚Liebeserklärung’ nur empfehlen. Oder wie Sigrid Löffler im ‚rbb Kulturradio’ sagte: „Für Grass-Verehrer ist dieses Buch ein Muss, für das übrige Publikum einfach eine lohnende Lektüre.“

Deutsches Wörterbuch der Brüder Grimm – Erster Band: A - Biermolke

Man sieht, wie Günter Grass in seinem Exemplar dieses 33-bändigen Werkes blättert, den ersten Band „A – Biermolke“ vielleicht auf den Knien längere Zeit beim Stichwort Alfanzerei verweilend … Und wie er sieht, wie sich die Brüder Grimm an die Arbeit machen:

So begann ihre Zettelwirtschaft. Von überall her schneite es Wörter und wortbezügliche Zitate. Jedem aufgelesenen Wort hatten die Sammler seine Herkunft nachzuweisen. Es galt herauszufinden, bei welchem Dichter das jeweilige Stichwort bereits Vorklang gefunden hatte. Von Parzivals Gralsuche und dem Nibelungenlied über Luthers Bibeldeutsch bis zu Goethes und Schillers Gereimtem fand sich Zitierbares. Außerdem wollte Jacobs Ehrgeiz wissen, ob dieses oder jenes Wort bei dem arianischen Bischof Ulfilas bereits gotisch nachzuweisen sei, wie es sich alt- oder mittelhochdeutsch gewandelt habe. Die Lautverschiebung und ihre Folgen. Was war dem Wortschwall der Mundarten abzuhören? Welches Echo fand das eine, das andere Stichwort in den skandinavischen Sprachen? Was klingt bereits im Sanskrit an? Welches deutschstämmig anmutende Wort ist dem Latein entlehnt? Was soll mit anstößigen, weil schmutzigen Wörtern geschehen, zumal wenn sie lebendig, weil volksnah sind? Welche Dichter waren besonders stichhaltiger Zitate trächtig?
(S. 31 der Taschenbuchausgabe)

Manches Stichwort bei den Grimms gibt auch dem knurrigen Grass Anlass, sich über die Jetztzeit Gedanken zu machen („genau aufs Stichwort …“), hier nur ein Beispiel:

Mich treibt Zorn an, der sich an westlichen Colonialherren reibt, die als Sieger des Kalten Krieges meinen, hemmungslos zugreifen, fortan auf Pump leben zu dürfen und nun, nach dem Triumph des Kapitalismus über den Kommunismus, beginnen, ihresgleichen zu zerstören, weil ihnen der Feind fehlt.
(S. 108 der Taschenbuchausgabe)

Ohne Zweifel: „‚Grimms Wörter’ gehört zu den wichtigsten Büchern Grass’ und ist vielleicht sein schönstes.“ (Jörg Magenau, ‚Der Tagesspiegel’) – und noch einmal: Wer die deutsche Sprache liebt, wer sich für deren Reichtum interessiert, dem sei als Einstieg gewissermaßen Grass’ Prosawerk empfohlen. Das Blättern im der Brüder Grimms Deutschen Wörterbuch gibt’s gratis dazu.

Habemus papam: Franziskus

Die katholische Kirche hat einen neuen Papst: Der 76 Jahre alte Erzbischof von Buenos Aires, Jorge Mario Bergoglio, wird als Franziskus Oberhaupt von 1,2 Milliarden Gläubigen. Die Wahl Bergoglios ist eine faustdicke Überraschung. Er hatte wegen seines Alters und seiner seit 2010 angeschlagenen Gesundheit eher als Außenseiter bei der Papstwahl gegolten. 2005 bei der Wahl Joseph Ratzingers (Habemus papam: Benedikt XVI), der zum 28. Februar aus gesundheitlichen Gründen zurücktrat, war er noch dessen Gegenkandidat.

Der neue Papst gilt als „sozial engagiert, theologisch aber konservativ. Er liebt nicht die großen Auftritte, gilt als wortkarg und medienscheu. Zur Tagespolitik hält er möglichst Distanz. Trotzdem geißelt er mit klaren Worten soziale Ungerechtigkeit und Korruption. Man nennt ihn auch den ‚Kardinal der Armen’; er besucht Gefängnisse und Armenviertel. Sein persönlicher Lebensstil gilt als prophetisch: bescheiden, volksnah, ökologisch.“
(Quelle: blog.zdf.de)

Bergoglio hat die bisherige kirchliche Lehre in der Frage der Homosexualität bekräftigt. Er kritisierte im Jahr 2010 in einem Brief an die argentinische Regierung mit deutlichen Worten die Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe. Auch sein Handeln während der argentinischen Militärdiktatur werfe Fragen auf.

Der Mainzer Kardinal Karl Lehmann ist „sehr zufrieden und sehr glücklich“ über den neuen Papst. Kardinal Jorge Mario Bergoglio habe sich als Seelsorger und durch sein enges Verhältnis zu den Armen ausgezeichnet, sagte Lehmann in den ARD-Tagesthemen. Der Kirche tue es gut, dass jetzt ein Nichteuropäer Papst sei. Der neue Papst habe nach seiner Wahl beim Essen mit den Kardinälen einen sehr unbefangenen und gelassenen Eindruck gemacht. Er verfüge über viel Humor. Nach Darstellung Kardinal Lehmanns spricht Bergoglio sehr gut Deutsch. Er studierte in Deutschland und ging in den 80er Jahren für einen Forschungsaufenthalt nach Frankfurt am Main.

Der neue Papst gilt als dialogbereit und trotz des Alters als aufgeschlossen auch gegenüber den neuen Medien. Zu Änderungen und Erneuerungen innerhalb der katholischen Kirche wird es aber nach meiner Meinung auch unter Franziskus nur in kleinen Schritten kommen.

„Sexistische Kackscheisse“

Hätte Herr Brüderle nur seinen Mund gehalten. Aber, wie es nun einmal seine Art ist, er musste der jungen „Stern“-Reporterin dieses Kompliment machen, wie er es nennt. Natürlich ist die Anzüglichkeit nicht zu überhören. So sind ältere Männer nun einmal. Eigentlich meinen sie es gar nicht so. Oder doch?

Sicherlich kann man diese verbale Entgleisung nur als dumm bezeichnen. Bei einem Gläschen Wein zuviel gesagt. Aber im Endeffekt diskreditiert sie einen Mann wie Herrn Brüderle, der es doch eigentlich besser wissen müsste, bis in sein letztes Handeln. Und dieser Mann führt nun die FDP in den Bundestagswahlkampf.

Natürlich frage ich mich, was besser ist: Wenn sich einer seinen Teil denkt („Die kann ein Dirndl auch auffüllen.“) oder es offen ausspricht, weil’s ihm gerade dazu zumute ist. –

Sex sells – das besagt, dass sich ein Produkt besser verkauft, wenn es in einem Kontext mit sexuellen Inhalten dargestellt wird. Leicht bekleidete Frauen dienen als Blickfang und sollen besonders die männliche Kundschaft zum Kauf locken. Männliche Hormone bestimmen die Kaufentscheidung?

Längst wird es Zeit, dass die Werbeagenturen diese sexistische Werbung, die eine Degradierung von Frauen zu Sexobjekten ist, unterlassen. Ein unrühmliches und in meinen Augen widerlich, da primitives Beispiel ist die aktuelle Plakatwerbung für ein Deo-Spray, die sich mit anzüglichen Doppeldeutigkeiten („Astronauten regeln das mit dem Verkehr“) selbst übertrifft. Kein Wunder, wenn solche Plakate mit Aufklebern wie „Sexistische Kackscheiße“ überklebt werden. –

    Sexistische Kackscheiße

Wie es aussieht, gehören sexistische Übergriffe von Männern auf Frauen – ob im Beruf oder privat – dem Alltag an. Meist sind es nur verbale Attacken, die aber schnell auch in körperliche Übergriffe übergehen. Wer sind diese ‚Herren der Schöpfung’, die meinen, sich jedes Recht gegenüber Frauen herausnehmen zu können? Wie erbärmlich muss ich sein, um Frauen ständig zu belästigen oder ihnen Gewalt anzutun.

Es ist kein Wunder, wenn die durch Herrn Brüderle ins Rollen gekommene Sexismus-Debatte daher sehr emotional geführt wird. Den betroffenen Frauen kann man es nicht verdenken, dass sie aufschreien.

Trotzdem ist eine Versachlichung notwendig. Leider hat unser Bundespräsident mit seinem Schlagwort ‚Tugendfuror’ zunächst den falschen Ton angestimmt. Inzwischen ist er eines Besseren belehrt worden. Es muss endlich auf den Tisch und die Machos an den Pranger.

Nicht außer Acht lassen sollte man dabei allerdings, dass es mit Sicherheit auch zu Missverständnisse kommen kann. Nicht jede Freundlichkeit ist eine sexistische Attacke. Und nicht jeder Mann ist ein Sexist, nur weil er ein Mann ist.

Sicherlich ticken Männer anders als Frauen, gerade in ‚sexueller Hinsicht’. Aber das kann und darf kein Freibrief für manchen Mann sein, seine sexuelle Hetze gegen Frauen weiterhin legal betreiben zu dürfen. Eigentlich müssen wir Herrn Brüderle dankbar sein. Endlich ist eine Debatte eröffnet, die lange genug verhindert wurde. Endlich werden die Probleme öffentlich diskutiert.

Wortschatz

Wie viele Wörter der deutschen Sprache ein durchschnittlicher Deutscher kennt und verwendet, lässt sich noch erahnen. Angeblich umfasst der Wortschatz der deutschen Standardsprache ca. 75.000 Wörter. Wie groß der Wortschatz der deutschen Sprache insgesamt ist, dürfte dagegen kaum auszumachen sein, da dann sicherlich auch „Fachwortschätze“, also Wörter der Fachsprachen, hinzuzurechen wären.

Immer wieder haben sich Sprachwissenschaftler daran gemacht, den deutschen Wortschatz zu erfassen. Das bekannteste Beispiel ist das der Brüder Grimm und ihr deutsches Wörterbuch. Die Fertigstellung benötigte über 120 Jahre und enthält ‚lediglich’ ca. 320.000 Stichwörter, die auf 34.824 Seiten mit 67.744 Textspalten in 33 Bänden (Gesamtgewicht 84 kg) erläutert werden.

    Wortschatz

Für Philologen und Liebhaber der deutschen Sprache ist dieses Wörterbuch eine geradezu unendliche Fundgrube. Für den Hausgebrauch eignet es sich aber weniger. Da sind uns Duden, Wahrig u.a. hilfreicher.

Natürlich sind Wörterbücher dem Wandel unterlegen. Täglich kommen neue Begriffe, also Wörter, hinzu, die dann erst in einer Neuauflage eines ‚Buchs’ berücksichtigt werden können. Was bietet sich da Besseres an – als das Internet.

Zum einen erspart uns das Internet das Wälzen in einem 33 Bände starken Nachschlagwerk wie dem Deutschen Wörterbuch der Grimms – dieses ist online verfügbar. Zum anderen gibt es dort Sammlungen – z.B. die von Neologismen, also Wortneuschöpfungen, wie wortwarte.de -, die sich dem deutschen Wortschatz insgesamt verpflichtet fühlen: Wortschatz – Universität Leipzig.

So wühlt man sich durch den deutschen Wortschatz

Es war der ältere der beiden Grimm-Brüder, Jacob, der Fremdwörter tunlichst in dem genannten Wörterbuch vermeiden wollte. Auch heute bemühen sich verschiedene Institutionen um die Pflege der deutschen Sprache – und möglichst um die Vermeidung von Begriffen aus anderen Sprachen, besonders den Anglizismen. Dazu gehört die Gesellschaft für deutsche Sprache, die u.a. das Wort des Jahres kürt. Erwähnt sollte auch das Institut für Deutsche Sprache, über deren Website diverse Nachschlagewerke online verfügbar sind.

Apropos Vermeidung von Fremdwörter: Die Franzosen bemühen sich besonders darum. Aber auch ein kleines Land mit einer sehr alten Sprachkultur achtet konsequent darauf, die Übernahme von Fremdwörtern so gering wie möglich zu halten: Island. Neue Begriffe erschafft man in der Regel aus dem vorhandenen Wortschatz des Isländischen. „So entstand das Wort für ‚Computer’, tölva, aus den Worten tala, ‚Zahl’, und völva, ‚Wahrsagerin, Seherin’. Der Begriff für ‚Aids’, alnæmi, wurde aus al-, ‚all-‚, und næmi, ‚Empfindlichkeit’, gebildet. Ein ähnliches Wort ist skrifstofa (‚Schreibstube’) für Büro. … Seit 1964 besteht darum in Island ein eigenes Komitee, das für neumodische Begriffe rein isländische Ausdrücke findet.“ (Quelle: de.wikipedia.org)

Ich habe mich in diesem Blog schon öfter mit der deutschen Sprache und deren Wortschatz in Ihren verschiedenen Ausprägungen beschäftigt: Kafkas Wortschatz und KiezdeutschVon Archaismen und NeologismenWenn der Amtsschimmel wiehertMan spricht DeutschBedrohte Sprachen in Deutschland – u.a.

Dieser Beitrag hat einen besonderen Hintergrund, den ich in einen der nächste Tage auflösen werden. Vielleicht kann sich der eine oder die andere denken, was mir da ‚vorschwebt’, oder?!

Übrigens: Allein das Wort Wortschatz gefällt mir sehr. Es ist gewissermaßen eine Verbeugung der Sprache vor der Sprache – indem die Sammlung aller Wörter als Schatz betrachtet wird.

Wieder Winter!

Man könnte den Eindruck haben, dass jetzt mehr Schnee vom Himmel fällt als den ganzen bisherigen Winter. Nach einigen lauen Frühlingstagen ist der Winter wieder in Norddeutschland eingekehrt. Inzwischen sind auch die Temperaturen winterlich unter null Grad. Aber so richtig Spaß macht das Ganze nicht mehr. Zu dunkel war der bisherige Winter. Zu groß ist die Sehnsucht nach Sonne und Wärme …

Vogelfutterhaus im Schnee

Pflanzschale im Schnee

Wieder Winter in Tostedt (10.03.2013)

Gartenstuhl im Schnee

Busch im Schnee

Heute Ruhetag (32): Thomas Mann – Der Zauberberg

Auf der (eher rudimentären) Liste meiner liebsten Bücher ist der Roman zu finden: Der Zauberberg von Thomas Mann, der 1924 veröffentlicht wurde, spielt in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg. Er handelt vom Reifeprozess des jungen Hans Castorp. Während eines siebenjährigen Aufenthalts in einem Tuberkulose-Sanatorium trifft Castorp dort Menschen, die ihn mit Politik, Philosophie, aber auch Liebe, Krankheit und Tod konfrontieren.

Es ist eine illustre Gesellschaft, in die der junge Castorp gerät. In der Zeit vor dem ersten Weltkrieg, also vor 100 Jahren, begegnet er dem Geist der damaligen Epoche. Da ist der italienische Literat Lodovico Settembrini, ein Humanisten, Freimaurer und „individualistisch gesinnter Demokraten“, mit dem der junge Deutsche über philosophische und politische Fragen der Zeit in Berührung kommt. Oder „der asketische Jesuit Naphta, ein zum Katholizismus konvertierter galizischer Jude mit bewegter Vergangenheit. Naphta ist ein brillanter, rhetorisch begabter und sophistischer Logik verpflichteter Intellektueller, von dessen Einflüssen Settembrini seinen jungen Freund Castorp vergeblich fernzuhalten versucht. In anarcho-kommunistischer Tradition strebt Naphta nach der Wiederherstellung des ‚anfänglichen paradiesisch justizlosen und gottesunmittelbaren Zustands’ der Staat- und Gewaltlosigkeit, wo es ‚weder Herrschaft noch Dienst gab, nicht Gesetz noch Strafe, kein Unrecht, keine fleischliche Verbindung, keine Klassenunterschiede, keine Arbeit, kein Eigentum, sondern Gleichheit, Brüderlichkeit, sittliche Vollkommenheit.’ Nach Abschaffung ‚der Greuel des modernen Händler- und Spekulantentums’ und ‚der Satansherrschaft des Geldes, des Geschäfts’ sei ein totalitärer, auf Terrorismus gestützter Gottesstaat zu errichten; das Prinzip der Freiheit sei ein überlebter Anachronismus.“ (Quelle: de.wikipedia.org).

Und zuletzt ist der erst spät auftretende Mynheer Peeperkorn mit seinem kruden Vitalitätskult zu nennen.

Der Roman sollte „eine Art von humoristischem, auch groteskem Gegenstück“ zum 1912 erschienenen Tod in Venedig werden, geriet dann mit 800 Seiten länger als beabsichtigt. Ohne Zweifel gilt der Roman heute als einer der wichtigsten des 20. Jahrhunderts, beleuchtet er mit Geist und Witz die Atmosphäre am Anfang des letzten Jahrhunderts.

Im Roman tritt eine Person auf, der ein Kapitel gewidmet ist und die wir in weiteren kurzen Szenen begegnen. In meinem Beitrag Herr Albin in Thomas Manns „Zauberberg“ finden wir ihn kurz beschrieben. Jede Ähnlichkeit mit mir (bis auf den Namen) ist bekanntlich rein zufällig.

Heute Ruhetag = Lesetag!

Herr Albin

Drunten im Garten hob sich das Phantasie-Fahnentuch mit dem Schlangenstabe zuweilen im Windhauch. Der Himmel hatte sich wieder gleichmäßig bedeckt. Die Sonne war fort, und sogleich war es fast unwirtlich kühl geworden. Die gemeinsame Liegehalle schien voll besetzt; es herrschte Gespräch mit Gekicher dort unten.

»Herr Albin, ich flehe Sie an, legen Sie das Messer fort, stecken Sie es ein, es geschieht ein Unglück damit!« klagte eine hohe, schwankende Damenstimme. Und:
»Bester Herr Albin, um Gottes willen, schonen Sie unsere Nerven und bringen Sie uns das entsetzliche Mordding aus den Augen!« mischte sich eine zweite darein, – worauf ein blondköpfiger junger Mann, welcher, eine Zigarette im Munde, seitwärts auf dem vordersten Liegestuhl saß, in frechem Tone erwiderte:
»Fällt mir nicht ein! Die Damen werden mir doch erlauben, etwas mit meinem Messer zu spielen! Nun ja, gewiß, es ist ein besonders scharfes Messer. Ich habe es in Kalkutta einem blinden Zauberer abgekauft… Er konnte es verschlucken, und gleich darauf grub sein Boy es fünfzig Schritte von ihm entfernt aus dem Boden . . . Wollen Sie sehen? Es ist viel schärfer als ein Rasiermesser. Man braucht die Schneide nur zu berühren, und sie geht einem ins Fleisch wie durch Butter. Warten Sie, ich zeige es Ihnen näher . . .« Und Herr Albin stand auf. Ein Gekreisch erhob sich. »Nein, jetzt hole ich meinen Revolver!« sagte Herr Albin. »Das wird Sie mehr interessieren. Ein ganz verflixtes Ding. Von einer Durchschlagkraft . . . Ich hole ihn aus meinem Zimmer.«
»Herr Albin, Herr Albin, tun Sie es nicht!« zeterten mehrere Stimmen. Aber Herr Albin kam schon aus der Liegehalle hervor, um auf sein Zimmer zu gehen, – blutjung und schlenkricht,mit rosigem Kindergesicht und kleinen Backenstreifen neben den Ohren.
»Herr Albin«, rief eine Dame hinter ihm drein, »holen Sie lieber Ihren Paletot, ziehen Sie ihn an, tun Sie es mir zuliebe! Sechs Wochen haben Sie mit Lungenentzündung gelegen, undnun sitzen Sie hier ohne Überzieher und decken sich nicht einmal zu und rauchen Zigaretten! Das heißt Gott versuchen. Herr Albin, mein Ehrenwort!«

[…]

Thomas Mann: Der Zauberberg

Willkommen im neuen Tatort Hamburg

Nick Tschiller ist sein Name, Nick wie Nick Knatterton, wohl kaum – und Tschiller vom englischen chill abgeleitet – wie frostig, kalt, entmutigend oder ‚cool’? Wer denkt sich solche Namen nur aus? Na, wer wohl …?!

Ja, morgen am Sonntag ist es soweit: Til Schweiger, der Nuschler, macht auf Tatort: Willkommen in Hamburg. Die Vorschussdisteln sind reichlich verteilt. Spiegel online hat Herrn Schweiger gehörig auf den Zahn gefühlt. Man hat den Eindruck, dass außer Til Schweiger-Fans keiner ihn wirklich in einem Tatort-Film sehen möchte. Am wenigsten eingefleischte Tatort-Liebhaber. Was soll man auch von einem Schauspieler halten, der in einer über viele Jahre laufenden Kriminalserie mitwirken darf, die er sich „eher selten“ angeschaut hat.

Tatort Hamburg: Willkommen in Hamburg (2013)

„Drei Tote in den ersten Minuten, das ist eine Revolution. Ich als Zuschauer will so etwas sehen.“, so Schweiger. Ob wir das als Tatort-Fans sehen wollen, fragt er wohlweislich nicht. Eine eingetretene Tür nach der anderen. Schweiger: „Manchmal klopfe ich auch an.“

Til Schweiger lässt es also gleich ordentlich krachen. Und sein erstes Wort sei: Fuck! Angeblich eine Hommage an Horst Schimanski alias Götz George, der in der ersten Schimanski-Folge „Duisburg, Ruhrort“ als erstes Wort Scheiße äußerte (genauer: „Vorsicht, du Idiot! Hör auf mit der Scheiße!“ zu einem Typen, der seinen Fernseher auf die Straße schmiss). Nur Tschiller ist nicht Schimanski – und Schweiger lange nicht Götz George.

Richtig gespannt muss man also nicht sein. Da Schweiger hier alt bekannte Schweigerthemen (‚Huhn-im-Wein’, ‚Schmutzengel’, ‚Schlapplachhasen’ – nur der ‚halbe Ritter mit der Kopfnuss’ wird uns erspart bleiben) miteinander derart verwurschtelt, dass am Ende … ein Schweiger-Film herauskommt, aber kein Tatort mit psychologischer Tiefe, wird keinen verwundern. Wo Schweiger draufsteht, ist NUR Schweiger drin …!

siehe auch: Eine Extrawurst für ein Riesenwürstchen?

Übrigens: In zwei Wochen, am 24. März, gibt es den nächsten Tatort aus Münster: Summ, Summ, Summ. Hauptkommissar Thiel und der Rechtsmediziner Dr Boerne stehen eigentlich für Spannung und Witz. In letzter Zeit übertreiben sie allerdings ein bisschen den Witz. Und wenn man liest, dass in dieser neuen Folge ein Schlagerstar namens Roman König im Mittelpunkt steht und dann sieht, dass dieser von keinem anderen als Roland Kaiser gespielt wird, dann … also dann verschlägt es mir doch die Sprache! Tatort, wohin willst du noch …?!