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Lukaschenko hat einen Stich
Politikwissenschaftler und viele andere sind es, die über die möglichen Szenarien rätseln, die sich in dem Land ereignen könnten. Auch ich habe mir Gedanken darüber gemacht, was auf Belarus zukommen könnte, denn die Ereignisse in dem Land beschäftigen mich aus gegebenen Anlässen (siehe meinen Beitrag „Marsch der Freiheit“ in Belarus) doch sehr:
1. Lukaschenko setzt zunächst auf Zeit und hofft wohl, dass sich die Proteste gegen ihn mit der Zeit verlaufen. Dafür spricht, dass den Protestierenden das Geld ausgeht. Wer nicht arbeitet, bekommt kein Geld. Und Ersparnisse haben die meisten Belarusinnen und Belarusen nicht. Den Anführerinnen und Anführer der jetzigen Protestbewegung würde man die Ausreise gestatten. Dafür spricht, dass man z.B. Pawel Latuschko, der entlassenen Direktor des Nationalen Akademischen Janka-Kupala-Theaters, in diesen Tagen angeboten hat, per Charterflug oder diplomatischem Auto das Land zu verlassen. Verhaftungen der Oppositionsführung würden eher wieder zu erneuten Demonstrationen und Streiks führen.
2. Sollten die Proteste weiter andauern, so setzt Lukaschenko auf brutale Gewalt und lässt sogar auf die Demonstranten schießen. Das kann nicht ausgeschlossen werden. Ich denke aber, dass sich viele Polizisten und Soldaten überlegen werden, ob sie auf das eigene Volk schießen werden. Der ‚Schuss‘ würde eher nach hinten losgehen und dann endgültig zum Sturz von Lukaschenko führen.
3. Lukaschenko hat Neuwahlen nicht vollständig abgelegt. Die sollen aber erst nach einem Referendum über eine neue Verfassung (die ja erst ausgearbeitet werden müsste) stattfinden. Ob Lukaschenko das wirklich will, ist zu bezweifeln. Er will auf diese Weise nur Zeit gewinnen und hofft wie zu Punkt 1, dass die Proteste mit der Zeit abebben.
4. Wie es zz. aussieht, will Lukaschenko die Protestierenden mit kleinen Nadelstichen zermürben. Pawel Latuschko (Punkt 1) wird durch Schergen Lukaschenkos bedroht, wenn er nicht ausreist. Inzwischen kommt es wieder zu Verhaftungen – nicht von der Straße her, sondern aus den Häusern. Und der Generalstaatsanwalt kündigte die Einleitung einer strafrechtlichen Untersuchung gegen den Koordinierungsrat an, da dieser „auf die Übernahme der Staatsmacht abzielt und die nationale Sicherheit der Republik Belarus schädigt“. Das spricht für eine schrittweise Eskalation der Situation.
5. Vielleicht das Wünschenswerteste: Moskau lenkt ein, aber nicht militärisch, im Gegenteil: Putin biete Lukaschenko Asyl an und das nötige Kleingeld, damit dieser seinen Lebensabend in Ruhe verbringen kann, wenn er abdankt. Aus heutiger Sicht ist das reines Wunschdenken.
Ich bin wirklich gespannt, wie sich die Situation in Belarus in der nächster Zeit entwickelt. Russland spielt dabei sicherlich eine große Rolle, soweit Lukaschenko auf Putin hören mag. Dieser wird wohl kaum auf militärische Aktionen setzen, denn damit wäre die Spitze der Eskalation erreicht.