4. SEPTEMBER [1909]
-> RIVA
Gemeinsam mit Max Brod, Abfahrt 13 Uhr. Brod überreicht K. auf dem Bahnhof ein Notizbuch mit der Bemerkung: „wir werden parallele Reisetagebücher führen“. Otto Brod folgt mit einem späteren Zug.
aus: Reiner Stach: Kafka von Tag zu Tag – Dokumentation aller Briefe, Tagebücher und Ereignisse – S. Fischer, Frankfurt am Main 2017
Nun in Riva kam es nicht zu diesen ‚parallele[n] Reisetagebücher[n]‘. Erst zwei Jahre später 1911 entstand diese Gemeinschaftsarbeit von Franz Kafka und seinem Freund Max Brod unter dem Titel ‚Richard und Samuel‘ Eine kleine Reise durch mitteleuropäische Gegenden‘ und kam dabei über ein erstes Kapitel mit dem Untertitel „Die erste lange Eisenbahnfahrt (Prag–Zürich)“ nicht hinaus.
Es handelt sich um die Beschreibung einer realen Reise beider Freunde. Sie führten jeder ein Reisetagebuch, beschreiben also aus ihrer jeweiligen Sicht die verschiedensten Abfolgen, Gegebenheiten und Befindlichkeiten auf der Reise. Die Zusammenarbeit wurde allerdings von beiden schnell als unbefriedigend empfunden, da sie dabei immer störender ihre große Verschiedenheit spürten. Sie beendeten daher diese Zusammenarbeit nach dem ersten Kapitel. Auf Betreiben von Brod wurde dieses erste Kapitel im Juni 1912 in den Herder-Blättern (entstanden als eine Art jüdische Studentenzeitung des Herausgebers Willy Haas), in der viele namhafte Prager Schriftsteller, darunter Franz Werfel und Paul Leppin, publizierten, veröffentlicht.
Die Zuordnung der beiden Personen ist nicht eindeutig geklärt, aber mit sehr großer Sicherheit dürfte die Texte von Richard Franz Kafka, die von Samuel Max Brod verfasst haben.
aus Kafkas Werken: Die Aeroplane in Brescia – Erzählungen – Beschreibung eines Kampfes
Unter dem Titel »Richard und Samuel – Eine kleine Reise durch mitteleuropäische Gegenden«, wird ein Bändchen die parallelen Reisetagebücher zweier Freunde verschiedenartigen Charakters enthalten:
Samuel ist ein weltläufiger junger Mann, der mit vielem Ernst sich Kenntnisse im grossen Stil und ein richtiges Urteil über alle Gegenstände des Lebens und der Kunst zu bilden bestrebt ist, ohne doch jemals nüchtern oder gar pedantisch zu werden. Richard hat keinen bestimmten Interessekreis, lässt sich von rätselhaften Gefühlen, noch mehr von seiner Schwäche treiben, zeigt aber in seinem engen und zufälligen Kreise so viel Intensität und naive Selbstständigkeit, dass er nie zu schrullenhafter Komik ausartet. Dem Berufe nach ist Samuel Sekretär eines Kunstvereines, Richard Bankbeamter. Richard hat Vermögen, arbeitet nur, weil er sich nicht für fähig hält, freie Tage zu ertragen; Samuel muss von seiner (überdies erfolgreichen und sehr geschätzten) Arbeit leben.
Die beiden, obwohl Schulkollegen, sind während dieser beschriebenen Reise zum erstenmal andauernd mit einander allein. Sie schätzen einander, obwohl sie einander unbegreiflich erscheinen. Anziehung und Abstossung wird vielartig gefühlt. Es wird beschrieben, wie sich dieses Verhältnis zunächst zu überhitzter Intimität anstachelt, dann nach manchen Zwischenfällen auf dem gefährlichen Boden von Mailand und Paris in männliches Verständnis gegenseitig beruhigt und ganz befestigt. Die Reise schliesst damit, dass die beiden Freunde ihre Fähigkeiten zu einem neuen eigenartigen Kunstunternehmen vereinigen.
Die vielen Nüancen, deren Freundschaftsbeziehungen zwischen Männern fähig sind, darzustellen und zugleich die bereisten Länder durch eine widerspruchsvolle Doppelbeleuchtung in einer Frische und Bedeutung sehn zu lassen, wie sie oft mit Unrecht nur exotischen Gegenden zugeschrieben werden: ist der Sinn dieses Buches.
Vorbemerkungen zum 1. Kapitel (aus Franz Kafka: Erzählungen – Fischer Taschenbuch Verlag April 1976)