Urlaubszeit ist auch Lesezeit. So habe ich mir ein kleines Büchlein herausgesucht, das zudem im Urlaub spielt: Martin Walsers „Ein fliehendes Pferd“ aus dem Jahre 1978. Durch einen Zufall treffen sich nach langen Jahren zwei alte Schul- und Studienfreunde auf der Seepromenade am Bodensee mit ihren Frauen. Beide machen dort Urlaub. Während der eine, Helmut Halm, nichts mehr vom Leben erwartet und das zufällige Treffen als Belästigung empfindet (lieber möchte er Kierkegaards Entweder/oder lesen), jagt der andere, Klaus Buch, förmlich von einer Tätigkeit zur nächsten und bestimmt so auch das Urlaubsprogramm der anderen:
Helmut spürte einen brennenden Neid. Er hatte praktisch nicht gelebt. Es war nichts übrig geblieben. Hinter ihm war so ziemlich nichts. Wenn er sich erinnern wollte, sah er reglose Bilder von Straßen, Plätzen, Zimmern. Keine Handlungen. In seinen Erinnerungsbildern herrschte eine Leblosigkeit wie nach einer Katastrophe. Als wagten die Leute noch nicht, sich zu bewegen. Auf jeden Fall standen sie stumm an den Wänden. Die Mitte der Bilder blieb meistens leer. Er spürte, daß in ihm das Abenteuer endgültig zu Ende gegangen war. Das Erzählbare überhaupt. Manchmal setzte er sich zwar hin und ließ in einer Art Panik alle Leute aufmarschieren, die er je kennengelernt hatte. Die Namen und Gestalten, die er aufrief, erschienen. Aber für den Zustand, in dem sie ihm erschienen, war tot ein viel zu gelindes Wort.
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Etwas von früher lebendig zu machen, hieß doch, es auf eine Weise komplettieren, daß das Vergangene in jener Pseudoanschaulichkeit auferstand, die den Vergangenheitsgrad des Vergangenen einfach verleugnete.
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Klaus Buch erzählte offenbar das Vergangene am liebsten drastisch. Gibt es etwas, was weniger zusammenpaßt als Vergangenes und Drastisches? Bei Klaus Buch rollte es nur so von Tönen, Gerüchen, Geräuschen; das Vergangene wogte und dampfte, als sei es lebendiger als die Gegenwart.
aus: Martin Walser: Ein fliehendes Pferd – Seite 28ff. – Suhrkamp Taschenbuch 600 – 33. Aufl. 2008)
„Diese Geschichte könnte zu dem gehören, was einmal übrigbleibt von einem Jahrhundert“, schreibt die Stuttgarter Zeitung: Martin Walsers Jahrhundertbuch. Das klingt sehr dick aufgetragen. Und doch. Es ist ein herrliches Buch, eine kleine Novelle zwar, aber mit dem tiefen Blick in die Seelen zweier Männer Ende der Vierzig. Bereits 1985 wurde es ein erstes Mal verfilmt. 2007 kam die Novelle in einer Verfilmung von Rainer Kaufmann mit Ulrich Noethen als Helmut, Ulrich Tukur als Klaus, Katja Riemann als Sabine und Petra Schmidt-Schaller als Hel erneut in die Kinos.