Im Alter von zwanzig Jahren begann ich mit dem Lesen. Gut, in jungen Jahren hatte ich den obligatorischen Karl May gelesen und auch andere Jugendbücher. Sind ja auch gar nicht so schlecht die Geschichten von Winnetou und Old Shatterhand, obwohl mir Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar noch etwas besser gefallen haben (damals wie heute).
Mit zwanzig Jahren las ich zunächst Hermann Hesse. Es war damals die auslaufende Zeit der Blumenkinder. Und Hesses Bücher, speziell „Der Steppenwolf“, löste eine Hesse-Rezeption gerade bei diesen aus (vergleiche u.a. den Film „Easy Rider“ mit der Musik – „Born to be Wild“ – der Gruppe „Steppenwolf“, benannt nach Hesses Roman).
In dieser Zeit las ich auch Hesses „Narziß und Goldmund“ zum ersten Mal (diese Erzählung aus dem Jahr 1930 habe ich auch in die Liste meiner liebsten Bücher aufgenommen). Das Buch handelt zwar im Mittelalter, beschäftigt sich aber mit Fragen der Psychologie. Die beiden genannten Hauptfiguren verkörpern gewissermaßen die beiden Pole des Menschen – den Geistesmensch und den Sinnesmenschen in etwa nach dem Motto: Sinn und Sinnlichkeit. Zwar wirkt die Sprache Hesses heute teilweise etwas zu pathetisch, vor allem antiquiert, lässt einen aber doch nicht vom Lesen los. Und die Thematik ist weiterhin aktuell. Natürlich stehen Narziß und Goldmund hier jeweils als Stereotypen für einen dieser Menschentypen. Aber gerade oder weil sie so verschieden sind, schließen sie eine enge Freundschaft, da sie den fehlenden Teil in sich beim anderen entdecken. Narziß, der Geistesmensch, ist Lehrer und Mönch und wird eines Tages Abt eines Klosters. Goldmund, als Schüler ins Kloster gekommen, entrinnt den starren Mauern, um in der Welt sein Glück zu suchen. Er ist ganz den Sinnen zugewandt (Emotionen und Lust) und entwickelt sich zum Künstler.
Hier die Worte von Narziß, mit denen er die Unterschiede zwischen sich und Goldmund beschreibt:
“Die Naturen von deiner Art, die mit den starken und zarten Sinnen, die Beseelten, die Träumer, Dichter, Liebenden, sind uns andern, uns Geistmenschen, beinahe immer überlegen. Eure Herkunft ist eine mütterliche. Ihr lebet im Vollen, euch ist die Kraft der Liebe und des Erlebenkönnens gegeben. Wir Geistigen, obwohl wir euch andere häufig zu leiten und zu regieren scheinen, leben nicht im Vollen, wir leben in der Dürre. Euch gehört die Fülle des Lebens, euch der Saft der Früchte, euch der Garten der Liebe, das schöne Land der Kunst. Eure Heimat ist die Erde, unsere die Idee. Eure Gefahr ist das Ertrinken in der Sinnenwelt, unsere das Ersticken im luftleeren Raum. Du bis Künstler, ich bin Denker. Du schläfst an der Brust der Mutter, ich wach in der Wüste. Mir scheint die Sonne, dir scheinen Mond und Sterne, deine Träume sind von Mädchen, meine von Knaben …“
aus: Hermann Hesse Narziß und Goldmund (suhrkamp taschenbuch 274 – 2. Auflage 1975, S 49)
Goldmunds abenteuerliches Leben bildet den großen Mittelteil der Erzählung. Er scheut selbst den Totschlag nicht, wenn er dazu gezwungen ist. Am Ende nach einer Zeit des Wüten der Pest kehrt er zu Narziß zurück. Beide erkennen:
Jedes Leben wird ja erst durch Spaltung und Widerspruch reich und blühend. Was wäre Vernunft und Nüchternheit ohne das Wissen vom Rausch, was wäre Sinnenlust, wenn nicht der Tod hinter ihr stünde, und was wäre Liebe ohne die ewige Todfeindschaft der Geschlechter?
(S. 198)
Zwar entschwindet Goldmund noch einmal und kehrt krank und alt zurück. Aber sowohl er als auch Narziß haben gewissermaßen den inneren Frieden gefunden, indem sich beide auf ihre Art selbst verwirklicht haben:
Das vollkommene Sein ist Gott. Alles andere, was ist, ist nur halb, ist teilweise, es ist werdend, ist gemischt, besteht aus Möglichkeiten. Gott aber ist nicht gemischt, er ist eins, er hat keine Möglichkeiten, sondern ist ganz und gar Wirklichkeit. Wir aber sind vergänglich, wir sind werdend, wir sind Möglichkeiten, es gibt für uns keine Vollkommenheit, kein völliges Sein. Dort aber, wo wir von der Potenz zur Tat, von der Möglichkeit zur Verwirklichung schreiten, haben wir Teil am wahren Sein, werden dem Vollkommenen und Göttlichen um einen Grad ähnlicher. Das heißt: sich verwirklichen.
(S. 286)
Thomas Mann schrieb seinerzeit durchaus passend:
Hesses Roman ‚Narziß und Goldmund’ setzt mit großer sprachlicher Schönheit ein und scheint in einer mittelalterlichen Zeitlosigkeit zu schweben, die dem poetischen Bedürfnis dieser rohen Aktualität widerstrebenden Geistes entspricht, ohne darum seine schmerzliche Fühlung mit den Problemen der Gegenwart zu verleugnen … ein wunderschönes Buch mit seiner Mischung aus deutsch-romantischen und modern-psychologischen, ja psychoanalytischen Elementen … eine in ihrer Reinheit und Interessantheit durchaus einzigartige Romandichtung.