Publikumsbeschimpfung ist eigentlich ein Sprechstück in einem Akt von Peter Handke. Aber lange vor Handke gab es einen Autoren, der uns heute als Philosoph bekannt sein sollte, der bereits „das Publikum“ beschimpfte: Søren Kierkegaard (* 5. Mai 1813 in Kopenhagen; † 11. November 1855 ebenda). Bekannt wurde Kierkegaard durch sein Werk Entweder – Oder.
Kierkegaard ist uns heute als radikaler Verfechter des Individualismus und als Vorreiter des Existenzialismus bekannt. Dabei wird allerdings oft verkannt, dass er den Individualismus in Bezug auf das Christentum verstand. Er sah im Individuum, im einzelnen Menschen ein Selbst, dem nur von Gott als dem Unendlichen Existenz zukommt. Nur der Einzelne kann zu Gott finden. Das Ziel des religiösen Menschen ist es, in ein existenzielles Verhältnis zu Gott zu treten. Dies kann allein im Glauben geschehen. Gott als der Absolute ist nicht der Kausalität der Welt unterworfen und entzieht sich daher als der Unbekannte dem menschlichen Verstand, er ist rational nicht erkennbar.
Aber ich bin thematisch schon übers Ziel hinausgeschossen. Vor vielen Jahren habe ich mir einmal ein Buch mit einer Auswahl aus dem Gesamtwerk von Søren Kierkegaard zugelegt. Da ich immer wieder über seinen Namen gestolpert war, wollte ich auch etwas von ihm lesen. Aber erst jetzt habe ich mich ausgerafft, um dieses gut 400 Seiten umfassende Buch zu lesen. Dabei bin ich zunächst über den Begriff des Publikums gestolpert. Kierkegaard schreibt:
(Es) … muß erst einmal ein Phantom zuwege gebracht werden, … eine ungeheuerliche Abstraktion, ein allumfassendes Etwas, welches Nichts ist, eine Luftspiegelung – dies Phantom heißt Publikum.
Kierkegaard verbindet dieses Phantom mit der Presse. Heute könnte man allgemein von den Medien sprechen (also Presse samt Fernsehen, Internet usw.). Das Publikum gibt es eigentlich für ihn nicht. Es ist keine Versammlung, kein Verein, keine Gruppe. Es ist eine Abstraktion, in deren Namen Meinung gemacht wird:
Fünfundzwanzig Unterschriften unter das törichtste Zeug sind eine Meinung; des vorzüglichsten Kopfes gründlichst durchdachte Meinung ist ein Paradox.
Man spürt, woher der Wind weht. Und ich frage mich, was heute anders ist als vor über 150 Jahren. Auch heute wird gewusst Meinungsmache betrieben, und man stellt dabei ein Publikum in den Mittelpunkt, das es so in aller Verallgemeinerung gar nicht gibt. Auch heute werden Redensarten zu Weisheiten, indem man sie nur oft genug dem Publikum wiederholt. Eine imaginäre Masse wird so zum Repräsentanten einer angeblich allgemeingültigen Meinung erhoben. Dabei gibt es weder dieses „Publikum“, noch kann von einer allgemeinen Gültigkeit einer solchen Phrase gesprochen werden.
Ich kann mich dieser Kierkegaard’schen Publikumsbeschimpfung nur anschließen, obwohl es eigentlich keine Beschimpfung eines Publikums ist, sondern die von Politikern und Medienmachern, die uns ihre Meinungen als die unseren verkaufen wollen.
Siehe auch: Text von Kierkegaards „Entweder/Oder“