Der November ist ein Monat der Hochnebel; Landschaften und Städte liegen grau in grau, meist windstill, unter einer dichten Dunstglocke. Ein Monat des leisen Horrors und des Todes, nicht allein wegen solcher Feiertage wie Allerheiligen, Totensonntag und Volkstrauertag. Für viele ist es eine Zeit der Depressionen.
Vor einigen Jahren gab es bei Zweitausendeins, einem Bestellbuchladen (und für vieles mehr), eine siebenbändige Dünndruckausgabe der ersten zwanzig Jahrgänge (mit 1954 beginnend, meinem Geburtsjahr) von Akzente – Zeitschrift für Literatur (damals noch Zeitschrift für Dichtung) – über 11.000 Seiten umfassend für einen Spottpreis. Die Zeitschrift Akzente ist wohl die bedeutendste Literaturzusammenfassung in deutscher Sprache. Alles was Rang und Namen in der deutschen Literatur hat und hatte (oder auch nicht), hat hier irgendwann einmal einen Beitrag veröffentlicht.
Erst in letzter Zeit bin dazu gekommen, die Bände von Anfang an zu lesen. Bisher hatte ich nur von Zeit zu Zeit darin geblättert. Für dieses Jahr habe ich mir den Jahrgang 1955 vorgenommen. Es ist schon interessant zu lesen, was und wer vor genau 50 Jahren literarisch im Rampenlicht stand. Hier finden sich z.B. schon Beiträge von Günter Grass und Martin Walser aber auch noch von Thomas Mann und Hermann Hesse, die damals noch lebten. Thomas Mann schrieb über Friedrich Schiller, denn auch 1955 war Schiller-Jahr.
Ziemlich am Schluss des Jahresbandes fand ich dann einen Essay über Alfred Lichtenstein und darin das unten aufgeführte Gedicht. Es beschreibt Bewegungen, die in knappen Stößen sich unvermittelt aneinanderstellen. Die peinliche Genauigkeit des Bildes, ironische Pedanterie in einem Vergleich verstärkt den Eindruck monotoner Schilderei, wie Herbert Heckmann, der Autor des Essays, schreibt.
Ein dicker Junge spielt mit einem Teich.
Der Wind hat sich in einem Baum gefangen.
Der Himmel sieht verbummelt aus und bleich,
Als wäre ihm die Schminke ausgegangen.
Auf langen Krücken schief herabgebückt
Und schwatzend kriechen auf dem Feld zwei Lahme.
Ein blonder Dichter wird vieleicht verrückt.
Ein Pferdchen stolpert über eine Dame.
An einem Fenster klebt ein fetter Mann.
Ein Jüngling will ein weiches Weib besuchen.
Ein grauer Clown zieht sich die Stiefel an.
Ein Kinderwagen schreit und Hunde fluchen.
Herbert Heckmann in Akzente 1955, Heft 5 schreibt u.a. erläuternd weiter:
Die Wirklichkeit zeigt sich in den Scherben eines Augenblickes. Das Eindeutige verwirrt sich im Netz seiner Beziehungen. … Lichtenstein hat nicht die Absicht, eine real denkbare Landschaft zu geben: naturalistische Schilderei liegt ihm genau so fern wie eine symbolische Vertiefung.
November – Monat tagelanger Dämmerung, der Monotonie. Irgendwie finde ich das Gedicht sehr passend zu diesem Monat.
weitere Gedichte von Alfred Lichtenstein
ey krass altah voll der übergeile shit, voll der bürner das gedicht bang mich voll weg, doll der mega hyper scheiss ohne spass alter
bam ba bam
Genau, das wollte ich auch gerade sagen … Du heißt nicht rein zufällig Marcel Reich-Ranicki?!