Kurz, kürzer – Kürzestgeschichten

Deutsche Literatur vor 50 Jahren. Die noch heute bedeutendste deutsche Literaturzeitschrift Akzente ging gerade in ihr zweites Jahr. Für mich Anlass, einen weiteren Blick auf das damals Geschriebene zu werfen. Hier zwei als Kürzestgeschichten deklarierte Werke:

Heimito von Doderer: Das Frühstück

Heute morgens frühstückte ich im Bade, etwas zerstreut. Ich goß den Tee in das zum Zähneputzen bestimmte Gefäß, und warf zwei Stücke Zucker in die Badewanne, welche aber nicht genügten, ein so großes Quantum Wassers merklich zu versüßen.

Gisela Elsner: Herausragen

Triboll ragte aus der Straße heraus, er ragte schon länger heraus, plötzlich jedoch hatte das Ragen ein Ende. Ein Baum kam, und als Triboll daneben stand, mußte er zugeben, daß der Baum ragte und er nicht mehr. Weil er sich so sehr wünschte, wieder ragen zu können, nahm er eine Axt und machte aus dem Baum eine Leiche. Triboll war zwar jetzt ein Mörder, aber er konnte wieder ragen.

Da kam ein Haus, das ganz nahe an der Straße stand. Es war ein neues Haus, ein Haus mit weißen Wänden, einem spärlichen Eingang und einem sehr spärlichen Fenster. Im Fenster hing die Phantasielosigkeit und schrie, und eine hohe Mauer, betont konservativ, umgab das Bauwerk. Aber das Haus ragte, und es war schwerer, ein Haus als einen Baum zu ermorden. Triboll ließ es einfach unter sich. Er stieg über die konservative Gartenmauer und setzte sich, es hatte ihm viel Anstrengung gekostet, auf den Giebel des Hauses. Nun ragte er wieder, hatte eine weitaus bessere Sicht als jemals zuvor, und er sah, daß andere ebenso ragten wie er, doch er ragte mit Freuden in dieser Gesellschaft und lächelte herablassend, als er einen Jugendragenden auf der Straße stolz einherstelzen sah. Triboll war ein erwachsener Ragender geworden.

Über WilliZ

Wurde geboren (in Berlin-Schöneberg), lebt (nach einem Abstecher nach Pforzheim, längere Zeit in Bremen und Hamburg) in dem Örtchen Tostedt am Rande der Lüneburger Heide - und interessiert sich für Literatur, Musik, Film und Fotografie (sowohl passiv wie aktiv) ... Ach, und gern verreise ich auch!