Fortsetzung von: (21): Die Lust an der Angst
In der Kolumne „Der Witzableiter“ von Eike Christian Hirsch, die 1984 im ZEITmagazin erschien, geht es heute um Traumata und Triebe, also um Wunden, die uns das Leben schlägt – aber auch um Wünsche, die vielleicht unerfüllt bleiben – mit denen wir uns aber im Witz beschäftigen und uns dadurch gewissermaßen selbst therapieren.
Das Buch zur Kolumne: Eike Christian Hirsch – Der Witzableiter: Oder Schule des Lachens
Die Geliebte des kaiserlichen Leutnants schluchzt: „Es war der schrecklichste Augenblick meines Lebens, Otto, als ich deinen Trennungsbrief bekam. Ich wollte mich erschießen, aber ich hatte kein Geld, mir einen Revolver zu kaufen.“ Darauf er: „Aber Liebste, hättest du nur ein Wort gesagt.“
Die zynische Kälte des Leutnants hat es mir angetan. Aber ich weiß zugleich, daß ich mich durch meine Begeisterung nur schützen will, weil mich nämlich Zynismus eigentlich besonders verletzt. Mit Zynismus gegen die Angst vor Zynismus? Es scheint so zu sein! Mit Witzen wollen wir ein Trauma kurieren. Auch dieser Junge rührt mich:
Der kleine Patrick kommt mit einem blauen Auge aus der Schule. „Einer von den Großen aus unserer Klasse war das“, klagt er. „Morgen bringst du ihm eine Tafel Schokolade mit, dann werdet ihr bestimmt Freunde“, meint die Mutter. Am nächsten Tag kommt der kleine Patrick mit einem zweiten blauen Auge nach Hause. „Wer war denn das schon wieder?“ fragt die Mutter. „Wieder der große Junge. Er mag keine Schokolade.“
Einer der frühen Schüler Freuds, der Amerikaner A. A. Brill, der Freuds Buch über den Witz bereichert und ins Englische übersetzt hat, veröffentlichte 1940 selbst eine Arbeit über den Humor. Darin berichtet er, es sei ihm zur Gewohnheit geworden, seine Patienten nach ihrem Lieblingswitz zu fragen. Von einem jüngeren Wissenschaftler hörte er diesen: Der zerstreute Professor stellt sich ans Klobecken, knöpft seine Hose auf, zieht die Krawatte heraus und pinkelt in die Hose.
Brill meint, der Witzerzähler habe damit seinen Vater verspottet, unter dessen Dominanz er litt. Der hatte ihn früher getadelt, wenn er in die Hose machte. Außerdem symbolisierte die Krawatte hier den größten Wunsch des Sohnes, der einen Komplex wegen seines zu kleinen Penis gehabt habe.
Fünfzehn Jahre später veröffentlichte ein anderer amerikanischer Therapeut, Israel Zwerling, ohne Brill zu kennen, ebenfalls eine Studie über den Lieblingswitz in der Therapie. Eine Patientin hatte ihm diesen erzählt: Ein Mann wird gefragt: „Wer war die Dame, mit der ich Sie gestern abend gesehen habe?“ Und er antwortet: „Das war keine Dame, das war meine Frau.“ Die Patientin habe daraufhin zu weinen begonnen und gesagt, der erste Eindruck, den sie von ihrer Mutter gehabt habe, sei der Anblick gewesen, wie sie das Klo geputzt habe. Sie selbst wollte niemals so erniedrigt werden. Offenbar war der Witz ein bitterer Spott über das, was die Patientin am meisten fürchtete.
Auch Gershom Legman (das ist der Mann, der über den unanständigen Witz ein Buch geschrieben hat) meint, der Lieblingswitz könne „das tiefste Problem“ eines Menschen verraten. Der Witzerzähler werbe unbewußt um Verständnis für sein Trauma. Legman nennt das Beispiel einer Engländerin, die im Krieg ein Bein verloren hatte und daran litt, daß sie dennoch vorübergehend die (perverse?) Aufmerksamkeit von Männern erregte. Als man sie in Gesellschaft drängte, einen Witz beizusteuern, fiel ihr nur dieser ein: „Jeder kann sich irren“, sagte der Igel und kletterte von der Haarbürste.
Diese Frau scheint ihr Trauma tapfer benennen zu wollen. Man könnte vermuten, in Witzen, die bei uns zünden, gehe es immer um Probleme. So einseitig muß man das aber nicht sehen. Jedenfalls ist nicht immer Angst im Spiel. Auch Wünsche zeigen sich. Ein deutscher Professor, der sich mit Witzen auskennt, erzählte in der Zeit nach den Studentenunruhen keinen so oft wie diesen: „Auf dem WC der Uni trifft ein Student seinen Professor und sagt zu ihm: „Endlich kann ich mir Ihnen gegenüber mal etwas herausnehmen.“ Aber der Professor erwidert: „Machen Sie sich keine Illusionen. Sie werden auch diesmal den kürzeren ziehen.“
Dieser Lieblingswitz, das darf man vermuten, führt die unverhüllte Wunscherfüllung des Professors vor. Wir haben es also nicht nur mit Traumata, auch mit Trieben zu tun; nicht nur mit Wunden, auch mit Wünschen.
Der amerikanische Analytiker Heinz Kohut schreibt, wenn sich der Patient gegen Ende der Therapie selbst mit Humor sehen könne, so sei das „als ob die Sonne unerwartet durch die Wolken bräche“. Die Besserung scheint stabil, die Heilung in Sicht.
Man nennt es wohl Galgenhumor, wenn jemand über sein Unglück, wo er es schon nicht zu ändern weiß, wenigstens spotten kann. Diesen Humor hat Sigmund Freud im hohen Alter einen „Triumph des Ichs“ genannt. Mit einem Beispiel dieser Gattung, makaber wie es sich gehört, will ich schließen.
Ein Mann ist aus dem zehnten Stockwerk gefallen. Viele Leute umdrängen die Unglücksstelle. Einer drängelt sich zum Opfer vor und fragt, was passiert sei. „Ich weiß es nicht“, sagt der Verunglückte mit letzter Kraft, „ich bin gerade auch erst angekommen.“
Eike Christian Hirsch – Der Witzableiter (Kolumne in 25 Teilen)
aus: ZEITmagazin – Nr. 49/1984
[Fortsetzung folgt]