Die Wichtigkeit jedes einzelnen (für Gott)

Lieber Peder!

Ein frohes neues Jahr! Herumgehen und gratulieren tu ich nie; und nur selten, ausnahmsweis, schreib ich einen Glückwunsch – aber Du gehörst ja auch zu den Ausnahmen. Ich habe in den verflossenen Jahren öfter an Dich gedacht, und gedenke es ebenso zu halten im gegenwärtigen: ich habe, was Dich angeht, u.a. öfter daran gedacht, oder bedacht (und gedenke es fernerhin ebenso zu halten): Daß Du, mit Deinem Lebensschicksal versöhnt, in Geduld und stiller Ergebung, eine ebensogroße Aufgabe lösest wie wir andern, die auf einer größeren oder kleineren Bühne mitspielen, große Geschäfte treiben, Häuser bauen, große Bücher schreiben und Gott weiß was sonst tun. Deine Bühne ist unleugbar die kleinste: die der Einsamkeit und Innerlichkeit – aber die „Hauptsumme“, wie es im Prediger heißt, ist: wenn alles gehört ist, so kommt es doch hauptsächlich auf die Innerlichkeit an – und wenn alles vergessen ist, so kommt es ebenfalls auf die Innerlichkeit an. –

Dies ist vor einigen Tagen geschrieben, ich wurde unterbrochen und konnte den Brief nicht beenden. Heute ist Dein Vater bei mir gewesen, und dieser Umstand brachte es mir wieder in Erinnerung, den angefangenen Brief zu vollenden oder doch wenigstens zu beenden. Da war nämlich noch etwas, was ich hinzufügen wollte. Sollte ich Dir einen Rat fürs Leben geben oder, Deine besondere Lage bedenkend, Dir eine Lebensregel empfehlen, so würde ich sagen: Vergiß vor allem nicht die Pflicht, Dich selbst zu lieben, laß Dir dadurch, daß Du gewissermaßen aus dem Leben herausgenommen bist, daran verhindert, tätig in es einzugreifen, laß Dir dadurch, daß Du in den törichten Augen einer geschäftigen Welt etwas Überflüssiges bist, laß Dir dadurch vor allem nicht die Selbstachtung rauben, als ob in den liebevollen Augen einer allweisen Vorsehung Dein Leben, wenn es in Innerlichkeit vollbracht wird, nicht die gleiche Bedeutung und Giltigkeit hätte wie jedes andern Menschen Leben, und erheblich größere als der Emsigkeit emsiges, emsigeres, alleremsigstes Hasten mit – der Vergeudung des Lebens und dem Verlust seiner selbst. –

So leb denn wohl im neuen Jahr; macht es Dir zwischendurch einmal Freude, mich zu besuchen, so komm Du nur, Du bist willkommen.

Dein Vetter S.K.

Brief an den lahmen Vetter Hans Peder Kierkegaard, Jahreswende 1848/49 (?) Diederichs 35, 196f. (S.K.) – hier: S. 63f. aus: Søren Kierkegaard – Auswahl aus dem Gesamtwerk – VMA-Verlag, Wiesbaden – Lizenzausgabe 1979

Siehe auch meinen Beitrag: Publikumsbeschimpfung

Über WilliZ

Wurde geboren (in Berlin-Schöneberg), lebt (nach einem Abstecher nach Pforzheim, längere Zeit in Bremen und Hamburg) in dem Örtchen Tostedt am Rande der Lüneburger Heide - und interessiert sich für Literatur, Musik, Film und Fotografie (sowohl passiv wie aktiv) ... Ach, und gern verreise ich auch!

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