Biographien politischer Persönlichkeiten meide ich eigentlich wie der Teufel das Weihwasser. Nicht dass ich alle Politiker für Schweinehunde und dergleichen halte. Aber z.B. die Erinnerungen von Herrn Helmut Kohl interessieren mich nun einmal partout nicht.
So bin ich dann auch nur durch Zufall zu einer Biographie über Willy Brandt (1913-1992) gekommen. Und ich habe es geschafft, diese bis zum Ende durchzulesen. Willy Brandt ist sicherlich einer der wichtigsten Politiker in Deutschland des 20. Jahrhunderts. Als Bürgermeister von Berlin erlangte Brandt auf Grund seines entschlossenen Handelns während des Berlin-Ultimatums (1958) und nach dem Mauerbau 1961 enorme Popularität. Mit dem Motto „Mehr Demokratie wagen“ wurde er 1969 Bundeskanzler mit einer sozial-liberalen Koalition und trat nach der Affäre um den DDR-Spion Günter Guillaume 1974 zurück. Brandts Amtszeit ist verbunden mit dem Stichwort der Ostpolitik, die den kalten Krieg unter der Losung „Wandel durch Annäherung“ bzw. „Politik der kleinen Schritte“ abmindern und die Berliner Mauer durchlässiger machen sollte. Der Kniefall von Warschau (1970) am Mahnmal des Ghetto-Aufstandes von 1943 leitete symbolisch die Entspannungspolitik ein, dafür erhielt er 1971 den Friedensnobelpreis.
siehe auch: wikipedia
Wer war aber nun der Mensch Willy Brandt? Die Biographie von Gregor Schöllgen skizziert die Lebensstationen des Politikers und kommt dabei auch auf die Spur des Menschen Willy Brandt. Ich erinnere mich selbst noch sehr genau an die Zeit um 1970. Brandt polarisierte die Menschen. Die einen verehrten ihn („Willy will i!“), weil er trotz oder gerade wegen seiner Widersprüche immer sehr menschlich zu sein schien. Die anderen brachten oft nur Verachtung für ihn auf – angeheizt durch Verleumdungen aus dem rechten Lager.
Schöllgen zeigt diese Widersprüche auf, weiß aber auch immer um die Hintergründe. Auf der einen Seite war Brandt der sozialdemokratischen Tradition verbunden, zumal er selbst aus dem Arbeitermilieu stammte, sich von dort nach oben gearbeitet hatte. Er war aber auch ein Genussmensch, Kettenraucher, kein Kostverächter sowohl Frauen als auch geistigen Getränken gegenüber. Für Moralisten das gefundene Fressen.
Und irgendwie war er auch immer auf der Flucht. Schon früh reiste er durch Europa, im hohen Alter finden wir ihn in Afrika oder Asien unterwegs. Es ist eine Flucht nach vorn, um Niederlagen hinter sich zu lassen.
Interessant ist auch das Bild, das wir von Brandt in seinen Verhältnissen zu Herbert Wehner und Helmut Schmidt, seinem Nachfolger auf dem Kanzlerposten, erhalten. Zwiespältiger können solche politischen Männerfreundschaften kaum sein.
siehe auch: Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung