„… ich winde mich auf meinem Liegestuhl fast in Krämpfen, … in den Schläfen bohrt sich jedes Wort ein, die Folge dieser Nervenzerrüttung ist, daß ich auch in der Nacht nicht schlafe“, klagt er, „… fast scheint es mir manchmal, daß es das Leben ist, das mich stört; wie könnte mich denn sonst alles stören?“
(Franz Kafka, Brief an Max Brod vom 24.01.1921, Lungenheilsanatorium Matliary, Villa Tatra, siehe Briefe 1902-1924, S. 288)
Eigentlich bin ich kein Voyeur, der sich in das Privatleben eines Schriftstellers zu schleichen wünscht. Manchmal finde ich es schon erschreckend, wie sehr gerade das Privatleben Kafkas, wenn auch (fast) immer sehr dezent, in unzähligen Büchern über ihn vor dem Leser ausgebreitet wird. Aber Kafka ist ein Phänomen, sowohl als Schriftsteller als eben auch als Mensch. Und wer sich etwas mit dem Menschen Kafka beschäftigt hat, versteht vielleicht eher die Erzählungen und Romane des Prager Dichters, die heute eindeutig zum unbestrittenen Kanon der Weltliteratur gehören. Vielleicht ist daher Kafka gewissermaßen gemeinfrei.
Neben Jirí Gruša: Franz Kafka aus Prag habe ich jetzt Rotraut Hackermüller: Das Leben, das mich stört. Eine Dokumentation zu Kafkas letzten Jahren 1917 – 1924 – Medusa Verlag – Wien-Berlin, 1984 – ISBN 3-85446-094-5 durchgeblättert. In Grušas Fotoband lernen wir das Prag Kafkas kennen, jene Stadt, die Kafka nicht los ließ: „Dieses Mütterchen hat Krallen.“ In der Dokumentation zu Kafkas letzten Lebensjahren gelingt es ihm nun, den Krallen zu entkommen. Endlich, aber um welchen Preis:
„Sein Gehirn habe ‚die ihm auferlegten Sorgen und Schmerzen’ nicht mehr allein tragen können, schreibt Franz Kafka an Milena Jesenská; es habe sich daher an die Lunge gewandt, mit der Bitte, einen Teil der Last zu übernehmen … ‚und so wird es noch ein Weilchen gehen.’ Von den sieben Jahren, die die Lunge half, die Last zu tragen, berichtet dieses Buch.
Über dem, was Kafka an der Welt und am Leben zu leiden hatte, tritt das Physische in den Hintergrund; Kafka als ‚Patient’, als ‚klinische Fall’ ist eine Reduktion, die sinnvoll sein mag, wenn es gilt, die Biographie um einige Facetten zu bereichern. Der Dichter hat, wie er sagt, die Tuberkulose selbst ‚herbeigerufen’; zunächst schien sie ihm kaum Bedrohung, sondern im Gegenteil Befreiung von Verpflichtungen – gegenüber Beruf, Eltern, der Braut Felice Bauer (die Krankheit war Vorwand für die zweite Entlobung). So fühlt es sich denn auch nach dem ersten heftigeren Blutsturz im August 1917 ‚besser als sonst’ und lehnt ärztliche Überwachung und einen Kuraufenthalt ab. Die Krankheit aber begnügt sich nicht damit, alles Leiden in einem Punkt zu konzentrieren; sie schreitet fort und wird selbst zur Verpflichtung, vor der nicht mehr auszuweichen ist.
Die nächsten drei Jahre nimmt Kafka mehrere Krankenurlaube, verbringt sie auf dem Land, in Zürau, Schelesen, Turnau, im Frühjahr 1920 drei Monate in Meran. Ende 1920 sieht er sich gezwungen, für neun Monate das Sanatorium Matliary in der Hohen Tatra [Bild siehe unten] aufzusuchen; am Ende stehen Todesahnung und die Worte: ‚… es ist kein Platz mehr für einen neuen Versuch … kein Versuch mehr bedeutet Ende.’
1922 wird er frühpensioniert; von einem letzten Ausbruchsversuch nach Berlin kehrt er im März 1924 todkrank nach Prag zurück, geht von dort jeweils für kurze Zeit ins Sanatorium Wienerwald, an die Hals-Nasen-Ohrenklinik des Allgemeinen Krankenhauses in Wien (Klinik Hajek), schließlich in die Lungenheilstätte Kierling bei Klosterneuburg, wo er am 3. Juni 1924 an Kehlkopftuberkulose stirbt.
Die Orte, die er aufgesucht, die Menschen, die Kafka während der letzten Jahre seines Lebens umgeben haben, sind auf nahezu 300 Bildern zu betrachten. Zum Großteil noch nicht veröffentlicht und in mühsamer Recherchierarbeit zusammengetragen, illustrieren sie den äußeren Ablauf der Krankheit, vor allem das bisher noch wenig dokumentierte Ambiente der Sanatorien (Matliary, Wienerwald, Kierling) mit Mitpatienten und Ärzten. Der Autorin ist es nicht nur gelungen, ein Porträt Robert Klopstocks zu finden, des Freundes der letzten Zeit, der Kafkas Sterben sah, sie hat auch im Allgemeinen Krankenhaus in Wien die verloren geglaubte Krankengeschichte des Dichters entdeckt, die hier erstmals publiziert wird.
Rotraut Hackermüller, geb. 1943 in Wien, Lehrerin, Autorin von zwei Lyrikbänden und Erzählungen, Essays usw., die in zahlreichen in- und ausländischen Zeitschriften und Zeitungen veröffentlicht wurden. Verschiedene Auszeichnungen.“
(aus dem Klappentext zum Bilderband)
Rotraut Hackermüller: Das Leben, das mich stört – Kafkas letzte Jahre 1917-1924 – Umschlagfoto: Warteraum der Klinik Hajek, Wien |
Matliary in der Hohen Tatra (rechts Villa Tatra) – Sanatorium – Aufenthalt von Franz Kafka von Dez. 1920 – Aug. 1921 |
Franz Kafka (etwa 1923/24) – Dora Diamant (1928) |
Dieser Bildband ist natürlich etwas mehr als ein Krankenbericht, dürfte aber in erster Linie den Leser interessieren, der sich noch etwas mehr mit Kafka beschäftigt. Allerdings sind allein auch die Fotografien von einem besonderen Reiz. Leider ist dieses Buch nicht wieder neu aufgelegt worden und so nur im Antiquariat erhältlich. Zur Kranken- und Leidensgeschichte habe ich so die wichtigsten Stationen von Kafkas letzten Jahren in einer Übersicht zusammengefasst:
Wohnung von Franz Kafka mit Dora Diamant vom 15.11.1923 – 01.02.1924 in Berlin-Steglitz, Grunewaldstraße 13 (mit Gedanktafel)
Sept. 1917 – April 1918 | Zürau bei der Schwester Ottla |
Sept. 1918 | Turnau (Nordböhmen) für einige Tage |
Nov. 1918 – März 1919 | Schelesen bei Liboch |
Apr. – Juni 1920 | Meran Meran-Untermais (Pension Ottoburg) |
Schloß Friedland in Böhmen | |
Ende Juni/Anfang Juli 1920 | Wien – Treffen mit Milena Cafe Central (Arkadenhof) Cafe Herrenhof (Herrengasse 10) |
Aug. 1920 | Gemünd (Grenze Österreich/Tschechien) Treffen mit Milena |
Dez. 1920 – Aug. 1921 | Matliary/Hohe Tatra (in Lamnitz/Tatranske Komnica von der Bahn abgeholt) Villa Tatra Tschirmer See |
dann wieder | in Prag |
Juni-Sept. 1922 | Planá an der Luschnitz |
Mai 1923 | Dobřichovice für einige Tage |
Juni-Sept. 1923 | Ostseebad Müritz mit Schwester Elli Kennenlernen von Dora Diamant (Dymant) |
Zwischenhalt | in Berlin |
wieder | in Prag |
einige Tage | in Schelesen |
ab 24.09.1923 | Berlin-Steglitz, Miquelstraße 8 |
15.11.1923 – 01.02.1924 | Berlin-Steglitz, Grunewaldstraße 13 |
ab 01.02.1924 | Berlin-Zehlendorf, Heidestraße 25-26 bei der Witwe von Dr. Carl Busse |
17.03.1924 | zurück nach Prag (mit Max Brod) |
05.04. – 10.04.1924 | über Bahnstation Pernitz (Niederösterreich) ins Sanatorium Wienerwald im Feichtenbachtal (75 km südl. von Wien) |
anschl. | Klinik Hajek, Wien IX, Lazarettgasse 14 Laryngologische Klinik |
ab 19.04.1924 | Kierling (Hauptstraße 187) bei Klosterneuberg (15 km von Wien) Privatsanatorium Dr. Hoffmann |
03.06.1924 | Tod Franz Kafkas in der Mittagszeit |
Sterbeort Kranz Kafkas (3. Juni 1924): Kierling (Hauptstraße 187) bei Klosterneuberg – Privatsanatorium Dr. Hoffmann
Während eines Aufenthaltes im Ostseebad Müritz (heute Graal-Müritz) mit seiner Schwester Elli lernte Franz Kafka im Sommer 1923 Dora Diamant kennen, die ihn dann bis zu seinem Ende zu Seite stand und pflegte. Dora Diamant (jiddisch: Dymant) wurde am 4. März 1898 in Pabianice nahe Lódz (Polen) geboren. Ihr Vater war Hersch Aron Dymant (geb. 1874), ein gelehrter Anhänger des Chassidismus; ihre Mutter Friedel (geb. 1873) starb bereits, als Dora etwa acht Jahre alt war. Es ist eine ganz besondere Liebesgeschichte, die in diesem Bilderband endlich die Erwähnung findet, die sie verdient:
„Nun scheint ihm Dora endlich das Gefühl zu geben, dem Anspruch an das Glück zu genügen, denn dort, wo er nun zwangsweise versagen muß, entschuldigt ihn die Krankheit, so daß er ohne Angst erleben kann, wonach er sich sehnt. Doras aufopfernde Pflege, ihre mütterliche Wärme, Selbstlosigkeit und ihre bedingungslose Bereitschaft, ihr Leben mit dem Schwerkranken zu teilen, sind Ausdruck einer Seelengröße, die alles Leid überstrahlt. Max [Brod] ist überzeugt davon, daß diese beiden Menschen ‚ganz wundervoll’ zusammenpassen. Gerührt beobachtet er ihr verspieltes ‚Familienbad’, das gleichsam zur symbolischen Handlung wird, wenn sie gemeinsam ihre Hände in dasselbe Waschbecken tauchen.“ (S. 142)
Noch kurz vor dem Tode Franz Kafkas veröffentlichte der Kurt Wolff Verlag im Prager Tagblatt vom 20.4.1924 folgende Anzeige:
„Drei Prager Dichter … Max Brod … Franz Werfel … Franz Kafka … „
„Das Prager Tagblatt schrieb über Kafka: Daß der Publikumerfolg ausblieb, ist ein Beweis gegen das Publikum. Denn diese Aufzeichnungen traumhafter Begebenheiten sind der selten geglückte Versuch deutscher Literatur, abstrakteste Geschehen konkretest zu sagen. – Stilproben, in denen kein Wort entfallen, keines hinzugesetzt werden dürfte, wenn nicht der Bau zusammenstürzen soll, von allen Ismen freigebliebene peinlich saubere deutsche Prosa: das äußere Gewand. Gebändigte Phantasie, dahinter tausendfache Bedeutung, die man nur ahnen darf.“
Am 3, Juni 1924 zur Mittagszeit starb Franz Kafka: Als sich Klopstock [ein Freund] vom Bett entfernt, um die Spritze zu reinigen, bittet er: „Gehen Sie nicht fort.“ Der Freund beruhigt ihn. „Ich gehe ja nicht fort.“ „Aber ich gehe fort“, erwidert Kafka und schließt die Augen. (lt. Max Brod)
Anton Kuh schrieb in einem Nachruf, den „Die Stunde“ sieben Tage nach Kafkas Tod veröffentlichte:
„… Später werden sie sein Leben … dem Pascals vergleichen; sie werden Zusammenhänge zwischen seinen Dichtung gewordenen Traumberichten und der Psychoanalyse aufdecken; der Name Kleist wird die Vergleiche krönen.
Heute wissen sie sich nicht einmal der Ehre würdig zu erweisen, die dieser aus Prag Stammende Wien antat, in dem er, einen Kilometer von unserer Stadt entfernt, seine letzten Tage verbrachte und starb.
Kierling bei Klosterneuburg ist durch ihn in die Literaturgeschichte gekommen.“ (in Kuh, Anton: Luftlinien, hrsg. Von Ruth Greuner, Wien, 1981 – S. 471)
Kafkas Grab, in dem auch seine Mutter Julie und sein Vater Hermann bestattet sind, befindet sich im Neuen jüdischen Friedhof im früheren Prag-Straschnitz. Das Begräbnis fand am 11. Juni 1924 statt, acht Tage nach Kafkas Tod in Kierling bei Wien. Die hebräische Grabinschrift lautet in deutscher Übersetzung:
Dienstag, Beginn des Monats Siwan 5684, starb [wörtlich: ging in seine Welt] der obengenannte, prachtvolle, unvermählte Mann, unser Lehrer und Meister Anschel, seligen Angedenkens, der Sohn des hochverehrten R. Henoch Kafka, sein Licht möge leuchten. Der Name seiner Mutter ist Jettl. Seine Seele möge eingebunden sein im Bund des ewigen Lebens.