Christian Wulff hatte Recht, als er meinte, „in einem Jahr ist das alles vergessen“. Nur wird er selbst auch vergessen sein. So ist er eigentlich kein Wort mehr wert. Aber doch noch soviel: Traurig ist es schon, wenn man sieht, wie uneinsichtig Wulff bis zuletzt war. Sicherlich muss man es kritisch sehen, wie die „Bild“-Zeitung ihn gehetzt und es indirekt geschafft hat, aus dem Amt zu treiben. Das war eine Hetz-Kampagne, ohne Zweifel und für viele zurecht beängstigend. Aber Herr Wulff hat dazu einen wesentlich Anteil beigetragen. Erst hofiert von diesem Boulevardblatt hat er schließlich selbst die Munition zu seinem Abschuss geliefert. Interessant, wenn auch nicht ganz durchsichtig, ist die Rolle der Bundeskanzlerin. Wulff war ihr Kandidat. Und ich bin sicher, dass sie ihn bis zuletzt in der Ansicht bestärkt hat, nicht zurückzutreten. Erst als die Staatsanwaltschaft Hannover beantragte, die Immunität des Bundespräsidenten aufzuheben, da war Wulff auch für Frau Merkel nicht mehr zu halten.
Tief durchblicken ließ dann das anfängliche Gezerre und Geschacher um die Nachfolge von Wulff in der Koalition, die in der Bundesversammlung, die den Bundespräsidenten wählt, immer noch die Mehrheit und dadurch gewissermaßen das Vorschlagsrecht hat. Da wurden Namen wie de Maizière, von der Leyen oder sogar Schäuble genannt (will sich Frau Merkel auch hier wieder unliebsame Konkurrenz aus dem eigenen Haus vom Hals schaffen?), obwohl SPD und Grüne gleich signalisierten, wenn mit uns, dann bitte möglichst keine aktiven Politiker und erst recht nicht mit Ministerposten. Dann kamen auch sehr bald Absagen, z.B. vom Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Vosskuhle. CDU und CSU drehten sich im Kreise.
Da könnte man es tatsächlich als einen geschickten Schachzug ansehen, wie sich die FDP, sicherlich auch aus wahltaktischen Gründen, plötzlich hinter Joachim Gauck, dem Favoriten der SPD, stellte. Noch zuvor tönte Unionsfraktionschef Volker Kauder herum, „einen Kandidaten von Gnaden der SPD werde es nicht geben.“ Der Bundeskanzlerin blieb fast nichts anderes mehr übrig und lenkte ein: Jetzt ist Gauck auch der Kandidat für CDU/CSU und damit so gut wie gewählt. Aber ist dem wirklich so? Ist es nicht eher ein gelungener Schachzug von Frau Merkel? Denn Gauck leitet gewissermaßen die nächste große Koalition ein. Wenn spätestens in zwei Jahren wieder gewählt wird, dann dürften SPD und Grüne ‚dank‘ der Linken nicht unbedingt die benötigte Mehrheit bekommen. Dann riecht alles nach großer Koalition. Und die hätte dann schon ihren gemeinsamen Bundespräsidenten ….
Gauck galt schon vor zwei Jahren, als er knapp Wulff unterlag, als der Kandidat, der es auch in einer direkten Wahl durch das Volk geschafft hätte. Jetzt wird also ein Mann Bundespräsident, der sowohl von den Bürgern als auch von der Politik (wenn vielleicht auch von manchem widerstrebend) akzeptiert sein wird. Seit November 2003 ist Gauck Vorsitzender des Vereins Gegen Vergessen – für Demokratie. Die Organisation setzt sich sowohl für die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit als auch des Nationalsozialismus ein. Seit Jahren ist Gauck in „ganz Deutschland unterwegs, um bei Vorträgen oder in Schulen Menschen zu ermutigen – damit sie nicht in Bequemlichkeit verfallen und sich engagieren.“
Trotz aller Euphorie und Zustimmung für Joachim Gauck sollte bedacht sein, dass seine Ansichten in mancherlei Hinsicht sehr konservativ geprägt sind. Nicht all seinen politischen Standpunkten mag ich ohne Weiteres zustimmen. So befürwortet er den Auslandseinsatz der deutschen Bundeswehr in Afghanistan. Auch hält er wenig vom Protest gegen das Finanzsystem wie Occupy Wall Street (OWS). Viele halten ihn für einen Kommunistenjäger. Liest man im Netz, dann stolpert man schnell über Aburteilungen, die, so finde ich, sehr pauschal und wenig fundiert sind. Gaucks Äußerungen z.B. zu Sarazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ sind keinesfalls Zustimmung für dessen umschrittene Thesen. Allerdings finde ich Joachim Gauck in mancher Hinsicht etwas zu naiv, ja sogar zu einseitig (da vom Alltag in der DDR geprägt). Vielleicht hilft ja das Gauck-Gespräch von 2010 mit der Süddeutschen Zeitung weiter.
Angesichts von Gaucks Alters hätte ich mir allerdings schon einen Jüngeren, ja endlich auch einmal eine Frau für dieses Amt gewünscht. Nun hat sich die Politik für Herrn Gauck entschieden. Und diese Entscheidung dürfte auch von einer breiten Mehrheit der Bevölkerung getragen werden. Aber so unumstritten erscheint mir Joachim Gauck nicht zu sein. Sehen wir, wie er sich als Bundespräsident äußern wird. Dass er etwas zu sagen hat, davon gehe ich aus. Nicht wie Herr Wulff, der es vorzog, zu Fragen der Zeit zu schweigen.