Die Erzählung Das Urteil von Franz Kafka (ja, schon wieder Kafka) endet wie folgt:
„Georg fühlte sich aus dem Zimmer gejagt, den Schlag, mit dem der Vater hinter ihm aufs Bett stürzte, trug er noch in den Ohren davon. Auf der Treppe, über deren Stufen er wie über eine schiefe Fläche eilte, überrumpelte er seine Bedienerin, die im Begriffe war heraufzugehen, um die Wohnung nach der Nacht aufzuräumen.
»Jesus!« rief sie und verdeckte mit der Schürze das Gesicht, aber er war schon davon. Aus dem Tor sprang er, über die Fahrbahn zum Wasser trieb es ihn. Schon hielt er das Geländer fest, wie ein Hungriger die Nahrung. Er schwang sich über, als der ausgezeichnete Turner, der er in seinen Jugendjahren zum Stolz seiner Eltern gewesen war. Noch hielt er sich mit schwächer werdenden Händen fest, erspähte zwischen den Geländerstangen einen Autoomnibus, der mit Leichtigkeit seinen Fall übertönen würde, rief leise: »Liebe Eltern, ich habe euch doch immer geliebt«, und ließ sich hinfallen.
In diesem Augenblick ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr.“
Besonders der Schlusssatz hat es mir angetan, dieses „geradezu unendlich“, das in nur einem Augenblick geschieht. Ich habe diesen Satz einmal am Schluss eines Kapitels (Von Pfannen, Seelen und Quark) persifliert: „In diesem Augenblick verging sich an der Schwester der Doktor trotz geradezu unendlicher Wehr.“ Kafka mag mir vergeben. – Überhaupt überzeugt Kafka mit ‚starken’ Schlusssätzen – wie bereits im Roman Der Prozess erfahren:
„»Wie ein Hund!« sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben.“
Wenn man einen neuen Roman in Händen hält, vielleicht den Autor noch gar nicht kennt oder nur vom Hörensagen, dann ist es natürlich der Anfang des Romans, der überzeugen sollte, um das Buch so schnell nicht wieder aus der Hand zu legen. Ich weiß nicht mehr so recht, es war auf jeden Fall John Irving, der sich mit „Romananfängen“ beschäftigte. Ich glaube es war in seinem Roman Witwe für ein Jahr (oder war es doch schon früher in Garp und wie er die Welt sah). Es ging um den Anfangssatz, der möglichst einprägend zu sein hatte (ähnlich den Kafka’schen Schlusssätzen). Irving machte daraus fast so etwas wie eine Wissenschaft oder besser: einen Wettbewerb für gekonnt formulierte Romananfänge!
Ich fand die Idee damals auf jeden Fall ganz ‚interessant’, irgendwo zwischen witzig und aufschlussreich. Nun könnte man wirklich eine Art Wettbewerb einläuten, um am Ende den aussagekräftigsten Anfangssatz zu prämieren (den Roman kann man getrost außen vor lassen). Wirklich interessant wäre es dann, von den jeweiligen Anfangssätzen auf den Inhalt der Romane zu schließen. In loser Folge werde ich mich hier mit eben solchen Romananfänge ‚beschäftigen’. Dabei müssen es natürlich nicht nur dicken Romanwälzer sein. Erzählungen tun es auch.
Wenn wir schon (wieder einmal) bei Kafka sind. Hier die Anfangssätze zu den zwei genannten Prosawerken:
Der Prozess beginnt mit: „Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ Aha, das sagt doch schon (fast) alles!
So spektakulär die Erzählung Das Urteil endet, so landläufig beginnt sie: „Es war an einem Sonntagvormittag im schönsten Frühjahr.“ Aber meist kommt das Grauen auf leisen Pfoten.
Wie auch immer: Vielleicht habt Ihr ja auch Spaß an dieser Sache. So denke ich daran, zum Einen Euren Lieblingsroman kennen zu lernen – und dann schreibt Ihr den Anfangssatz auf. Und umgekehrt: Zum Anderen nennt Ihr mir Euren Lieblingsanfangssatz – und den Romantitel. Wie sieht’s aus? Wer hat Lust mitzumachen?