Was ist bloß mit Ian los? Teil 4: Zwei Seelen in des Menschen Brust

Hallo Wilfried,

ich glaube die ersten Anzeichen dafür zu erkennen, dass unser Schriftwechsel anfängt, Dich zu ermüden. Dafür habe ich vollstes Verständnis; ich weiß aus eigener Erfahrung, dass die Freizeit eines berufstätigen Familienvaters sehr kostbar ist. Um so mehr danke ich Dir für Dein Engagement !

In Deiner letzten Mail hast Du einige Dinge sehr richtig erkannt:
In Sachen Mr. Anderson wohnen zwei Seelen in meiner Brust. Auf der einen Seite bewundere ich ihn für eine Handvoll hervorragender Alben, die exakt meinen Musikgeschmack treffen. Auf der anderen Seite verdamme ich ihn, weil er auch Musik macht, die nicht meinen Geschmack trifft und weil er nicht mehr so aussieht, wie ich ihn gerne sehen würde.

Mr. Anderson polarisiert, da stimme ich Dir uneingeschränkt zu. Es gibt nur wenige Menschen, die über ihn sagen: „Ach ja, ganz nett.“ Zu Mr. Anderson gibt es, wie zu vielen herausragenden Persönlichkeiten, meist nur schwarz oder weiß. Kaum Graustufen dazwischen.

– Ich finde es übrigens erschreckend, wie wenig junge Menschen ihn noch kennen. In meinem Kollegenkreis bekomme ich mit, wie junge Zeitgenossen jeden Ballermann-Schlager mitgrölen können, ohne je etwas von Ian Anderson oder Jimmy Page gehört zu haben. Ob das schon der Generationenkonflikt ist ? –

Ich weiß noch nicht so recht, wie ich zukünftig mit dem Phänomen des zweischneidigen Mr. Anderson umgehen soll, damit meine Musik-Seele ihren Frieden finden kann. Würde ich seine Spätwerke ignorieren, wäre das eine Vogel-Strauß-Politik, ein Paradebeispiel selektiver Wahrnehmung. In der Vergangenheit sind alle Versuche, mich für seine aktuelle Musik zu begeistern, kläglich gescheitert.

Wenn ich sehe, wie er sich in unseren Tage bei Liveauftritten quält, die hohen Töne rauszubekommen, packt mich das Mitleid. Warum tut er sich das an ? Warum lässt er es so weit kommen, dass er Mitleid erregt ? Wie ein Boxer, der gegen alle Vernunft nach Ablauf seiner Zeit wieder in den Ring steigt.

Jedenfalls verstehe ich alle Künstler oder Sportler, die auf dem Höhepunkt ihrer Karriere aufhören, jetzt ein wenig besser. Henry Maske sollte sich ein aktuelles JT – Konzert ansehen…

Deine Aussage, dass Mr. Anderson den ganzen Star-Rummel nicht für voll nimmt, deckt sich mit dem, was ich vor einiger Zeit im Rocklexikon über ihn las. Der Autor des Artikels ging sogar so weit zu behaupten, dass Mr. Anderson für sein Publikum nur zynische Verachtung übrig habe. Er schrieb das nicht wörtlich, nur sinngemäß. Aber unmissverständlich. Im selben Artikel wurde auch die Ähnlichkeit der Anderson’schen Attitüden zu Monty Python erwähnt. Ohne Zweifel verdient Mr. Anderson das Prädikat „very british“. Ist auch gut so.

Ja, der arme Aqualung bückte sich mit schmerzendem Rücken, um eine Zigarettenkippe aufzuheben. Lange Zeit habe ich mich gefragt, wieso die LP Aqualung diesen Namen trägt. Da ist doch von Tauchern oder sonstigen maritimen Themen nicht der Hauch einer Spur. Erst als ich den Text übersetzte, wurde es klar und ich konnte über meine Naivität nur den Kopf schütteln.

Ich könnte noch seitenlang über Dinge schreiben, die zwischen Mr. Anderson und einem in meinen Augen perfekten Künstler stehen. Ich könnte über seine Arroganz schreiben oder über seine kaum getarnten kommerziellen Ambitionen. Aber das erspare ich uns beiden. Den perfekten Künstler gibt es nicht. Ebenso wenig, wie es den perfekten Menschen gibt. Nietzsche hat es schon angedeutet.

Es gibt einige Künstler, die ich sehr hoch einschätze: Queen, Kate Bush, Peter Gabriel, David Bowie, Mike Scott, Bruce Springsteen, … Bei allen lassen sich Haare in der Suppe finden. Ich verstehe eigentlich gar nicht, warum ich so auf Mr. Anderson rumhacke. Vielleicht deshalb, weil ich ihn doch für den Größten halte…

An dieser Stelle möchte ich Dir für die links in Deinen Mails danken. In puncto Internet bin ich ein ziemlicher Anfänger; meinen Internetzugang habe ich erst seit Ende April. (ja, so etwas gibt’s). Durch Deine Links finde ich Sites, die ein Greenhorn wie ich bestimmt übersehen hätte.

Nachdem Mr. Anderson sich Ende der 70er Jahre entschlossen hat, seine Folk-Phase zu beenden, musste ich mich nach anderen Interpreten dieser Musik umsehen. Dabei stieß ich auf Namen wie Steeleye Span, Fairport Convention, Waterboys, Hooters, Pogues, Paddy Goes To Holyhead, The Man They Could Not Hang, The Seer. Diese Musiker erreichen nicht die Klasse eines Mr. Anderson, aber die meisten davon können sich durchaus hören lassen.

Besonders erwähnen möchte ich die Formation „Schelmisch“ aus Bonn. Die haben vorwiegend Musik vergangener Jahrhunderte im Repertoire, gespielt auf alten Instrumenten. Ähnlich wie Liederjan oder Zupfgeigenhansl, nur zackiger. Schelmisch haben eine umfangreiche Website, auf der man auch in ihre Werke reinhören kann. Das sei Dir an dieser Stelle wärmstens empfohlen.

Ich habe Deinen Mails entnommen, dass Du ein Mann des Buches bist. Da ich keinen Menschen kenne, der ausschließlich die großen Literaten vom Schlage eines Hermann Hesse liest, gehe ich davon aus, dass Du hin und wieder einen Roman für den ‚Normalverbraucher‘ liest. Erlaube mir deshalb, ein Buch zu empfehlen, das es mir vor einigen Jahren angetan hat: „Die Entdeckung des Himmels“ von Harry Mulisch.

Ich bin mir darüber im Klaren, dass man mit ungefragten Literatur-Empfehlungen furchtbar auf die Nase fallen kann, aber in diesem Fall ist das Risiko kalkulierbar.

Diese Mail ist wieder länger geworden als erwartet. Falls Deine Antwort hierauf kürzer als gewohnt ausfallen oder ganz ausbleiben sollte, hätte ich dafür, wie eingangs schon erwähnt, vollstes Verständnis ! Jedenfalls danke ich Dir für Deine Mühen und Deine Zeit !

Herzliche Grüße

Lockwood

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Meine Antwort (vom 30.08.2006):

Hallo Lockwood,

ich habe Dich etwas warten lassen, aber ich hatte ja Urlaub, war zwar nur für einige Tage unterwegs (kleine Radtour mit meinen Lieben), hatte aber (k)eine große Lust zu nichts und gar nichts. Ausruhen war angesagt, entspannen!

Aber das Leben besteht ja nicht nur aus Faulenzen. Und so will ich auch auf Deine letzte Nachricht zurückkommen:

Wie heißt es so schön: Sage mir, was Du liest (oder hörst), dann sage ich Dir, wer Du bist.

Ich habe etwas im Internet nach Harry Mulisch und seinem Buch „Die Entdeckung des Himmels“ recherchiert. Ich werde es mir wohl kaufen, klingt ganz interessant. Allerdings ist das nicht so ganz meine literarische Welt. Ich interessiere mich schon für Religion und Wissenschaften. Schließlich leben wir in einer Welt, in der diese beiden Bereiche ständig eine große Rolle spielen. Aber ich interessiere mich zunächst für den Menschen selbst, für seine kleinen Macken und Fehler – und wie es dazu gekommen ist, dass ein Mensch so ist, wie er ist. Das hat viel mit Psychologie zu tun, wenn auch die Psychologie nicht für alles eine hinreichende Erklärung geben kann. Ich will keine Buchtipps abgeben, aber Martin Walser ist für mich einer der ganz großen Schriftsteller, weil er in den Mittelpunkt immer bestimmte Menschen stellt und diese dabei förmlich seelisch entkleidet, wobei man sich oft selbst wiedererkennt.

Bücher wie Herr der Ringe usw. haben mich eigentlich nie interessiert. Als Film okay, als Buch: muss nicht sein.

Warum schreibe ich das? Weil es auch etwas mit Ian Anderson zu tun hat. Herr Anderson hat viele Lieder geschrieben, die irgendwie etwas mit ‚Fantasy‘ zu tun haben. Ich höre das ganz gern. Und vor der Schottland-Reise im letzten Jahr, war es für mich sehr interessant zu sehen, wie viele Lieder etwas mit diesem Land, seiner Sagenwelt, mit Landschaften usw. zu tun haben.

Aber Ian Anderson ist auch ein kritischer Beobachter. So bescheiden ich die Scheibe „Under Wraps“ vom Musikalischen her finde, so sind die Texte doch ganz interessant (nur so als Beispiel).

Bekanntlich hat jeder Mensch zwei Seelen in seiner Brust. Die eine schwelgt gern in phantastischen Welten, die andere ist analytisch (vergl. Religion – Wissenschaft). Und so ist auch Herr Anderson auf der einen Seite manchmal der Phantast (mal reiht er Sagengestalten um sich, mal ist er eher der kleine Witzbold), dann beschäftigt er sich mit den Hintergründen von Missständen. Das zeigt sich dann auch oft hörbar in seiner Musik. Und mit den Jahren setzt man dann auch die Prioritäten anders.

Du schreibst von Musikern, die Du hoch einschätzt: Queen, Kate Bush, Peter Gabriel, David Bowie usw. Was Jethro Tull betrifft, so decken sich da unsere ‚Interessen‘. Von den oben genannten könnte ich gerade Kate Bush (und auch nur mit Einschränkungen) zu meiner Galerie hoch geschätzter Künstler zählen. Ich mag neben Folk-Musik sehr gern schwarze Musik. Vielleicht hat es auch etwas damit zu tun, dass ich durch meinen früheren Bekanntenkreis viel mit Farbigen zu tun hatte: z.B. Joan Armatrading mag ich sehr (und die hat wenig mit Jethro Tull zu tun – stimmt aber auch wieder nicht, immerhin hat sie u.a. mit ehemaligen Tull-Musikern zusammengearbeitet wie die Drummer Gerry Conway (Broadsword and the Beast) und Dave Mattacks (aus der Fairport Convention-Ecke – er spielte bei den Live-Aufnahmen zu A little light Music mit). Aus alten Zeiten mag ich Cream (mit Clapton) und Peter Green (weniger mit Fleetwood Mac, eher seine späteren Solo-Arbeiten), aus der Progressive Rock-Ecke vor allem Gentle Giant. Und dann finde ich Frank Zappa nach wie vor sehr gut.

Das zeigt ja irgendwie, dass wir uns aus unterschiedlichen Richtungen an Jethro Tull und Ian Anderson angenähert haben. Von daher habe ich wohl auch weniger Probleme mit den jüngeren CD-Veröffentlichungen der Gruppe. Ich bin, wenn man so will, mehr ‚weltmusikalisch‘ ausgerichtet. Und besonders in den neueren Stücken finden sich viele Einflüsse, die weniger europäischer Herkunft sind: indisch und afrikanisch. So finde ich die Solo-Scheibe von Ian Anderson: Divinities sogar richtig gut und habe die Musik als Hintergrundmusik für einige Videos genommen (siehe Kalabrien-Video).

Überhaupt die Solo-Alben: Was hältst Du eigentlich von denen? Secret Language of Birds und Rupi ’s Dance. Natürlich kann man die nicht mit Thick as a Brick vergleichen. Sie sind ganz ‚hübsch‘. Wenn ich in der entsprechenden Stimmung bin, dann höre ich die Sachen ganz gern. Sie handeln von den kleinen Dingen des Lebens, Dingen, die aber oft ein Leben lebenswert machen. Mit dem Alter setzt an eben andere Prioritäten, wie geschrieben. Da wird man zynisch und sarkastisch – oder man nimmt nicht mehr alles für so voll, wie man es vielleicht früher einmal getan hat. Ich glaube so nicht, dass Ian Anderson nur zynische Verachtung für sein Publikum übrig hat. Er nimmt nur den ganzen Rummel nicht mehr für voll. Nach außen sieht beides ziemlich gleich aus.

Vielleicht sind es die paar Jahre, die ich Dir gegenüber mehr auf dem Buckel habe, die mich Ian Anderson in einem ‚weicheren‘ Lichte sehen lassen. Das einzigste, was mich an dem guten Manne stört oder was ich nicht so ganz verstehen kann, ist, dass er trotz der angeschlagenen Stimme immer noch die vielen Live-Auftritte hat. Daher war ich auch in den letzten Jahren (bis auf das Konzert letztes Jahr in Bremerhaven) bei keinem Konzert mehr – und habe auch nicht die Absicht ein weiteres zu besuchen. Ich könnte mir eines vorstellen: Anderson spielt nur noch Flöte (akustische Gitarre usw.), hat aber einen Sänger, der für ihn die alten Sachen singt (wie mag die Stimme von seinem Sohn James Duncan klingen?). Oder er spielt wirklich nur noch Instrumentaltitel (gerade seine Auftritte mit den diversen Orchestern würden dazu einladen).

Soviel für heute.

Viele Grüße
Wilfried

English Translation for Ian Anderson