Was ist bloß mit Ian los? Teil 20: Pfusch im Dschungel

Hallo Wilfried,

Grafikprogramme haben für mich etwas Faszinierendes. Ich habe einige Kleine davon auf meinem Rechner; das Zeug, das bei Kamera, Drucker, Scanner mit ausgeliefert wird. Am häufigsten jedoch arbeite ich mit einer alten Version von CorelDraw. Leider habe ich dazu kein Handbuch. Ich bin dabei vollkommen auf ‚learning by doing‘ angewiesen. Draw kennt das „Lasso“ ebenfalls. Gelegentlich werde ich Dir einige meiner Fotomontagen zusenden. Sie sind allerdings nicht so gelungen wie Deine. Ich habe erst seit vergangenem Mai eine vernünftige Kamera, hatte also „erst“ einige Monate zum Üben. An einer halbwegs gelungenen Fotomontage arbeite ich fast immer einige Stunden. Aber, was soll ich sagen: Es macht mir Spaß !

Die Musik der „Who“ hat mich nie besonders angesprochen, aber von Tommy habe ich auch schon gehört. Ich bringe den Film irgendwie mit Motorrollern in Verbindung. Oder war das ein anderer ? Keine Ahnung.

Zu Punks: Sicherlich erinnerst Du Dich, dass es auch in Deutschland zwei rivalisierende Jugendbewegungen gab, eben die Punks und die Popper. Interessant dabei ist, dass heute Erwachsene, die damals als Popper herumgelaufen sind, sich heute dafür schämen und lieber sagen würden, sie seinen Punks gewesen. Als Erwachsener blickt man wohl lieber auf eine rebellische als auf eine angepasste Jugendzeit zurück.

Dass alle Tulls aus bürgerlichen Verhältnissen kommen, wusste ich nicht. Das war mir nur über Mr. Anderson klar. Erlaube mir an dieser Stelle einen erneuten Querverweis auf Queen: Die vier kamen nicht nur aus guten Elternhäusern, sondern waren bzw. sind allesamt Akademiker: Physiker, Biologe, Elektroniker, Grafiker. Und natürlich ist keiner von ihnen sichtbar tätowiert. Aber das nur am Rande.

Ich muss gestehen, dass ich über die Heilsarmee nur soviel weiß, wie man aus englischen und amerikanischen Spielfilmen mitbekommt. Und hierbei wird meist nur das Klischee der Bläsergruppen in altmodischen Uniformen bedient.

Allerdings leuchtet mir sofort ein, dass man in einer sehr fromm ausgerichteten Familie seine Probleme hat, wenn die eigene Gotteserfahrung ausbleibt. Meine Eltern (sprich: meine Mutter) haben uns Kinder katholisch erzogen, gelehrt zu beten und in der Kirche stillzusitzen usw. Glücklicherweise haben sie das aber nie übertrieben.

Ein Klassenkamerad hatte nicht so viel Glück. Seine Eltern waren sehr aktiv in irgendeiner Sekte, wie er es nannte (ich glaube, sie waren ganz einfach über das erträgliche Maß hinaus katholisch). Kaum war er dem Einfluss der Eltern entwachsen, holte er all das nach, was ihm als Kind verwehrt geblieben ist. Dabei hat er sich selber überholt und geriet sehr schnell in einen Sumpf aus Kriminalität und Drogen. Ich weiß gar nicht, ob er noch lebt.

Die Beschäftigung mit Gott ist so alt wie die Menschheit selber. Unter den aktuellen Religionswissenschaften habe ich drei Hauptströmungen ausgemacht.
Die erste Gruppe behauptet, Gott habe Universum und Menschen erschaffen und lenke nach wie vor unsere Geschicke. Dies ist das Credo der christlichen Kirche.
Die zweite Gruppe meint, Gott habe die Welt und das Leben erschaffen, sich aber dann aus dem Geschehen zurückgezogen. Ich glaube, das entspricht so in etwa Deiner Theorie.
Die dritte Gruppe leugnet ein überirdisches Schöpferwesen komplett. Sie erklären die Schöpfung mit Evolutionstheorien, biochemischen Prozessen und einer Reihe von Zufällen.
Ein Prachtexemplar dieser letzten Gruppe ist Richard Dawkins, von dem ich in meiner letzten mail sprach.

Welche dieser drei Gruppen Recht hat, kann ich natürlich nicht sagen. Ich kann noch nicht einmal sagen, zu welcher dieser Theorien ich tendieren würde. Ich tappe vollkommen im Dunkeln. Ich habe lediglich im Laufe der Jahre bemerkt, dass man sich mit zunehmender Gehirntätigkeit von der Volksfrömmigkeit, die uns als Kindern beigebracht worden ist, entfernt. Je mehr man über Gott nachdenkt, desto unwahrscheinlicher wird seine Existenz. Schon Franz von Assisi hat erkannt: „Der Verstand ist der Advokat des Satans, die Seele jedoch ist die treue Magd des Herren!“ Mit anderen Worten: Er warnt seine Anhänger davor, zuviel nachzudenken. Mit dieser Warnung steht er übrigens genau in der Tradition der christlichen Kirche. Die gute Mutter Kirche hat schon immer die hellen Köpfe abgeschnitten. Ein sehr nettes Büchlein zu diesem Thema ist Bertrand Russels „Warum ich kein Christ bin“. Georg Danzer hat es sehr einfach, sehr schön ausgedrückt: „Gott statt Religion, und dann ist Frieden.“

Hab‘ Dank für die beiden MP3s ! Beide sind mir neu. Bei den „Summerday Sands“ höre ich wieder die Textbausteine des Mr. Anderson heraus. Das Lied enthält Elemente aus „St. Bakerstreet Muse“ und „One brown mouse“. Ich vermute deshalb, dass es Mitte bis Ende der 70er Jahre entstanden ist.

Falls ich das Original nicht gekannt hätte, hätte mir die Coverversion der braunen Maus gefallen. Aber so ist es für mich ein schwacher Aufguss. Für mich selber ist es schön zu sehen, dass ich bei aller Kritik, die ich an Mr. Anderson übe, ihn doch für einen grandiosen Musiker halte.

Ich wünsche der Familie Albin einen unbeschreiblich schönen Sonntag !
Lockwood

30.09.2006

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Hallo Lockwood,

entschuldige, aber in den letzten Tagen habe ich mich um etwas andere Dinge kümmern müssen. So war ich am Wochenende einmal wieder bei meinen Eltern in Bremen. Ansonsten habe ich hier und da herumgestöbert, denn am kommenden Samstag ist bei uns Flohmarkt, übrigens der größte in Norddeutschland mit rund 700 Ausstellern und vielen tausend Besuchern. Unser Örtchen ist dann überlaufen. Da mein holdes Weib seit Anbeginn (1973) mit Freundinnen dort einen Stand hat, sind wir auf der Suche nach Verkaufbaren. Ich selbst bin kein so großer Flohmarktfan, was das Verkaufen betrifft. Wenn das Wetter allerdings mitspielt, dann ist der Töster Markt (wie man hier sagt) schon ganz interessant.

Beim Herumstöbern bin ich nun auf altes Material gestoßen, was unseren Meister Anderson betrifft; u.a. alte Musikzeitschriften mit Artikeln; vor allem aber habe ich ein Buch mit Platten-Kritiken gefunden, die vor vielen Jahren in der Zeitschrift „Sounds“ veröffentlicht wurden. Ansonsten habe ich auch Noten entdeckt, die ich – lange ist es her – in London gekauft habe (u.a. auch 2 Hefte mit Bildern, Noten usw. von Kate Bush). Also viel Material, das sich hier verwenden lässt. Hier die erste Platten-Kritik aus dem Buch:

Jethro Tull – Stand up – Island 9103

Die Grenzen der englischen Band werden in ihrem zweiten Album, STAND UP, deutlich. Der Sound, der einmal eine ganze Reihe anderer Bands inspirierte, hat sich hier totgelaufen. Die Platte ist so langweilig, daß man sie nur mit einem spannenden Buch in der Hand überstehen kann. Einfachheit in der Wahl musikalischer Materialien muß nicht gleichbedeutend mit Primitivität sein, doch bei Jethro Tull, die nur in zwei Tonarten musizieren, ist das leider der Fall.

Autor: anonym (1970) – aus: SoundS Platten 66-77 – 1827 Kritiken ((Zweitausendeins)

Der das geschrieben hat, ist weit davon entfernt, ein Tull-Fan zu sein. Die kurze Kritik enthält vor allem viele Ungereimtheiten, die ich nicht nachvollziehen kann. Zunächst der Bezug auf den Sound, der einmal eine ganze Reihe anderer Bands inspiriert haben soll. Das kann sich ja nur aufs erste Album „This was“ beziehen – und wie weit das vom späteren Tull-Sound entfernt war, muss hier erst gar nicht diskutiert werden. Aber welche Bands wurden denn da inspiriert? Ich denke, dass es eher umgekehrt ist. So hat Anderson Roland Kirks „Serenade to a cuckoo“ adaptiert. Ansonsten viel Blues, wie wir es vom John Mayall, Clapton u.v.a. aus jener Zeit her kennen. Erst STAND UP brachte einen eigenen Sound.

Jethro Tull: Back to the Family - Noten

Der Hammer: Die Einfachheit der Materialien – nur zwei Tonarten. Ich habe die Noten vorliegen. Da sieht es zunächst wirklich so aus, dass Anderson die Tonarten mit drei Kreuzen (A-Dur) bzw. mit einem b bevorzugt. Letzteres (mit einem b) ist aber einmal F-Dur und 2x D-Moll. Außerdem kommt E-Moll 3x (mit einem Kreuz) und noch einmal Es-Dur vor. Das sind bei 10 Stücken fünf verschiedene Tonarten und keine zwei. Und mit Bourree wird Herr Johann Sebastian Bach gleich auch noch als primitiv abgekanzelt, oder was? Jeder Sänger hat übrigens meist eine seiner Stimme entsprechende Lieblingstonart. In der lässt es sich eben am besten singen.

Wie schön, dass man sich nach 36 Jahren noch so über eine so hinfällige Kritik ärgern kann. Weniger ärgern kann ich mich dafür über eine weitere Übersetzung Anderson’scher Texte, die ich bei lyrics.de gefunden habe.

Jethro Tull – Bungle In The Jungle

Walking through forests of palm tree apartments Wenn Du durch den Dschungel latscht, dann guck Dir mal die ganze Palmensiedlung an.
scoff at the monkeys who live in their dark tents Der reinste Seelensilo, voll mit Affen, die da im Dunkeln leben.
down by the waterhole, drunk every Friday, Hängen jeden Freitag am Wasserloch rum und saufen sich einen an,
eating their nuts saving their raisins for Sunday. fressen die ganze Woche über nur Nüsse und Sonntags gibt ’s dann mal was besseres – Rosinen oder so was.
Lions and tigers who wait in the shadows, Und die Löwen oder die Tiger, die sind auch kein Stück besser.
they’re fast but they’re lazy, and sleep in green meadows. Schnell, aber stinkfaul, die verpennen den ganzen Tag.
   
Chorus:
Let’s bungle in the jungle Im Dschungel wird ziemlich viel rumgepfuscht.
well, that’s all right by me. Sollen sie, meinetwegen.
I’m a tiger when I want love, Wenn ich Liebe will, dann bin ich halt ein Tiger.
but I’m a snake if we disagree. Und wenn wir mal streiten, dann werd ich zur Schlange.
   
Just say a word and the boys will be right there: Also ein Wort und die Jungs kommen,
with claws at your back to send a chill through the night air. und zwar mit ausgefahrenen Krallen, und dann wird ’s kalt.
Is it so frightening to have me at your shoulder? Ist das denn so schlimm, wenn ich auf Deiner Schulter sitze ?
Thunder and lightning couldn’t be bolder. Ein Gewitter ist auch nicht schlimmer.
I’ll write on your tombstone, „I thank you for dinner.“ Weißt Du, was ich auf Deinen Grabstein schreiben werde: „Danke fürs Abendessen!“
This game that we animals play is a winner. Hier ist nämlich kein Platz für Looser.
   
The rivers are full of crocodile nasties Denn die Flüsse hier sind voll mit ziemlich fiesen Krokodilen.
and He who made kittens put snakes in the grass. Und der, der die kleinen Kätzchen gemacht hat, der hat auch dafür gesorgt, dass es Schlangen gibt.
He’s a lover of life but a player of pawns Er sagt, dass er das Leben liebt, aber im wesentlichen sind wir nur die Bauern auf seinem Schachbrett.
yes, the King on His sunset lies waiting for dawn Und wenn er die Sonne untergehen lässt, dann wartet er nur drauf,
to light up His Jungle as play is resumed. dass das Spiel auf Leben und Tod in der Dämmerung wieder losgeht.
The monkeys seem willing to strike up the tune. Und die Affen singen dazu.

Zur Frage der bürgerlichen Herkunft der Tull-Mitglieder: Ich denke der Großteil stammt tatsächlich aus bürgerlichen Verhältnissen. Fast alle haben die Grammar School absolviert, was bei uns dem Gymnasium entspricht. Ausnahmen dürfte es geben: ich denke an Clive Bunker, vielleicht auch Mick Abrahams, aber genauere Infos habe ich da nicht. Da das Klassenbewusstsein in Großbritannien weit aus stärker ausgeprägt ist als bei uns, ist es nicht verwunderlich, wenn z.B. Tätowierungen in der Upper Class eher verpönt waren und noch immer sind.

Zu den Jugendkulturen: Die Popper sind, wenn ich das richtig sehe, eine rein deutsche Erfindung und vielleicht mit den Mods im angelsächsischen Raum vergleichbar, da beide Gruppen aus der Mittel- und Oberschicht entstammten. Stell’ Dir nun einmal Ian Anderson und seine Jungs in Karottenhosen und mit einer ‚Tolle’ vor. Ich als Spät-68-er hätte mich da wohl schlapp belacht. Aber Anderson gehörte ja noch einer Halbgeneration vor diesen deutschen Poppern an (und einer Viertel Generation vor mir).

Wo kann man denn Dich wiederfinden? Ich selbst habe die 68-er Zeit noch am Rande miterlebt und gehöre einer Generation an, die sich irgendwo zwischen diesen 68-ern und No-Future zu etablieren suchte. Es gibt da ein ganz interessantes Buch zu uns X-Generations-Typen: Von der Nutzlosigkeit, erwachsen zu werden. Leider ist das Buch nicht mehr erhältlich und somit vom Bodensatz der Geschichte geschluckt wie wir, die in den 50-er Jahre Geborenen.

Jethro Tull und Salvation Army: Du hast öfter Hinweise auf ein Rocklexikon gegeben. Es handelt sich dabei sicherlich um jenes von Barry Graves und Siegfried Schmidt-Joos. Ich habe die Erstausgabe von 1973 und dann noch eine erweiterte Ausgabe von 1975. Hier wird Jethro Tull u.a. verglichen mit einer „elektrisch verstärkten Heilsarmee-Kapelle“, ein Zitat aus dem Rolling Stone („like an amplified Salvation Army band“). Wie auch immer man das sehen kann: Die Heilsarmee ist eine typisch britische Einrichtung und erfährt dort weitaus mehr Anerkennung als bei uns. Und Jethro Tull, darüber sind wir uns einig, ist ebenso durch und durch britisch. Man muss vielleicht ein besonderes Faible fürs Britische haben, um Anderson und Co. ‚zu verstehen“. Um so erstaunlicher für mich, dass die Gruppe besonders in Deutschland, aber z.B. auch in Italien, eine so große Anhängerschaft hatte und immer noch hat. Das ist sicherlich ein Feld, das weiter zu beackern wäre. Ich denke da auch an den typisch britischen, den schwarzen Humor. Der ist nicht jeder Manns Sache, z.B. Monty Python. Ich habe die gesammelten Werke von denen als Buch und habe mich beim Lesen und später beim gelegentlichen Stöbern immer wieder köstlich amüsiert. Wie gut, dass uns z.B. John Cleese als Schauspieler und Terry Gilliam als Filmregisseur erhalten geblieben sind.

Aber ich komme jetzt doch ziemlich vom Weg ab. Es zeigt mir nur, dass dieser Gedankenaustausch über Ian Anderson und seiner Musik so schnell kein Ende finden wird, wenn wir alle Aspekte berücksichtigen wollen, die damit zu tun haben. Apropos Heilsarmee: Ich war ja bei meinen Eltern, habe da in alten Fotoalben gestöbert (ich finde alte Aufnahmen immer wieder faszinierend – später mehr im Weblog) und habe sie dann auch gefragt, wie es mit der Heilsarmee in der Naziweit aussah. Die war während der ganzen Zeit nicht verboten worden (außer die Pfadfinderjugend, wohl wegen der Konkurrenz zur HJ), durfte in der Öffentlichkeit aber nur bedingt auftreten. Außerdem durfte während des Gottesdienstes keine Kollekte eingesammelt werden. Dafür musste ein Eintritt erhoben werden. Man sich denken, was damit bezweckt war.

Das Lied ‚Summerday Sands’ stammt aus 1975 und war als Single-B-Seite mit ‚Minstrel in the Gallery’ erschienen. Also gut erkannt von Dir. Das mit den ‚Textbausteinen’ ist sicherlich richtig, obwohl ich Dein Beispiel (der Vergleich „One Brown Mouse“ mit „Summerday Sands“) mehr in der ähnlichen Instrumentalisierung sehe. Anderson hat eine sehr eigene Art, die akustische Gitarre zu spielen. Daher klingt gerade der Anfang bei beiden Stücken fast gleich. Ich z.B. habe immer wieder ein Problem mit der Unterscheidung zwischen „My God“ und „Wind Up“, sieht man vom Opening bei „Wind Up“ (Klavier) einmal ab.

Und natürlich kommt es vor, dass man sich gewissermaßen selbst zitiert, manchmal bewusst, oft auch unbewusst. Ich muss einmal nachschauen, d.h. hören: Auf dem Christmas Album ist ein Stück (Jack Frost and the Hooded Crow), das mit einem kleineren Flötensolo endet. Hier zitiert Anderson wohl sehr bewusst gleich mehrere seiner anderen Lieder, u.a. auch Bourree.

Soviel für heute.
Bis bald

Wilfried

04.10.2006

English Translation for Ian Anderson