Am vergangenem Freitag, den 24. August 2012, wurde Anders Behring Breivik vom Osloer Amtsgericht entgegen dem Antrag der Staatsanwaltschaft für zurechnungsfähig erklärt und wegen Mordes an 77 Menschen zu 21 Jahren Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Es ist ein Urteil, das der Attentäter von Oslo und Utøya gewollt hat. Breivik nahm den Urteilsspruch im Gerichtssaal mit einem Lächeln auf. Der Angeklagte selbst hatte sich im Prozess vehement dagegen gewehrt, für unzurechnungsfähig erklärt zu werden. Mit diesem Urteil fand das Verfahren mehr als ein Jahr nach Breiviks Anschlägen ein Ende.
Zum Fall Breivik habe ich mich an anderer Stelle etwas ausführlicher geäußert (Zurück zur Normalität?), besonders zur Frage der Schuldfähigkeit. Unabhängig davon, ob Breivik jetzt ins Gefängnis muss oder bei zugestandener Unzurechnungsfähigkeit in die Psychiatrie gekommen wäre, er gilt für nicht heilbar und wird vermutlich nie wieder frei kommen. Das Ende der Sicherungsverwahrung ist zwar nicht festgelegt, wird aber in regelmäßigem Abstand überprüft werden. Das Gericht kann sie verlängern, „wenn die zeitlich begrenzte Strafe zum Schutz der Gesellschaft nicht ausreicht“.
Im genannten Beitrag schrieb ich u.a. auch: „Der forensische Psychiater Norbert Leygraf sieht Parallelen zum Fall Ernst August Wagner, der erste Fall in der württembergischen Rechtsgeschichte, bei dem ein Prozess wegen Unzurechnungsfähigkeit eingestellt wurde.“ Danach hält Leygraf den Attentäter Breivik also für unzurechnungsfähig.
Zum Fall Ernst August Wagner: Am Abend des 4. September 1913 tötete der Hauptlehrer Ernst August Wagner seine Frau und seine vier Kinder mit einem Knüppel. Später erschoss er dann zwölf (anderen Quellen nach: neun) weitere Menschen. Dieser Wagner spielt in der Erzählung Klein und Wagner von Hermann Hesse eine nicht unbedeutende Rolle.
Noch einmal zum Tathergang: Am Abend des 4. September 1913 tötete der damals als Lehrer tätige Ernst August Wagner in Degerloch seine Frau und seine vier Kinder mit einem Knüppel. Er begründete die Morde damit, er wolle seiner Familie die Folgen seiner geplanten Tat und die folgenden Schrecken ersparen. Danach fuhr er mit dem Fahrrad nach Stuttgart und von dort mit der Bahn weiter nach Mühlhausen bei Vaihingen an der Enz. Auf dem Weg nach Mühlhausen gab Wagner noch mehrere Briefe auf. Nachts zündete er vier Häuser an verschiedenen Stellen an und wartete, bis die Menschen vor den Flammen flüchteten. Er erschoss dann wahllos zwölf Menschen, acht weitere wurden schwer verletzt. Wagner wurde schließlich überwältigt und in Heilbronn inhaftiert. Bei den folgenden Ermittlungen stellte sich heraus, dass Wagner noch plante, seine Schwester und deren Familie umzubringen und schließlich das Schloss in Ludwigsburg niederzubrennen und sich dabei im Bett der Herzogin selbst zu verbrennen. (Quelle: de.wikipedia.org)
Ähnlich wie Breivik hatte Wagner seine Taten lange vorbereitet. Und wie Breivik schrieb er ein seitenlanges Pamphlet, nämlich eine 300 Seiten lange Autobiographie. Wagner erklärte darin u.a.:
„Überall aber täte eine Sanierung der Menschheit not. […] Nach meinem Beobachten und Ermessen müsste ein starkes Drittel dran glauben, ja, ich meine, wir hätten dann erst das Gröbste weg. Wir schiffen zu sehr in übelriechenden Niederungen und müssen jetzt endlich den Ballast abwerfen, um in reiner, gesunder Region zu schweben. Ich habe ein scharfes Auge für alles Kranke und Schwache, bestellt mich zum Exekutor und kein Kommabazillus soll durchschlupfen. 25 Millionen Deutsche nehme ich auf mein Gewissen […].“
Im Prozess in Heilbronn stellten die Gutachter den Verfolgungswahn von Wagner fest. Man beschrieb Wagner als einen ernsten, gramgebeugten, aber höflichen und gebildeten Mann. Aus den jahrelangen Untersuchungen schloss man, „dass Wagners unterdrückte Homosexualität, die er gleich nach der Tat offenbarte, zu dessen pathologischen Ekel vor der Welt geführt habe. Statt zum Tode verurteilt zu werden, wurde Wagner am 4. Februar 1914 in die Heilanstalt Winnenthal bei Winnenden [sic!] eingewiesen. Erstmals in der württembergischen Rechtsgeschichte wurde damit ein Prozess wegen Unzurechnungsfähigkeit eingestellt.“
Während Breivik als Motiv für die Anschläge angab, Norwegen gegen den Islam und den „Kulturmarxismus“ verteidigen zu wollen, begründete Ernst August Wagner seine Taten mit der „geschlechtlichen Unnatur“, gegen die er ankämpfte. Er bezichtigte sich dabei der Sodomie, verweigerte aber jegliche Aussage zum Wie und mit Wem (Homosexuelle Praktiken, Unzucht mit Tieren oder doch nur Masturbation?). Die psychiatrischen Gutachten dürften aus heutiger Sicht umstritten sein und wirken „wie eine unfreiwillige Parodie auf gewisse Auswüchse der Psychoanalyse“ der damaligen Zeit.
In diesem Zusammenhang verweise ich auf einen sehr interessanten Artikel von Hans Schmid, der nicht frei ist von ironischen Untertönen: Schwaben-Amok, oder auch: Ich bin Sodomit. Und auch Mühlhausen, der Stadt des Wagner’schen Amoklaufs, gedenkt der ‚Mordbrennerei’ vom 4. September 1913 mit vielen Bildern (und weiterführenden Links).
Die Grenze zwischen Fanatismus und Wahn ist in Fällen wie denen des Ernst August Wagner und des Anders Behring Breivik kaum auszuloten. Eine gerichtliche Entscheidung ist also kaum eindeutig zu treffen, muss aber getroffen werden. Ein Urteil muss her. Im Fall Breivik spielen dann vielleicht auch ‚politische’ Überlegungen bei der Urteilsfindung eine Rolle. Nicht unbedeutend ist dabei, wie die Angehörigen von Breiviks Opfers den Richterspruch aufnehmen. Diese wirkten zwar nach Urteilsverkündung mitgenommen, aber zufrieden. „Dass Breivik für zurechnungsfähig erklärt wurde, ermöglicht den Familien, mit dem Geschehenen abzuschließen“, sagte Frode Elgesem, ein Anwalt der Hinterbliebenen.