- „Ich? Ich lese keine Bücher!“ erklärt Irnerio bündig.
„Und was liest du dann?“
„Gar nichts. Ich habe mich so ans Nichtlesen gewöhnt, daß ich nicht mal lese, was mir zufällig unter die Augen kommt. Das ist nicht leicht: Im zarten Kindesalter bringen sie einem das Lesen bei, und dann bleibt man das ganze Leben lang Sklave all des geschriebenen Zeugs, das sie einem ständig vor die Augen buttern. Na ja, auch ich mußte mich in der ersten Zeit schon ein bißchen anstrengen, bis ich nichtlesen konnte, aber inzwischen geht’s ganz von allein. Das Geheimnis ist, daß du nicht weggucken darfst, im Gegenteil, du mußt hinsehen auf die geschriebenen Wörter, du mußt so lange und intensiv hinschauen, bis sie verschwinden.“
(Italo Calvino: Wenn ein Reisender in einer Winternacht, S. 59)
Es ist eine interessante Sache, die vom Nichtlesen, wie sie Italo Calvino in seinem Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht niedergeschrieben hat. Sind wir nicht Sklaven des Gelesenen? Können wir nicht auch ‚ohne’?
Zunächst drängt sich mir der Vergleich mit dem Schwimmen auf, einmal gelernt, kann man es nicht mehr verlernen. Ähnlich sollte es sich mit dem Lesen verhalten. Gut, man kann aus der Übung kommen. Aber selbst wer jahrelang im Kerker ohne Lektüre verbringt, dürfte beim Freikommen noch Lesen können.
Dann interessiert mich schon, warum wir eigentlich lesen. Ohne Lesen läuft ziemlich wenig. Das dürften Analphabeten am besten wissen. Statt des Lesens haben sie sich aber bestimmt andere Hilfen geschaffen, die ihnen das Lesen ersetzen (notfalls fragen sie nach). Lesen und Schreiben gehört zum täglichen Leben. Ich kann zwar darauf verzichten, die Zeitung zu lesen usw., aber spätestens beim Einkaufen möchte ich doch wissen, was etwas kostet (so dicke habe ich es nicht). Oder ich brauche nur das Umfeld meines Schreibtisches zu betrachten: Buchrücken mit Schrift, Notizen, der Bildschirm selbst …
Beim im Roman nur kurz auftretenden Irnerio, der eigentlich lesen kann, ist das Nichtlesen zunächst ein ganz bewusster Akt. Lässt man in seiner Konzentration, nicht zu lesen, nach, wird man unwillkürlich ‚lesen’. Irnerio schaut also ganz genau hin auf die geschriebenen Worte – und das immer mit dem Bewusstsein, nicht zu lesen. Kann man das überhaupt? Zunächst dürfte es einem schwer fallen, das Gelesene gewissermaßen zu ignorieren. Ähnlich dürfte es beim Denken sein. Ego cogito, ergo sum, meinte schon René Descartes: „Ich denke, also bin ich.“ Immerhin schaffe ich es, eine Zeitlang, wenn auch nicht zu lang, meinen Kopf abzuschalten und nicht zu denken. Aber auf Geschriebenes zu blicken und nicht zu lesen – irgendwie schaffe ich das nicht. Vielleicht kann ich meinen Kopf soweit ausschalten, dass ich nicht den Sinn des Geschriebenen verstehen. Aber es sind immer wieder einzelne Wörter, die sich in mein Bewusstsein einbrennen: Ego lego, ergo sum – „Ich lese, also bin ich“, hätte der gute René sagen sollen.
Calvions Irnerio muss also ein langes ‚Training’ hinter sich gebracht haben, um sein Nichtlesen zu perfektionieren. Ich kann zwar weggucken. Aber das ist es ja angeblich nicht. Also hinsehen und nichtlesen …. Hinsehen und nichtlesen … (Ins Wasser springen und nicht schwimmen …). Wer lässt sich so etwas einfallen: Italo Calvino in seinem Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht.
Übrigens es gibt einen Twitter-Account: Nichtlesen
Das Wort nichtlesen taucht natürlich nicht im Duden auf. Es gibt nur nicht lesen. Aber nicht lesen ist etwas anderes als nichtlesen … nur so am Rande!