Was ist bloß mit Ian los? Teil 28: Back to the Roots?

Hallo Wilfried,

Deinen Beitrag über die unverständliche Personalentscheidung habe ich gelesen. Auch in meinem Betrieb kann man hin und wieder beobachten, wie der Betriebsrat unverständliche Entscheidungen fällt oder zumindest mitträgt. Ich habe schon erlebt, dass Betriebsratmitglieder ihre besonderen Schützlinge auf Kosten anderer Kollegen protegieren. Ich fürchte, dieses Problem ist so alt wie das Betriebsverfassungsgesetz und wird sich so schnell nicht lösen lassen. Vielleicht bei den nächsten Betriebsratswahlen, aber wer weiß…

Über den englischen Wikipedia-Beitrag zu Mr(s) Palmer habe ich mich gefreut. Wenigstens im anglikanischen Sprachraum weiß man ihn durch einen Eintrag zu würdigen. Aus diesem Beitrag habe ich erfahren, dass Palmer zusammen mit John Evan die Band verlassen hat, als Mr. Anderson meinte, sich dem elektronischen Zeitgeist unterwerfen zu müssen. Das lässt doch tief blicken und hätte auch Mr. Anderson, selbst bei voller Berücksichtigung seiner total(itär)en Autorität, zu denken geben müssen. Hat es aber nicht und die Folgen sind bekannt.

Meine Aussage, dass kein Künstler so schlecht mit Playback umgehen kann wie Mr. Anderson, ziehe ich zurück: In der Zwischenzeit habe ich einige Videos von Gary Glitter angesehen. Dessen Playback-Künste bewegen sich jenseits aller Kritik. Allerdings macht Gary Glitter deutlich, dass meine „Guter Musiker = schlechter Playbackartist“ – Theorie nicht uneingeschränkt gilt.

Deine Übersetzung der Hasenstory finde ich sehr gelungen ! Du musst damals etwa Mitte 20 gewesen sein. Eine reife Leistung ! Mindestens eben so groß wie die Leistung der Übersetzung finde ich Deine Fähigkeit, auf 30 Jahre alte Manuskripte zurückgreifen zu können. Ich finde schon nicht mehr wieder, was ich vor zwei Wochen geschrieben habe.

Die Geschichte des Hasen finde ich wirklich etwas skurril. Okay, das ist eben der Stil des Meisters. Aber die Brillen-Posse zerreißt das Album in zwei Hälften. Die Durchgängigkeit des Passion Play leidet darunter sehr. Es ist nicht länger „ein Stück aus einem Guss“. Der Hase drängt sich zwischen die Harmonien wie das Richtbeil zwischen die Halswirbel. Falls Mr. Anderson seine Fabel an den Schluss des Albums platziert hätte, wäre weniger Schaden angerichtet worden. Zu Beginn der Platte hätte es nicht sein dürfen; dann hätte kaum jemand das Album zu Ende gehört. (Das war meine Anderson-Schmähung für heute.)

Als Hintergrundmusik eignen sich die Göttertänze in der Tat. Die ganze CD hat etwas von Meditationsmusik, zumindest in weiten Teilen. Indem das Album spirituelle Energien freisetzt, wird es seinem Titel voll gerecht. In den letzten Wochen und Monaten habe ich gelernt, dass Mr. Anderson über zu viel Kreativität verfügt, um sich ausschließlich mit Folkmusik zu befassen. Jedenfalls ist sein musikalischer Horizont weiter gesteckt als mein Musikgeschmack. Ich kann mich eben nur an einer Teilmenge seines Schaffens erfreuen.

Viele Künstler gehen in ihren reiferen Jahren „back to the roots“. So vielleicht auch irgendwann Mr. Anderson. Möglicherweise überrascht er uns eines Tages mit einem neuen Folk-Album.

Es sieht so aus, als müssten wir mit dem Schreiben einen Zahn zulegen. Der Vorrat an mails für Dein Weblog schmilzt schneller als wir tippen können. In den nächsten Tagen werde ich mich verstärkt um die schulischen Leistungen meiner Söhne kümmern. Ich hoffe, dass mir noch Zeit bleiben wird, Mr. Anderson in den Himmel zu loben.

Ich lese, also bin ich.
Viele Grüße an die Familie !
Lockwood

03.11.2006

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Hallo Lockwood,

wir hatten vor kurzem Betriebsratswahlen. Hilft also auch nichts. Vergessen wir das Thema. Es ist einfach traurig, so viel Missgunst, Ignoranz und Inkompetenz an einer Stelle zu sehen. Und das betrifft nicht nur den Betriebsrat, sondern auch die Betriebsführung. Übrigens habe ich den Beitrag den Umständen ‚angepasst’. Zumindest der Personalchef kennt meine Website und könnte auf dumme Ideen kommen …

Na, jetzt hast Du es offen gelegt: Elektronischer Zeitgeist und so und der Weggang von David Palmer, dem halbväterlichen Mentor, und Alt-Kumpel John Evan, das konnte ja nur in die Hose gehen. Aber mit der Gruppe „Tallis“ wurden David Palmer und John Evan, auch Drummer Barriemore Barlow war daran beteiligt, nicht gerade glücklich, sodass sich Palmer mit dem Arrangieren der Orchesteralben (neben Jethro Tull ja auch Queen, Genesis usw.) befasste. Übrigens, Williz Tull-Archiv hat eine Aufnahme von der Gruppe ‚Tallis’, heißt ‚ Disturbed Air’ und … dürfte Deinem Geschmack nicht gerade entsprechen, oder? Die MP3-Datei als Anhang. Ich bin irgendwie über mein zeitweises Abo von dem Tull-Fan-Magazin „A New Day“ an eine CD gekommen, die u.a. auch noch andere interessante Stück enthält. Leider finde ich die Inhaltsangabe der Scheibe nicht (ist in einer Ausgabe von ‚A New Day’).

Tallis: Disturbed Air

Mit ‚Passion Play’ im Zusammenspiel mit der Hasengeschichte gebe ich Dir Recht. Als ich mir die CD zugelegt habe, ich hatte diese Scheibe lediglich als LP, hoffte ich, dass man „The Story of the Hare“ als eigenen Track behandeln würde. Aber wie auf der LP gibt es ja nur zwei Tracks. Das hat mich etwas geärgert. Gut, man kann sich das Ganze ggfs. selbst zusammenschneidern.

Zum Text: Der ist natürlich nicht so schwierig und tiefgründig wie andere Anderson-Texte, wobei ich denke, dass dieser auch gar nicht von Anderson ist, zumindest nicht allein. Auf der Scheibe werden als Autoren Jeffrey Hammond-Hammond, John Evan und Ian Anderson genannt – in dieser Reihenfolge. Also dürfte der gute Jeffrey der Urheber sein. Die Übersetzung lag im Cover der LP, also dort, wo man ihn zur passenden Zeit wiederfindet. Damals hatte ich mich auch an die Übersetzung von ‚Thick as a Brick’ gemacht. Bin, wie schon einmal erwähnt, bis zu der Biggles-Textstelle gekommen („Where the hell was Biggles …!“). Den Text habe ich dann nach diversen Umzügen wohl doch versusst (verlegt, verloren).

„Back to the roots“ – in gewisser Hinsicht könnte man die Orchestertouren so sehen. Zum einen ist das eine ganz ordentliche Einnahmequelle (das Copyright an den Tull-Stücken und am Trademark ‚Jethro Tull’ dürften Anderson gehören): zeitweise war die CD (oder DVD) sogar in den deutschen Charts vertreten. Zum anderen braucht Herr Anderson nicht mehr wie ein Derwisch über die Bühne turnen – mit einem Orchester im Rücken gehört sich das eben nicht. Und trotzdem darf und kann der Meister seine alten Stücke vortragen. Aber an ein Folk-Album glaube ich dann doch nicht.

In diesem Zusammenhang: Ende dieses Monats ist Ian Anderson ja mit einer Acoustic Tull Tour with Ann Marie Calhoun in den Niederlanden und Skandinavien unterwegs. Neben der Geige und Anderson wird wohl auch Martin Barre mitmischen. Ansonsten? Keine Ahnung. Aber immerhin ist es erfreulich, den Namen Martin Barre einmal wiederzuhören, wenn es um Konzertauftritte geht.

Mit Deinen Anderson-Schmähungen kommen meine Lockwood-Ärgernisse kaum mit. Aber Du lässt Dich ja nicht ärgern. Der Meister hatte sich anlässlich der ZDF-Spendengala des ZDF für die Tsunami-Opfer bereit erklärt teilzunehmen und mit Mandokis ‚Soulmates’ irgendwann im Januar 2005 einen Kurzauftritt mit Lennons ‚Imagine’. Und da er nicht nur auf eigene Kosten angereist war und auf Gage verzichtete, so ließ er auch seine Kopftuch-Sammlung zu Hause. Stattdessen kreierte er einen neuen Gutsherrenlook mit legerem Jackett, (Stroh-?/Panama-?) Hut und Sonnenbrille. Ja, Ian Anderson entpuppt sich mehr und mehr als Meister der Verkleidung. Oder hättest Du auf Anhieb erkannt, wer der schicke Herr mit Flöte ist?

Ian Anderson bei der ZDF Spendengala 2005

Ein schönes Wochenende Dir und Deinen Lieben.
Auch viele Grüße.
Wilfried

04.11.2006

English Translation for Ian Anderson