Was ist bloß mit Ian los? Teil 32: Von Tricks und Passionen

Hallo Wilfried,

Dein Mp3 – Quiz hätte ich nicht beantworten können. Ich hätte irgendetwas in Richtung Richie Blackmore getippt.

In der abgelaufenen Woche hattest Du einige bemerkenswerte Beiträge in Deinem Weblog. Das hast Du zwar immer, aber mir sind in den letzten Tage einige ganz besonders ins Auge gesprungen. Zuerst das mehrteilige Konzert des „Passion Play“. Ganz große Klasse ! Ich verstehe nicht, dass dieses Opus so zerrissen worden ist. Es ist vielleicht nicht das allergrößte Tull-Album, aber zumindest das, das ich am häufigsten gehört habe. Mir gefällt, wie bei allen Konzept-Alben, seine Durchgängigkeit. Fast schon eine Oper. Bei dem Konzert 1973 zeigte Mr. Anderson, warum und womit er sich den Titel eines Meisters verdient hat. Diese Kraft, dieses Genie, diese Stimme !

Das zweite Highlight der letzten Woche war Dein Beitrag zum 60. Geburtstag von Mr. Barre. Es erstaunt mich immer wieder, wie Du die Informationen und Bilder an Land ziehst. Jedenfalls ist daraus ein Würdigung entstanden, die der guten Seele von JT gerecht wird. Seine Solo-Musik (das wenige, was ich davon kenne) gefällt mir zwar nicht, aber ich bin mir bewusst, dass er einen großen Anteil daran hatte, aus Jethro Tull das zu machen, was wir heute kennen und schätzen. An dieser Stelle ein großes Lob an ihn, dass er soviel innere Stärke zeigt, seinen breiten Scheitel mit Würde zu tragen.

Zum parallelen Flötenspiel bei Anderson’s Gesang:
Deiner Erklärung, dass die zweite Flöte auf den Keyboards erzeugt wird, stand ich erst skeptisch gegenüber. Es klang einfach zu sehr nach Flöte. Aber ein aufmerksames Studium des Videos von „For a thousend Mothers“ brachte Gewissheit: Mr. Giddings spielt die Flötenstimme auf dem obersten Manual seiner Tasten-Batterie. Das wirft ein neues Problem auf: Wer sagt uns, dass er lediglich die zweite Stimme spielt ? Wird hier noch mit weiteren Tricks gearbeitet ? Was ist noch echt, was kommt von Synthi oder gar Tonband ? Lediglich der Gesang von Mr. Anderson ist unverkennbar echt.

Trotz allem: Die 2000er Version der tausend Mütter gefällt mir besser als die 1973er Version. Die jüngere Variante wirkt kraftvoller, dynamischer, druckvoller und gleichzeitig melodischer. Das ist vielleicht der Verdienst der zweiten Flötenstimme.

Deinem Hinweis, dass Mr. Giddings in Fragen „technischer Unterstützungen“ möglicherweise einen schlechten Einfluss auf den Meister hatte, kann ich nicht ganz folgen. Mr. Anderson hat auf mich nie den Eindruck gemacht, dass er leicht zu beeinflussen sei. Im Gegenteil: Er ist dafür bekannt, dass er innerhalb seiner Band ein hartes Regiment führt und das geschwungene Zepter auch mal auf Schädel niedersausen lässt. Wenn jetzt also ein wahrscheinlich nicht unersetzbarer Tastenmann daherkommt und einige Tricks vorschlägt, die dem Meister nicht zusagen, wird Mr. Anderson dem kaum um des lieben Friedens willen zustimmen.

Zum Schluss ein kurzer Themenwechsel:
Es gibt auch jenseits der anspruchsvollen Rockmusik Melodien, die einem gewissen Anspruch gerecht werden und / oder die man einfach gerne hört. Das wurde mir heute Morgen wieder deutlich vor Ohren geführt: Im Radio lief „If you don’t want my love“ von Elaine Paige. Tolle Melodie, großartige Stimme ! Diese Stimme erinnert ein wenig an Marti Webb, ebenfalls eine erstklassige Sängerin. Solche Stimmen vermisse ich heutzutage.

Ich wünsche Dir ein schönes Restwochenende und eine entspannte Woche

Lockwood

18.11.2006

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~

Hallo Lockwood,

erst macht mein Bildschirm schlapp (war auch schon eine alte Krücke) und jetzt zickt auch noch mein PC. Ich hoffe er hält noch eine kurze Zeit.

Also ich will ehrlich sein: Die Gruppe Mountain ist mir so gut wie unbekannt. Irgendwann hatte ich zwar schon einmal das Lied „Mississippi Queen“ gehört – und gleich wieder vergessen. Das war es dann auch schon. Wenn man aber die kurzen Gitarren-Passagen der drei Stücke hört, dann erkennt man durchaus eine gewisse Ähnlichkeit mit der Spielweise von Martin Barre. Also Leslie West von der Gruppe Mountain ist so etwas ähnliches wie das Vorbild unseres Tull-Gitarristen. Wäre ich nie drauf gekommen.

Zum youtube-com-Video Jethro Tull: “For a Thousand Mothers (11/28/2000)” haben einige Leutchen ihre Kommentare abgegeben. Finde ich ganz interessant, z.B. „Jethro Tull are just the best damn live act ever!!!! Stick that in your pipe and smoke it!!!!”.

Ich pflichte Dir bei, dass Andersons Stimme nicht mehr die allerbeste ist. Aber instrumental sind Anderson und Barre wirklich eine Klasse für sich. Das siehst Du ja kaum anders, wenn Du die 2000-er Version von „For a 1000 Mothers“ für ‚kraftvoller, dynamischer, druckvoller und gleichzeitig melodischer’ hältst als die Versionen früherer Jahre. Besonders in den ersten Jahren fehlte es an der richtigen Dynamik, da klang alles noch sehr statisch und auch technisch (ich meine spieltechnisch) ziemlich unsauber und schlecht aufeinander abgestimmt.

Und deshalb haben Anderson und Co. auch heute noch diesen relativ großen Erfolg, wenn es um Live-Auftritte geht. Man weiß zwar, dass Andersons Gesang nicht mehr so toll ist, aber man weiß auch, dass man ansonsten, wenn man in eines der Konzerte geht, gut bedient wird. In diesem Sinne hatte ich mich ja auch zu meinem letzten Konzertbesuch im Juni 2005 geäußert.

Aber selbst die Tulls früherer Jahre hatten meiner Meinung nach schon mehr drauf als ihre Kollegen (ich will keine Namen nennen). Ich habe dieser Tage diverse Stücke anderer Bands aus den 70-er Jahren gehört. Besonders die Gitarrensoli waren für mich kläglich: bisschen Wischi-waschi mit viel Verzerrer! Mehr nicht. Da klingt Martin Barre bereits damals wie ein Gitarrengott und ließe sich höchstens von Clapton und Hendrix einholen.

Aber auch Gruppen aus dem letzten Jahrzehnt haben rein musikalisch gesehen viel weniger drauf als unsere lieben Tull-Brüder (ich habe mir in der vergangenen Woche geduldig Scheiben von ‚Nirvana’, ‚Placebo’ und ‚Panic in the Disco’ angehört, besonders Placebo war vor kurzem groß gefeiert). Nicht viel, was mich da vom Hocker riss. Und dabei bin ich durchaus aufgeschlossen für Neues.

Warum ich das eigentlich schreibe: ich habe ja selbst einmal in einer Gruppe blutiger Amateure gespielt. Und ich erinnere mich heute noch, dass wir uns bemüht haben, eine gewisse Dynamik in unsere Stücke hineinzubekommen (‚Drive’ nennt man das wohl auch). Aber es war nichts zu wollen. Bei Anderson, Barre und Co. klingt manches so leicht und locker. Aber damit es so klingt, muss man viele Jahre gespielt haben, um dieses Können und diese Routine zu erlangen. Wenn dann die Jungs auch noch richtig Spaß daran haben, dann klingt es noch etwas besser. Und den Spaß haben Anderson und Co. größtenteils noch, davon gehe ich aus. Gut, manche Abende ist man vielleicht nicht ganz so gut drauf (irgendwie klingt der Lugano-Auftritt so). Aber dafür sind es ja auch nur Menschen.

Ja, ob nun aus der Konserve oder wirklich live … Wie ich schon sagte, irgendwann hatte ich dazu in einem Interview gelesen, dass Jethro Tull auch auf Tricks zurückgreift (Wer würde das aber bei einem so komplexen Sound nicht tun). Der Original-Beginn von „Thick as a Brick“ lässt sich live nun einmal nicht so wiedergeben, dann brächten wir Ian Anderson zweimal (einmal den Sänger und gleichzeitig den Flötisten). Das Flötenspiel lässt sich also vom ‚Band’ abrufen (ist natürlich digital gespeichert – meist auch auf einem Keyboard) oder am Keyboard durch entsprechende Klangeinstellungen (MIDI, das Thema hatten wir in einem anderen Zusammenhang) bewerkstelligen. Ich denke, bei Jethro Tull halten sich diese Tricks im Rahmen und werden wirklich nur da verwendet, wo es nicht anders geht. In diesem Zusammenhang fällt mir die goldene Hochzeit meiner Schwiegereltern vor gut einem Jahr ein. Da spielte ein so genannter Alleinunterhalter … und der klang wie ein ganzes Orchester mit seinem Keyboard. Und obwohl er wirklich nicht singen konnte, vertuschte er dieses sehr geschickt, indem er seiner Stimme einen Chor beimischte. Also technisch ist heute selbst im Amateurbereich vieles möglich.

Okay, Herr Anderson wird sich schon nicht von Herrn Giddings in diesen Dingen unkritisch beeinflussen lassen. Aber ich traue Andrew Giddings mehr technisches Verständnis zu als dem Meister. Und wenn man die richtigen Argumente hat, dann wird sich auch Ian Anderson in bestimmten Dingen überzeugen lassen. Wie weit das geht, davon habe ich keine Ahnung. Vielleicht fragt er ja auch Herrn Giddings: „Hey, Andy, hier würde ich ganz gern die Flöte hören. Aber wer singt dann den Part? Und Martin kann zwar Flöte spielen, aber an dieser Stelle ist er noch mit den Ausläufern seines Solos beschäftigt. Also?“

Apropos Highlights! Nun die „A Passion Play“-Zusammenschnitte sind ja nicht auf meinem Mist gewachsen. Also Dank an den Bastler TullTapes. Aber wenn man sucht, dann wird man auch fündig (gilt im weitesten Sinne fürs Internet). Hierbei war dann doch eher der Zufall Herr des Geschehens: Von „Thick as a Brick“ gibt es aus dem Jahre 1972 Aufnahmen eines Konzertes in Japan. Nicht diese üblichen 10-12 Minuten, nein, ich habe es nicht zusammengerechnet, aber weit über 60 Minuten! Ich spreche von Audio-Aufnahmen. Natürlich ergibt sich diese lange Zeit durch Flöten-, Schlagzeug- und sonstige Soli, die eingebaut wurden. Das Schlagzeugsolo kann man getrost vergessen (war in den 70-er Jahren wohl so üblich, sich auch den Drummer einmal richtig austoben zu lassen). Ich habe bisher nur einmal quer hineingehört. Ist natürlich keine professionelle Aufnahme, aber immerhin mehr als ein Zeitdokument. Ich habe die Aufnahmen im so genannte FLAC-Format (steht für „Free Lossless Audio Codec“), dass sich u.a. mit WinAmp abspielen lässt, wenn man den entsprechenden Audio-Codec heruntergeladen hat. Die Größe der Dateien: ca. 500 Megabyte. Ich habe aber auch schon ein Progrämmelchen gefunden, das FLAC-Dateien in MP3 umwandelt. Hier eine kleine Kostprobe.

In diesem Zusammenhang erinnere ich mich auch an eine Diskussion im Laufi-Forum (auf die Schnelle finde ich nicht, wo), in der es um alte Videoaufnahmen (z.B. von „Thick as a Brick“ aus dem Jahre 1972) geht. Anscheinend lagern diese auf dem (schon legendären) Dachboden von Herrn Anderson (gleich neben dem Soprano-Saxophon) und liegen dort offentlich trocken und wohltemperiert. Einer der Mitstreiter alter Tage (ich glaube, es soll Jeffrey Hammond sein) verlangt bei Veröffentlichung eine Menge Knete, die der Meister aber nicht herausrücken will. Wie auch immer: Es muss noch einige alte Aufnahmen geben, die bisher den Weg in die Öffentlichkeit nicht gefunden haben (ähnlich dem Isle of Wight-Konzert von 1970, das dann endlich als CD bzw. DVD erschien). Ich bin nun nicht der Typ, der sein Geld aus dem Fenster wirft. Aber für eine ‚remastered’ Videoaufnahme von „Thick as a Brick“ aus dem Jahre 1972 (vielleicht noch in voller Länge – mit dem geigenden Damentrio – oder waren es vier Damen?) würde ich schon einige Euro locker machen wollen (lieber PC halte bitte noch ein Jährchen).

Und apropos Laufi-Forum: Ich bin da gerade über einen Beitrag gestolpert, den ich Dir wärmstens ans Herz legen möchte (und Dich damit sicherlich auch etwas ärgere): end game – Jethro Tull im Halbschatten. Da hat sich einer wirklich Gedanken gemacht um unseren Meister. Wir sollten darauf zu sprechen kommen. Lies es aber erst einmal in Ruhe. Werde mir „Roots to Branches“ einmal wieder in Ruhe anhören müssen.

Lass Dich nicht stressen.
Eine gute Woche
Wünscht Dir
Wilfried

P.S. Deine Anmerkung zu Elaine Paige (sie ist wie Marti Webb durch Musicals bekannt geworden) betreffend: Sicherlich gibt es schöne Frauenstimmen nicht gerade wie Sand am Meer, aber es gibt sie doch in unerwarteter Fülle. Bei meinen Anmerkungen zu den Reisevorbereitungen zu unserer Schottland-Tour vor einem Jahr hatte ich wegen des Tull-Lieder „Kelpie“ im Internet recherchiert und war dabei auf ein Duo gleichen Namens stoßen, die u.a. auch den Tull-Titel in ihrem Programm haben. Das Duo bildet der schottische Gitarrist Ian Melrose und die Deutsche Kerstin Blodig, die auch Gitarre spielt, aber gleichzeitig die Sängerin der Gruppe ist – auch mit einer sehr schönen Stimme, wie ich finde.

21.11.2006

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~

Hallo Lockwood,

manchmal sollte man doch wieder einen Blick auf die offizielle Tull-Site werfen:

German TV Christmas Eve Performance

Ian will be performing for the German President’s Christmas TV concert and service from the beautiful monastery, Mariah Laach, Germany, to be broadcast on Christmas Eve. Details soon.

Also Heiligabend vor der Glotze? Lässt sich ja aufzeichnen.

Gruß
Wilfried

21.11.2006

English Translation for Ian Anderson