Hallo Wilfried,
es ist vollbracht. Weihnachten ist vorüber und der Alltag umfängt uns wieder für einige Tag bis zum Jahreswechsel. Bitte richte Deiner lieben Frau meine nachträglichen Glückwünsche zum Geburtstag aus !
Aus gegebenem Anlass zum Auftritt in Maria Laach:
Das Warten und die Spannung sind vorbei, wir haben den Meister gesehen und gehört. Einigen wird es gefallen haben, anderen nicht. Ich selber muss resümieren, dass sich durch die lange Wartezeit eine gewisse Erwartungshaltung aufgeschaukelt hat. Ich kann noch nicht einmal sagen, was ich eigentlich erwartet habe, aber vom Auftritt war ich enttäuscht.
Die erste Darbietung „Rest Ye Merry Gentlemen“ kannte ich vorher nicht und ich finde es auch nicht besonders toll. „Bourre“ kannte ich zwar, es gehörte aber nie zu meinen Tull-Favoriten. Und dann „Aqualung“: Der Meister versucht es wirklich noch einmal mit Gesang ! Es war zum Erbarmen. Ich habe ständig damit gerechnet, dass jemand auf die Bühne springt und ihn dort herunterzieht. Um ihn vor sich selber zu schützen. Warum tut er sich das an ?
Die Fans, die die Sendung gesehen haben, kennen die gesundheitlichen Hintergründe. Aber was für einen Eindruck muss das auf den Rest der Republik gemacht haben ?
Und überhaupt: Der Auftritt hatte stellenweise etwas von Bigband-Sound. Ian Anderson goes James Last. Wenn ich die musikalischen Aktivitäten des Meisters in den letzten Jahren intensiver verfolgt hätte, wäre ich am Heiligabend nicht so unvorbereitet gewesen. Aber so musste ich mich ständig fragen, was das Dargebotene mit Jethro Tull zu tun hat.
Was soll’s, vorbei ist vorbei. Wie wir gesehen haben, dreht der Globus sich trotzdem weiter.
Nun zurück zu Deiner letzten mail:
An Mr. Jobson als Musiker habe ich nie gezweifelt. Es ist wirklich nur die feminine Attitüde, die mich an ihm stört. Warum eigentlich ? Queen haben sich in ihren frühen Jahren auch stark geschminkt präsentiert und das hat mich nie gestört. Keine Ahnung; aber um meine widersprüchlichen Empfindungen zu analysieren, fehlt mir im Moment die Muße.
Auf der Jobson’schen Homepage habe ich gesehen, dass der Sohnemann nicht geschminkt ist. Das beruhigt mich und dabei will ich es belassen.
Deine Wahrnehmung der Schwankungen in des Meisters Stimme erscheinen mir richtig. Es gibt Aufzeichnungen aus der Mitte der 80er Jahre, in denen krächzt wie ein trockengelaufenes Getriebe. Dem gegenüber steht sein Auftritt in Istanbul aus 1991, bei dem die Stimme relativ passabel klingt (das Video zu „Jack-a-Lynn“ schaue ich mir immer noch häufig an).
Bei dem Titel „For Michael Collins, Jeffrey and me“ habe ich jahrelang gedacht, es sei ein Lied für den irischen Widerstandskämpfer Collins. Erst nachdem ich im Songbook gelesen habe, wurde mir klar, dass der Astronaut gemeint war. Dies zeigt, wie toll ich mich mit JT – Texten auskenne. Das Songbook kam wirklich keinen Tag zu früh.
Hier die Übersetzung daraus zum Mondfahrerlied:
Wässrige Augen der letzten seufzenden Sekunden,
trauriges Flimmern, stumm und matt,
fordern das weinende Kind des Staunens auf,
die Sünde zu bereuen.
Und die blinden und wollüstigen Liebhaber
der großen ewigen Lüge
glauben weiterhin an nichts,
da etwas sterben muss.
Und die Neugier des Affen –
die Macht des Geldes siegt,
und die gelben, weichen Berge beben unter ihm.
Ich bin bei dir, L.E.M., (Lunar excursion module; Mondfahrzeug)
obwohl es schade ist, dass es ausgerechnet ihr sein musstet.
Das Mutterschiff ist nur ein Blinken
von eurer Reise zu zweit.
Ich bin bei euch, Jungs, also gebraucht bitte etwas mehr Vorsicht.
Es geht mir nicht aus dem Sinn, dass ich zurückgelassen wurde,
wenn ich doch dort sein
und mit euch spazieren sollte.
Und die hungrigen Zuschauer mit den welken Gesichtern
bemühen sich krampfhaft, ihre Blicke zu konzentrieren,
wie der Mann, der am Trapez hängt –
dessen Sturz Befriedigung bringt.
Sie beglückwünschen einander
zu ihrer einzigartigen und bewundernswerten Tat,
die ihr widerwillig herausgerücktes Geld gekauft hat,
die Saat des Affen zu säen.
Und die gelben, weichen Berge,
sie werden wieder ruhig,
empfinden die humanoide Erregung als Aufdringlichkeit.
Für meinen bescheidenen Grips wirft diese Übersetzung mehr neue Fragen auf als sie beantwortet.
Das geht mir jedes mal so, sobald ich das Songbook aufschlage. Ich bin sicher, das liegt nicht an den Übersetzungen. Es ist ganz einfach so, dass ich zur Lyrik des Meisters keinen Zugang finde.
Viele seiner Texte bestehen in meinen Augen aus einer sinnlosen Aneinanderreihung von Metaphern, Bildern und Allegorien. Ich kann keinen Inhalt darin erkennen; ich könnte den Sinn von etlichen Texten nicht mit wenigen Worten wiedergeben.
Aber ich will ehrlich sein: Mein mangelndes Verständnis für die Anderson-Texte muss nicht notwendigerweise in der speziellen Lyrik des Meisters begründet liegen; ich habe schon in der Schule feststellen müssen, dass mir für tiefsinnige Gedichte jegliche Antenne fehlt. Meine literarischen Bedürfnisse beschränken sich auf Sachberichte und Prosa.
Glücklicherweise gibt es aber auch Anderson-Texte, die sich mir voll und ganz erschließen. Es sind jene Texte, in denen er etwas beschreibt oder eine Handlung schildert. In denen es Personen gibt, die etwas tun oder unterlassen. So richtig schön mit Subjekt, Objekt, Prädikat. Somit war das Songbook doch keine Fehlinvestition.
Wenn ich mich recht entsinne, war „Stand Up“ das Album, das Dein Interesse für JT geweckt hat. So vernehme, was der Meister zu diesem Album schreibt:
Mit „Stand Up“ begannen wir uns vom Spielen in einer Bluesband, in der Mick Abrahams und ich so etwas wie gleichberechtigte Kräfte waren, wegzubewegen. Zwischen Mick Abrahams und Glenn Cornick gab es ernsthafte Schwierigkeiten. In der Band entstanden Probleme in Bezug auf Micks Engagement. Er wollte nicht ins Ausland reisen, er stellte uns ein Ultimatum, indem er sagte: „Ich spiele nur dreimal die Woche!“ Wir anderen fanden das unmöglich, wir wollten jeden Abend spielen, wir wollten Erfolg haben! Also konnten wir mit Mick unter diesen Umständen nicht weitermachen, was dazu führte, dass ich die ganze Musik selber schreiben und neue Ideen einbringen musste.
Für mich war dies eine Gelegenheit – nicht, vom Blues wegzukommen, sondern mich nach neuen Inhalten umzusehen. Wir experimentierten mit exotischen Instrumenten, und so schlichen sich langsam Mandolinen, Balalaikas, Pfeifen, Saxophone, alle möglichen Dinge ein. Manche benutze ich selbst heute noch. Ich denke nicht unbedingt, dass „Stand Up“ ein großartiges Album ist, wunderbar gespielt, mit sagenhaften Stücken – in vieler Hinsicht sind die Titel naiv, einfach, zum Teil auch ein wenig ichbezogen. Sie sind sicher nicht meine besten Stücke, besonders was die Texte angeht. Aber es war ein ziemlich gutes Album, wenn man den Standard von 1969 betrachtet, es war zumindest interessant und ziemlich originell. Es hörte sich nicht an wie alle anderen. Es gab eine Menge Bands damals, die sehr eigenwillig waren. Gruppen wie Yes, Led Zeppelin, Nice und King Crimson hatten ihre ganz spezielle Identität, sie unterschieden sich erheblich voneinander. Es war schön, ein Teil davon zu sein, aber nicht Teil einer bestimmten Musikrichtung. Alle diese Bands waren sehr unterschiedlich, wir waren alle irgendwie wir selbst – eine enorme Vielfalt. Auch in Amerika gab es ein paar Bands, die wichtig und anders waren, wie Zappa und Captain Beefheart, Grateful Dead, alle mit einer klaren Identität. Mehr als heute möglich wäre, wie ich meine.
Der Gröhnemeyer ist ganz ohne Hintergedanken entstanden, ein ganz simpler (wenn auch peinlicher) Rechtschreibfehler. Ich mag ihn und seine Musik, er wirkt bei allem was er tut sehr authentisch. Besonders sein „Mensch“ – Album hat mich sehr bewegt. Er hat eine ganze Reihe von Texten geschrieben, mit denen ich mich sehr gut identifizieren kann. Und mit mir tausende Anderer, das macht wohl mit seinen Erfolg aus.
Vor einigen Jahren brachte mein Stamm-Radiosender eine interessante Meldung: „Die Musikwissenschaft kann einen epochalen Triumph verbuchen. Man fand heraus: Grönemeyer singt deutsch!“ Eine gelungene Anspielung auf Herbys Genuschel.
Nur so ganz kurz zwischendurch: Wenn Du Zeit und Lust hast, schau Dir in youtube das Video zu Roxy Music „Psalm“ an. Hier findet sich ein solch gerade gebogenes Saxophon (den korrekten Ausdruck habe ich vergessen), wie es auch Mr. Anderson beim Passion Play verwendete. Wenn ich nicht irre, kommt dieses Instrument auch bei einigen „Laurel and Hardy“ – Filmen im Hintergrund zum Einsatz. Im Klang irgendwo zwischen Klarinette und Schalmei.
Das Psalm-Video hält noch eine weitere Überraschung bereit: Nachdem ich es fünfmal gesehen hatte, kam mir der Keyboarder seltsam vertraut vor. Es ist niemand geringerer als Mr. Jobson. Mit längeren Haaren und dezentem Makeup habe ich ihn nicht auf Anhieb erkennen können.
Ich weiß nicht, was Du über „Die Entdeckung des Himmels“ gelesen hast, das Dich auf Abstand von diesem Roman gebracht hat. Ich will natürlich keine Werbung für das Buch machen, davon hätte ich nichts. Nur soviel: Jeder aus meinem Umfeld, der das Buch gelesen hat, war davon begeistert. Aber daraus solltest Du keine Verpflichtung ableiten, es ebenfalls zu lesen.
Leselöcher, d.h. Zeiten, in denen man keine Lust hat zu lesen, kenne ich auch. Aber wenn ich vor dem Einschlafen nicht lese, öffnen sich Hypnos Arme für mich nur sehr zögerlich.
Von der rückwärts gespielten Flöte habe ich noch nie etwas gehört. Was bedeutet das ? Lässt man eine Aufnahme vom Flötenspiel falsch herum abspielen oder saugt der Instrumentalist statt zu blasen ?
In Deiner letzten mail hast Du etwas sehr Schönes und Wichtiges geschrieben: „Und gerade in diesen Tagen ist es doch schön, eine Familie zu haben.“ Ich mache mir viel zu selten bewusst, wie bedeutend es tatsächlich ist, in einer intakten Familie aufgewachsen zu sein bzw. jetzt eine eigene Familie zu haben. Ich sehe viel zu oft nur den Stress, den eine große Familie mit sich bringt. Wie so oft im Leben nehmen wir das Positive viel zu selten wahr. Aber mit Gedanken zu diesem Thema könnte man eine eigene Rubrik füllen.
In der Hoffnung, dass diese Zeilen Dich bei bester Laune und Gesundheit erreichen verbleibe ich
Lockwood
27.12.2006
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Hallo Lockwood,
nun der Alltag hat mich erst ab morgen wieder. Trotzdem komme ich erst jetzt zum Schreiben. Wir waren doch viel unterwegs oder ich hatte einfach keine große Meinung, am Rechner zu sitzen. Außerdem gab mein Rechner kurz nach Weihnachten nun doch endgültig den Geist auf und ich sitze jetzt an einer alten Gurke, die wenigstens noch für Textverarbeitung taugt. Mit youtube.com u.ä. ist aber schon nichts mehr. Der Internet Browser ist irgendeine 5-er Version, also für solche Sachen völlig untauglich.
Ich hoffe, Du hattest mit Deinen Lieben auch schöne Feiertage und bist gut in das neue Jahr gerutscht. Wir haben alles heil überstanden, auch die Geburtstagsfeier meiner Frau. Für das neue Jahr wünsche ich Dir und Deinen Lieben alles Gute, viel Gesundheit und dass beruflich bzw. schulisch alles glatt läuft.
Der Auftritt des Meisters in Maria Laach ist bei mir schon fast Geschichte. „Rest Ye Merry Gentlemen“ ist eines der Stücke vom „Christmas Album“, die mir nicht sonderlich gefallen. Etwas anderes hätte mich mehr angesprochen. Aber egal. Na ja und das Aqualung-Fragment mit Gesang war sicherlich nicht der Höhepunkt seiner Karriere, aber ganz so schlimm fand ich es dann auch wieder nicht. Auch Mario Adorf kam mindestens einmal kurz ins Schleudern. Zu Weihnachten hat man genügend Erbarmen. Und wie Weihnachten hinter uns liegt, so ist auch dieser TV-Auftritt von Herrn Anderson vorbei und fast schon vergessen.
Vielen Dank für den Auszug aus dem Songbook. Mit Lyrik (und Andersons Texte sind nun einmal Lyrik und keine schlicht gestrickten Liedertexte) ist das natürlich so eine Sache, besonders mit der modernen Lyrik. Ich konnte mich nie so ganz mit Gedichten anfreunden, die zu tiefgründig sind, um es einmal so auszudrücken. Da mag dem Dichter einiges vorgeschwebt haben, dass ich dann aber so ohne weiteres nicht nachvollziehen kann. Viele der benutzten Metaphern bzw. Allegorien ergeben nicht unbedingt das Bild, dass für mich verständlich wird. Man muss sich schon eingehender mit einem solchen Gedicht bzw. Liedertext beschäftigen. Bei den Anderson’schen Texten kommt dann noch das Problem der Übersetzung hinzu, dass mit dem Songbook auch nicht vollständig gelöst wird. Es ist aber schon eine Hilfe.
Das Stand up-Album ist textlich sicherlich nicht so anspruchsvoll. Aber insgesamt war das Album eine wichtige Station auf dem Weg, den Jethro Tull gegangen ist. Ich weiß von einen Tull-Fan aus unserem Ort, ein angesehener Wissenschaftler, ich kenne ihn nur flüchtig, der die Zeile: „We ran the race and the race was won by running slowly.“ (We used to Know) gewissermaßen zu seinem Lebensmotto gemacht hat. Ins Deutsche übertragen könnte man es mit „Eile mit Weile“ übersetzen oder „Kommt Zeit, kommt Rat“. So kommt man auch ans Ziel (und siegt zuweilen), auch wenn man gemächlich seines Weges geht.
Von einer „sinnlosen Aneinanderreihung von Metaphern, Bildern und Allegorien“, wie Du schreibst, würde ich nicht ausgehen. Du (und auch ich) haben es nur (noch) nicht verstanden.
Zu Grönemeyer kann ich mich nicht äußern. Dazu kenne ich ihn nur zu oberflächlich. Ich gehe aber davon aus, dass er Lieder geschrieben hat, deren Texte etwas hergeben. Ich weiß nur vom Tod seiner Frau und dass er diesen Schicksalsschlag musikalisch aufgearbeitet hat, was ihm geholfen hat, den Tod eines geliebten Menschen zu verkraften.
Das Psalm-Video von Roxy Music habe ich mir nun doch angeguckt. Es ist übrigens ein Soprano-Sax. Der Klang ist, so denke ich, auch von der Spieltechnik abhängig. Bei Roxy Music klingt es nicht allzu gut. Aber auch Ian Anderson hat sicherlich nicht das Optimale aus dem Instrument herausgeholt. Es dürfte ihm an der Spielpraxis gemangelt haben. Vergleiche nur Andersons Flötenspiel früherer Tage mit dem Spiel von heute. Früher klang es viel metallener als jetzt. Ähnlich verhält es sich mit dem Soprano-Saxophon.
Zur rückwärts gespielten Flöte muss ich erst selbst noch horchen. Ich denke, die Aufnahme wurde einfach rückwärts abgespielt. Das Stück muss sich auf jeden Fall auf „Benefit“ befinden.
Für heute genug. Morgen – wie geschrieben – hat mich der Alltag wieder. Irgendwie graust es mich, denn bereits zum Jahresanfang kommt auf der Arbeit jede Menge Kram auf mich zu. Aber da hilft es mir auch, eine Familie im Rücken zu haben. Immerhin ist dann ja bald wieder Wochenende.
Also bis bald
Wilfried
03.01.2007