Was ist bloß mit Ian los? Teil 47: Von Rubbing Elbows zu Acoustic Tull

Hallo Wilfried,

in unseren selbstgewählten Rollen bleiben wir verlässliche Größen: Auf der einen Seite der Ankläger und Schmäher und auf der anderen Seite der Verteidiger, Erklärer und Versteher. Jedenfalls denke ich, dass wir Mr. Anderson, Jethro Tull und alles, was damit zusammenhängt, aus allen denkbaren Perspektiven beleuchtet haben. Wir haben gesehen, gehört und bewertet. Dazu sind wir angetreten und ich finde, wir haben diese Aufgabe bisher mit viel Fleiß, Leidenschaft und Engagement erfüllt.

Ob wir in naher Zukunft noch viel zu hören, sehen und zu bewerten bekommen werden, wird sich zeigen. An ein bombastisches Alterswerk des Meisters glaube ich persönlich nicht. Ich fürchte, er ist zu sehr damit beschäftigt, sein eigenes Andenken zu verwalten. Da bleibt kein Raum mehr, um den Schwanengesang zu komponieren.

Living in the Past – unter diese Überschrift hat Mr. Anderson sein musikalisches Wirken der letzten Jahre gestellt. Er baut seine musikalischen Aktivitäten auf den vergilbten Lorbeeren vergangener Jahrzehnte auf und zehrt dabei vom Ruhm früherer Zeiten. Was wäre Mr. Anderson heute ohne die von ihm wenig geachteten uralten Fans ? Wenn diese Menschen die Erinnerung an glorreiche Zeiten nicht hochhalten würden, wäre unser Meister nur noch eine peinliche Lachnummer. Ein weltfremder Narr, der nicht merkt, dass sein letzter Vorhang schon lange gefallen ist.

Nur so als Beispiel: Wer war es denn, der Ende letzten Jahres den Auftritt von Mr. Anderson in Maria Laach thematisiert und republikweit verbreitet hat ? Waren das 15jährige ehemalige Tokio-Hotel – Fans, die der Meister auf seine Seite zu konnte ? Waren es übergelaufene Robbie Williams – Fans ? Waren es Renegaten aus dem George Michael – Lager ? Oder waren es nicht doch die „alten Säcke“, auf die der Meister meint leicht verzichten zu können?

Genau diese alten Säcke sind es, die verhindern, dass bei dem austherapierten Komapatienten Jethro Tull die lebenserhaltenden Systeme abgestellt werden. Ich rechne nicht mehr damit, dass unser Komapatient noch etwas großes Neues auf die Beine stellen wird.

Wenn es irgendwann heißen wird, JT haben sich unwiederbringlich aufgelöst, würde es mich nicht wundern. Es ist auch nicht so, dass dadurch eine Welt für mich zusammenbrechen würde. Die Gruppe, die mich begeistern konnte, gibt es schon lange nicht mehr. Mein Faible für diese Gruppe lebt seit Jahren aus der Retrospektive.

Vielleicht ist es für Martin Barre gar nicht einmal so schlecht, sich so langsam vom Meister zu lösen. Einen Stern bei seinem Sinkflug zu begleiten zeugt zwar von Treue, ist der eigenen Weiterentwicklung aber nicht förderlich. Genau: Einem Musiker wie Mr. Barre traue ich zu, dass er noch etwas eigenständig Neues zustande bringt. Möge er sich wie Phoenix aus der Anderson’schen Asche erheben !

Ich sehe es plastisch vor mir: Mr. Anderson wird als 103jähriger Musiker wie Johannes Heesters von Intensivmedizinern auf die Bühne gekarrt, um dort die Urenkel seiner wahren Fans zu „unterhalten“. Aber es gibt einen feinen Unterschied: Herr Heesters ist noch einigermaßen bei Stimme.

Man kann über die späten Aktivitäten des Meisters denken wie man will. Was immer er in Zukunft noch verbrocken wird, seine großartigen frühen Alben nimmt ihm und uns keiner ! Sie sind das, was im Andenken der Fans Bestand haben wird und nicht die Kopftücher und Geigen-Nymphen.

Eine 40jährige Schaffensperiode, in der man es jedem Recht macht, ist einem Menschen nicht möglich.

So ist eine Beschränkung und Konzentration auf die Handvoll hervorragender Alben vergangener Tage mein Beitrag zu „Living in the past“. Nicht Innovation ist die Kraft, die mich an Jethro Tull bindet, sondern Nostalgie.

Es grüßt Dich herzlich
Lockwood

27.01.2007

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Hallo Lockwood,

Ian Anderson muss wissen, was er tut – und wird es wissen. Da bin ich mir sicher. Ich will hier gar nicht den Verteidiger und Erklärer spielen. Und dass ich sogar das Ganze verstehe, liegt mir fern. Vielleicht doch eher erklären, so wie ich es sehe …

Zunächst zum Schwanengesang, wie Du es nennst – ein mögliches Alterswerk des Meisters. Das mit der „schottischen Sinfonie“ habe ich eher ironisch gemeint, mit leichtem Augenzwinkern. Ich bin darauf gekommen, weil Ian Anderson zuletzt mit den unterschiedlichsten Orchestern aufgetreten ist und wir von früher her wissen, dass er sich auch an einer Ballett-Musik versucht hat, wenn auch mit Unterstützung von David Palmer. Also an ein Alterswerk glaube ich schon noch. Es wird sicherlich noch einige Zeit dauern, bis es soweit ist, aber dann … Um es klar zu stellen: Dieses Alterswerk dürfte nach meiner Ansicht wenig mit Jethro Tull alter Tage zu tun haben.

Da ich gerade dabei bin: Bei der Acoustic/Electric Tull-Tour mischen neben den Herren Anderson und Barre (hin und wieder vertreten von Herrn Opahle) die Herren David Goodier (Bass) und John O’Hara (an Keyboards und Akkordeon) mit. Natürlich auch Sohnemann James Duncan am Schlagzeug. Das sind genau die Herren, die Ian Anderson als seine IA solo band guys bezeichnet und die auch bei den Orchester-Auftritten mitwirkten (John O’Hara dann auch noch als Dirigent). Irgendwo tauchte dann auch die Bezeichnung „Rubbing Elbows“-Tour Band auf. Also von Leihmusikern würde ich nicht unbedingt sprechen. Das Problem ist nur, dass diese Jungs so langsam unter dem Namen Jethro Tull ihr Zuhause finden. Für manchen alte Tull-Fan dürfte das ein Affront ohnegleichen sein.

Das mit der Lachnummer und dem weltfremden Narr mag Deine Einschätzung sein. Andere sehen das bestimmt etwas anders. Die Scheibe „Ian Anderson Plays The Orchestral Jethro Tull“ war kurz nach Erscheinen immerhin auf Platz 3 in den deutschen Charts. Und in den Kundenrezensionen bei amazon.de findest Du folgende Kommentar, die Dich doch erstaunen müssten:

„Meine Partnerin und ich hatten das Konzert in Mannheim erlebt und waren begeistert und noch tagelang danach in Hochstimmung.“

„Vor allem die Arrangements der Songs, die zusammen mit den Philharmonikern gespielt werden, lassen aufhorchen. Etwa das wunderschöne Wond’ring Aloud mit Originalstreichersatz.Bourée und God Rest Ye Merry Gentlemen kommen sehr überzeugend daher.My God ist superb und Aqualung ist das Sahnehäubchen schlechthin. Sehr luftig und lebendig arrangiert, mit einem etwas dahinplätschernden Mittelteil zwar, hebt es sich deutlich ab vom Rest. Das Finale von Budapest kommt mit gewaltigen Tönen aus dem Orchester daher.“

„Was nun folgt ist meiner Meinung nach der künstlerische Höhepunkt einer beispiellosen Karriere. Ian Anderson hat eine junge Band um sich geschart (Keyboard, Bass, Gitarre, Schlagzeug), um zusammen mit der „Neuen Frankfurter Philharmonie“ die Klassiker der Band Jethro Tull, als auch Solowerk in faszinierend neuem Gewand zum Besten zu geben.“

Vielleicht sind wir es, die „in the past“ leben. Mit dem Koma-Patienten hast Du dabei gar nicht einmal Unrecht. Auch Herr Anderson sieht das ähnlich. Für einen, der fast 60 Jahre alt ist, ist es wirklich eine Lachnummer, wenn er als alter Rocker auftritt. Das ist wirklich nur etwas für Nostalgiker, denen der Kopf bereits wackelt. Also macht er etwas Neues: Erst die „Rubbing Elbows“, die natürlich nur im angelsächsischen Raum ankommen. Dann die Orchester-Auftritte, die besonders bei den Deutschen beliebt zu sein scheinen. Dafür muss er nicht extra neue Stücke schreiben. Die alten tun es auch (David Palmer hat es bewiesen). Klar, es müssen die Arrangements/Partituren geschrieben werden. Aber dafür finden sich schon welche. Vielleicht hat er die auch von David (Dee) Palmer zum Geburtstag geschenkt bekommen. Ich gehe davon aus, dass Ian Anderson z.B. von der Neuen Frankfurter Philharmonie angesprochen wurde, ob er mit ihnen auftritt (nicht umgekehrt – Herr Anderson hat es noch nicht nötig, anderen hinterher zu laufen). Und da das so toll lief, rufen gleich andere Orchesterchefs bei dem Meister an und fragen nach, ob er auch mit ihnen auftreten könne.

Ian Anderson - Rubbing Elbows

Und jetzt die Acoustic/Electric Tull-Tour. Betonung auf acoustic! Dafür verspricht er auch Stücke, die er so noch nie auf die Bühne gebracht hat. Einem alten Folk-Fan muss es da doch warm ums Herz werden. Eigentlich! Und dann noch in einem so tollen Ambiente (Parkbühne, Wasserschloss, Amphitheater, Burg, Zitadelle oder als Kulisse viele hübsche Segelboote – schau Dir doch einmal die Tourdaten an). Die alten Fans sind gern eingeladen zu kommen. Aber sie müssen sich sputen, damit die ‚anderen’ nicht schon alle Karten im Vorfeld aufgekauft haben.

Ja, mein lieber Lockwood – so wird ein Paar Schuh daraus. Natürlich riecht (riechen kann es nicht, es hat keine Nase – also: stinkt) das alles sehr verdächtig nach „Musikantenstadl“ und André Rieu. Und dabei hätte ich gewarnt sein müssen: Als ich meiner Frau vor vielen Jahren empfahl, ihrer Freundin die „Classic Case“-Scheibe zu kaufen, da diese auf solche klassischen Adaptionen von Rockmusik steht, die sich dann mit viel Lob für die Scheibe auch bei mir bedankte … Hätte ich ihr „Thick as a Brick“ schenken lassen, wäre der Dank weitaus schmaler ausgefallen. Die Anekdote kennst Du bereits. Was ich sagen will: Der Markt ist unergründlich, aber Herr Anderson hat das richtige Näschen dafür.

Und nur so nebenbei und als Ergänzung: Wer lädt eine Lachnummer zu einem feierlichen Weihnachtskonzert ein oder zur Mozartgala? Nein, ich denke Du bist auf dem Holzweg. Und Martin Barre muss froh sein, wenn er sich weiterhin neben Herrn Anderson auf die Bühne stellen darf. Mit seinen bereits erreichten 60 Jahren wird er sich kaum aus der Anderson’schen Asche erheben.

Also was bleibt uns? Die alten Platten auflegen, alles andere, was Herr Anderson plant und tut, ignorieren. Oder vielleicht doch eines dieser Konzerte besuchen?

Lass Dich nicht von Deinen Gewissensnöten quälen, die Dich um des Meisters willen plagen.
Und eine geruhsame Woche.

Wilfried

29.01.2007

English Translation for Ian Anderson