Was ist bloß mit Ian los? Teil 48: Jethro Tull Bigband

Hallo Wilfried,

so langsam wird es mir selber klar: Für jemanden, den Mr. Andersons musikalische Zukunft nicht interessiert, mache ich ziemlich viel Wind darum.

Zu den von Dir zitierten überschwenglichen Kritiken möchte ich sagen, dass kommerzieller Erfolg nicht unbedingt ein Indikator für Qualität ist (siehe Modern Talking). Allerdings muss ich einräumen, dass die Spätwerke des Meistern qualitativ hochwertig sind, auch wenn sie mir nicht gefallen.

Lassen wir die Frage, ob der Meister auf dem Wege zum alten weltfremden Narren ist, unbeantwortet. Wie so oft gibt es hier mehrere Wahrheiten und noch mehr Sichtweisen. Nur eines: Er wäre nicht der erste alte Narr, der an einer Galaveranstaltung teilnimmt. Die Tatsache, dass man zu allerbesten feierlichen Familien-Sendezeit im TV auftritt, macht noch nicht über jede Kritik erhaben. Was Mr. Anderson für Maria Laach qualifiziert haben könnte, wäre beispielsweise sein Alter und seine lange Präsenz im Showbusiness. So etwas wirkt seriös und passt zu Weihnachten. Die Einladung des Bundespräsidenten ist kein Zeugnis dafür, dass Mr. Anderson in den letzten 30 Jahren alles richtig gemacht hat. Diese Einladung ist weder eine Generalamnestie noch eine Heiligsprechung.

Aber jetzt Schluss damit: Ich nehme mir hiermit fest vor, nicht mehr über die aktuellen Machenschaften des Mr. Anderson nachzudenken, zu schreiben oder zu diskutieren. Was Jethro Tull angeht, werde ich mich künftig auf die Musik der 70er Jahre beschränken. Denn das war Jethro Tull !

Wenn der Meister in Begleitung von wem auch immer hier in unserem Städtchen auftreten würde, wäre ich nicht sicher, ob ich hingehen würde. Trotz allem werde ich nicht müde zu betonen: Ian Scott Anderson hat der Welt eine Reihe hervorragender Alben und Auftritte geschenkt. Dafür gebührt ihm unser Dank und unsere Anerkennung ! Let’s live in the past !

Die Zukunft der Rockmusik erscheint mir mehr als ungewiss. Die alten Größen wie JT, Queen, Led Zeppelin und wie sie alle heißen sind Geschichte. Was ist an ihre Stelle getreten ? Ich konnte noch keine gleichwertigen Nachfolger entdecken.

Quo vadis, Rock ’n‘ Roll ?

Alles Gute wünscht Dir
Lockwood

PS: Feiert man in Tostedt Karneval ?

30.01.2007

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Hallo Lockwood,

also ich werde schon noch ein Ohr offen halten und lauschen, was da der große Meister zukünftig vom Stapel lässt. Aber es ist natürlich richtig, dass die Zeit von Jethro Tull unwiderbringlich abgelaufen ist.

Sicherlich ist kommerzieller Erfolg kein Kriterium für Qualität. Aber ein Vergleich, z.B. mit Modern Talking, lässt sich nicht anstellen. Kein symphonisches Orchester wird sich an Herrn Bohlen wenden und ihn bitten, mit diesem auf Tournee gehen zu dürfen. Und der Bundespräsident wird trotz aller ‚Weltoffenheit’ Herrn Bohlen und Co. zu einem Weihnachtskonzert mit Sicherheit nicht einladen (was nicht ist, kann ja vielleicht noch werden). Es muss schon etwas anderes an Herrn Anderson sein, was ihn qualifiziert – Qualität! Sein Alter, seine Präsenz im Showbiz – nein, das kann es nicht sein. Zumindest nicht allein.

Ich will ehrlich sein: Rockmusik, die von Symphonieorchestern vorgetragen wird, fand ich schon immer eher scheußlich. Nichts gegen klassische Elemente, wie sie z.B. Ian Anderson in seinen Stücken verwendet. Aber das Ganze mit Pauken und Trompeten – und vor allem Geigen. Nein, das passt nicht, wenn es auch gut gemeint ist (z.B. von David/Dee Palmer). Nichts gegen so genannte ernste Musik. Mozart ist für mich der größte Komponist aller Zeiten (höchstens Zappa kommt dicht an ihn heran). Auch nichts gegen Cross-over, wie man das wohl nennt, die Verschmelzung oder Überschneidung verschiedener musikalischer Genres. Das betrifft aber die Musikstücke selbst – weniger die Interpretationen. Ausgangspunkt der Anderson’schen Musik ist immer noch die Rockmusik. Und die kann man nicht symphonisch vortragen. Vielleicht ist das reine Geschmackssache, meine aber eben nicht.

Von daher konnte ich mich nicht allzu sehr für den ganzen Orchester-Kram mit Herrn Anderson begeistern. Okay, einige Stücke klingen ganz gut. Und Herr Anderson hat wohlweißlich auch nicht zu sehr auf orchestrale Begleitung bestanden (anfangs tritt er nur mit der Band auf). Vielleicht war es trotzdem einen Versuch wert. Vielleicht hat sich da Herr Anderson auch einem Herzenswunsch erfüllt. Wer weiß.

Aber genug – ich schweife schon wieder ab. Dafür ein anderer kleiner Abstecher: Ohne Musik könnte ich wahrscheinlich nicht leben. Im Zusammenhang mit unserem Gedankenaustausch frage ich mich, wo eigentlich meine musikalische Heimat ist. Bei Heimat fällt mir zunächst Folklore ein. Dank der Nazizeit ist alles, was mit Volksmusik zu tun hat in Deutschland, hinreichend diskreditiert worden. Daher schon die unterschiedlichen Begriffe: Volksmusik und Folklore, damit jeder unterscheiden kann zwischen den schwarzbraunen Haselnüssen (Volksmusik) und freien Gedanken („Die Gedanken sind frei“ gleich Folklore). Und unser Ausweichen z.B. in die angelsächsische Folklore (mein großer Sohn, der sich mit dem Bass-Spielen beschäftigt, interessiert sich zunehmend für irische und schottische Folklore).

Aber Folklore kann es für mich nicht allein sein. Das, was wir Klassik nennen, ist für mich oft zu abstrakt. Es gibt schöne Sachen, ohne Zweifel, aber auf Dauer würde mich klassische Musik nicht befriedigen. Also Rock in all seinen Varianten? In frühen Jahren habe ich lange danach suchen müssen, bis ich mit Jethro Tull in etwa das fand, was mir gefiel. Und so ging die musikalische Reise weiter. Neue ernste Musik spielte dabei längere Zeit eine gewisse Rolle. Ich erinnere mich noch genau, wie ich in Bremen in der Stadtbibliothek saß und dort in einem extra gefertigten (schalldichten) Raum die unterschiedlichsten Schallplatten anhörte. Von Debussy bis zu Strawinsky. Einiges fand ich ganz interessant, anderes war mir zu hoch, eher zu hochgestochen.

Und so habe ich mich mit der Zeit auch für Jazz interessiert (bis hin zu Free Jazz). Aber die eigentliche musikalische Heimat blieb für mich die Musik von Herrn Anderson, so wie Du sie auch magst: die Mischung aus Rock, Folk und Klassik.

Auch heute noch, das Internet macht es möglich, geht für mich diese musikalische Reise weiter. Manchmal wird es zu einer Zeitreise (z.B. die deutsche Gruppe In Extremo finde ich ganz interessant, diese Mischung als mittelalterlicher Musik und Metal). Dann wieder ist es auch ein Ausflug in andere Länder (Stichwort: Weltmusik, besonders Afrika finde ich spannend).

Vielleicht ist es das, was mich von Dir unterscheidet. Und daher kann ich auch den Spätwerken des Meisters noch einiges abgewinnen. Und für den, der selbst schon einmal in die Saiten oder Tasten gegriffen hat, wird der Respekt vor der musikalischen Leistung eines Ian Anderson nicht kleiner.

Wohin es nun mit der Rockmusik geht (oder dem Rock ‚n’ Roll), wer soll das wissen. Rock hat sich in viele unterschiedlichste Richtungen zersplittert. Da gibt es sicherlich noch einiges zu entdecken. Aber Du hast recht: Die großen Gruppe wie eben auch Jethro Tull sind zz. nicht auszumachen, zumindest habe ich bisher nichts Adäquates wie Ian Anderson mit seinen Jungs Mitte der siebziger Jahre gefunden.

Genug auch dieser Rundreise (ist mehr als ein Abstecher geworden)! Let’s live in the past, wie Du schreibst. Da gibt es noch genügend Unentdecktes im Anderson’schen Schatz, was sich wirklich lohnt, an die Oberfläche geholt zu werden.

Auch Dir alles Gute und bis bald
Wilfried

P.S. Karneval feiern wir hier nicht. Im Kindergarten und in der Grundschule gibt es einen Tag, an dem sich die Kinder verkleiden. Das läuft bei uns unter dem Begriff Fasching. Es gibt aber so etwas ähnliches wie Karneval, das sich Faslam nennt und auch auf eine lange Tradition zurückblickt. Heute wird Faslam hier eher analog dem Karneval gefeiert und es gibt auch entsprechende Umzüge, allerdings im kleinen Rahmen – und bisher noch nicht bei uns in Tostedt. Also wir können uns hier nicht so sehr für Karneval begeistern. Und wie ist es bei Dir und Deinen Lieben: rote Pappnase auf und los?!

P.P.S. Übers Laufi-Forum bin ich drauf gestoßen: Ian Anderson and Jethro Tull touring bands – also eine Art Jethro Tull Bigband: Recent, Current, and Future Members – nur wer ist recent, wer current und wer ist ein future member?

02.02.2007

English Translation for Ian Anderson