In Extremo: Der zweite Merseburger Zauberspruch

Literatur lebt von der Sprache. Und besonders die Sprache ist stetigem Wandel unterzogen. Damit auch die Literatur. Was wir heute als Hochdeutsch kennen, hat sich somit über viele Jahrhunderte entwickelt. Die schriftlich bezeugte Form der deutschen Sprache in der Zeit von etwa 750 bis 1050 wird als Althochdeutsch bezeichnet. Aus dieser Zeit stammen auch die Aufzeichnungen einige Verse, die uns als Merseburger Zaubersprüche überliefert sind.

Nach dem ersten Merseburger Zauberspruch hier nun der zweite. Die Verse stammen aus vorchristlicher Zeit, also vor 750 n. Chr., und sind die einzigen erhaltenen Zeugen germanisch-heidnischer Religiosität in althochdeutscher Sprache.

Balder (auch Phol) und Wodan reiten durch den Wald (holza), wobei sich Balders Pferd den Fuß verrenkt. Wodans Spruch daraufhin: „Bein zu Bein, Blut zu Blut, Glied zu Glied, als ob sie geleimt seien“. So zeigen Darstellungen aus dem 5./6. Jahrhundert Wodan beim Heilen eines Pferdes. Leider können die anderen (Götter-)Namen nicht eindeutig identifiziert werden. Klar ist nur „Uuôdan“ (Wodan, Wotan, Odin) und „Frîia“ (Frigg, die Frau von Odin). Bei den anderen Namen ist nicht einmal sicher, ob es wirklich Namen von Göttern sind, da verschiedene Interpretationen ihrer Übersetzung zu finden sind.

Phol ende uuodan
uuorun zi holza.
du uuart demo balderes uolon
sin uuoz birenkit.
thu biguol en sinthgunt,
sunna era suister;
thu biguol en friia,
uolla era suister;
thu biguol en uuodan,
so he uuola conda:

sose benrenki,
sose bluotrenki,
sose lidirenki:
ben zi bena,
bluot zi bluoda,
lid zi geliden,
sose gelimida sin.

Phol und Wodan
ritten in den Wald.
Da wurde dem Fohlen Balders
der Fuß verrenkt.
Da besprach
(vgl engl. to beguile) ihn Sinthgunt
und Sunna, ihre Schwester;
da besprach ihn Frija,
und Volla, ihre Schwester;
da besprach ihn Wodan,
wie nur er es verstand:

Sei es Knochenrenke,
sei es Blutrenke,
sei es Gliedrenke:
Knochen zu Knochen,
Blut zu Blut,
Glied zu Gliedern,
als ob geleimt sie seien.

Erklärungen:
walkürenartige Frauen: Walküren (altnordisch „diejenigen, die bestimmen, wer auf dem Kampfplatz fallen soll“ (wobei sie das Schicksal nur verwalten), in der germanischen Mythologie die Botinnen des obersten Gottes Wodan (Odin), die über die Schlachtfelder reiten, die gefallene Einherier durch ihren Kuss zu ewigem Leben erwecken und sie nach Asgard entrücken, um bei der Schlacht gegen Utgard zu kämpfen, bei der alles Leben erlöschen soll und Baldur die neue Welt einleiten soll. Eventuell identisch mit den Disen, weibliche Gottheiten aus der nordischen Mythologie. Eine Dise, altnordisch dís / dísir, altschwedisch dis, ist eine Art weibliche Fruchtbarkeitsgottheit, eventuell mit den angelsächsischen Idisi verwandt.
Balder: Aus der nordischen Mythologie der Gott des Lichtes.
Wodan: Der südgermanische Gott Wodan entspricht weitgehend dem nordischen Odin und war der Hauptgott.

Auch von diesem 2. Zauberspruch gibt es von der Gruppe „In Extremo“ eine musikalische Überarbeitung.


In Extremo: Merseburger Zaubersprüche 2

Beide Zaubersprüchen, von „In Extremo“ interpretiert, gibt es auch als Video zu sehen, aufgenommen live auf dem Kyffhäuser 2002:

In Extremo – Merseburger Zaubersprüche I (Live) Kyffhäuser 2002

In Extremo – Merseburger Zaubersprüche II (Live) Kyffhäuser 2002

Zur Gruppe “In Extremo” siehe auch meinen Beitrag: Bagpipes (Sackpfeife – Dudelsack – Quetschsack)

Über WilliZ

Wurde geboren (in Berlin-Schöneberg), lebt (nach einem Abstecher nach Pforzheim, längere Zeit in Bremen und Hamburg) in dem Örtchen Tostedt am Rande der Lüneburger Heide - und interessiert sich für Literatur, Musik, Film und Fotografie (sowohl passiv wie aktiv) ... Ach, und gern verreise ich auch!