Was ist bloß mit Ian los? Teil 53: Federvieh und „Home“ 1979 live

Hallo Wilfried,

erlaube mir zum Ende der ersten Fastenwoche einen abschließenden Gedanken zum Thema Karneval: Während der „Tollen Tage“ sind einige gesellschaftliche Regeln aufgehoben oder gar in ihr Gegenteil verkehrt; das haben wir schon festgestellt. Wirklich überraschend finde ich, dass Menschen, die das ganze Jahr über versuchen, einen kultivierten und intelligenten Eindruck zu hinterlassen, an Karnevalssitzungen ( das sind diese „Wolle mer se rinnlosse“ und Narrhalla-Marsch – Happenings) teilnehmen. Gibt es in diesem Universum jemanden, der mir erklären kann, was ein Mensch, dessen IQ-Wert die Zimmertemperatur übersteigt, an diesen infantilen Veranstaltungen findet ??

Besonderen Zulauf haben Veranstaltungen, die im TV ausgestrahlt werden, wie z.B. die Verleihung des Ordens „Wider den gesunden Menschenverstand“ oder so ähnlich. Vor ungefähr 30 Jahren ist mein Deutschlehrer bei dieser Veranstaltung von der Kamera erwischt worden, als sie gerade ins Publikum schwenkte. So wurde bei der Ausstrahlung der Sendung die Republik Zeuge, wie unser sehr verehrter Grammatikus über einen blöden Witz lachte, über den er nur die Nase gerümpft hätte, wenn einer seiner Schüler ihn gebracht hätte. Aber hier hatte er mehrere hundert DM für die Karten gezahlt und fühlte die Augen der Nation auf sich gerichtet. Da kann man gar nicht anders, als den Erwartungen gerecht zu werden.

Deine Ferndiagnose trifft zu: Meine Söhne schauen zuviel Horror und Gewalt. Zum Glück haben wir aber noch nicht feststellen müssen, dass sie dadurch charakterliche Defizite davon getragen hätten. Sie sind noch jung, meine Fohlen. Ich denke, wenn die Pubertät über sie kommt, finden die blutrünstigen Maskeraden zu Karneval ein jähes Ende.

Zum Flöten-Fake des Mr. Barlow: Mich wundert gar nichts mehr. Mittlerweile traue ich Mr. Anderson alles zu. Ich habe mir die „Songs from the Wood“ noch einige Male angehört. Wenn man weiß, dass die Vokalparts vom Meister stammen, hört man es plötzlich ganz deutlich heraus. Auf einmal ist es eine ganz klare Sache. Ein Unding, dass man es vorher nicht gehört hat. So ist das nun mal mit der selektiven Wahrnehmung…

Zu Helmut Lotti und Co.: Wir haben Mr. Anderson als Geschäftsmann kennen gelernt. Ich glaube, so lange die Zahlungen für die Rechte an den Liedern stimmen, würde es ihm auch nichts ausmachen, wenn sein deutscher Namensvetter G.G. seine Songs interpretiert. Mr. Anderson ist eben ein Profi. Ich habe nichts gegen Herrn Lotti. Er hat eine große Stimme. Aber von manchen Dingen sollte er lieber die Stimmbänder lassen. Auch der begabteste Künstler ist auf ein gewisses Spektrum beschränkt. Kannst Du Dir vorstellen, dass Heinz Rühmann und Curt Jürgens ihre Rollen getauscht hätten ? Oder Dustin Hoffman mit John Wayne ? Marilyn Monroe mit Audrey Hepburn ? Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Den Versuch eines Künstlers, das ganze Spektrum seines Genres abzudecken, muss in meinen Augen zwangsläufig scheitern. Geige und Cello sind beide Streichinstrumente und jedes hat seine Daseinsberechtigung und keines kann ohne Einbußen den Part des anderen übernehmen. Hoffentlich liest Herr Lotti Deinen Blog.

“Stormwatch“ zähle ich persönlich nicht zu den Folk-Alben. Dennoch enthält es einige schöne Stücke: Das wunderbare „Elegy“ und „Home“. Für mich gehört der „Minstrel“ noch auf die Folk-Liste. Je nach Stimmungslage und Tagesform ist es für mich das beste Tull-Album.

“Broadsword“: Na ja, geht so. Außer dem Barett gefällt mir daran nur das letzte Stück: „Cheerio“. Auch ein Lied, bei dessen Klang ich jedes Mal eine englische Küste assoziiere. Wie ich schon einmal geschrieben habe: Wenn ein Lied Bilder im Kopf entstehen lässt, ist es für mich ein gutes Lied. In diesem Moment höre ich „One white Duck“. Welch ein Genius, was für eine Stimme ! Warum hat ein grausames Schicksal uns dessen beraubt ? Allerdings gehört die weiße Ente zu den Liedern, bei denen ich die Übersetzung des Textes besser ganz schnell vergesse. Der passt nämlich überhaupt nicht zu den Visionen, die beim Hören in mir hochsteigen. Mr. Anderson erwähnt auffällig oft Geflügel in seinen Songs: One white Duck, Mother Goose, „…feeling like a dead duck…“ Mir ist keine andere Rockband bekannt, die in ihren Werken so oft auf Wasservögel zu sprechen kommt.

Wenn Dein Großer sich für bass-dominierte Lieder interessiert: Kennt er schon „One of these Days“ von Pink Floyd ? Der Anfang von „Fly, Robin, Fly“ (Silver Convention; Du erinnerst Dich ?) ist auch sehr basslastig, aber nicht unbedingt das, was ein JT – Fan empfehlen würde.

Bis bald
Lockwood

06.03.2007

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Hallo Lockwood,

beim Karneval kommt meist Alkohol ins Spiel. Und im Suff (auch ohne Karneval) hat sich schon mancher zum Affen gemacht. Da kehren einige ihr Inneres nach außen. Die Sau raus lassen, nennt man das wohl auch. Aber wir beide sind nun einmal gesittete Familienväter, die so etwas nicht (mehr) nötig haben. Wir lästern lieber über andere …

Leider geht es mit meinen Söhnen, was Horrorfilme und dergl. betrifft, auch nicht viel anders, zumindest bei dem jüngsten noch. Beim Großen (inzwischen 16 Jahre alt) erkenne ich, dass sich das zum Guten wendet. So lange keine Defizite charakterlicher Art entstehen, Du hast recht, muss man eben durch diese Phase durch.

Zur selektiven Wahrnehmung: Manchmal ist es eben auch das, was wir hören und sehen wollen oder zumindest zu hören und zu sehen erwarten. Da lässt man sich sehr schnell durch ‚Zaubertricks’ blenden. Wenn sich das alles in Grenzen hält, so finde ich solche Tricks durchaus in Ordnung. Herr Anderson wählte seine Musiker nicht danach aus, wie sie singen können, sondern wie sie ihre Instrument beherrschen. Und da braucht ein Schlagzeuger auch nicht unbedingt Flöte spielen können.

Es sind mindestens zwei eigene Beiträge in meinem Weblog wert, soviel in möglichster Kürze: Ich bin da über eine Sängerin und ihre Band gestolpert, Lyambiko mit Namen, die dieser Tage auf Deutschland-Tour geht und dabei ihr neues Album vorstellt: Inner Sense (Hörproben). Deren musikalische Heimat ist der Jazz – und anzusiedeln ist sie irgendwo zwischen Norah Jones (stimmlich) und Diana Krall (stilmäßig), wenn Dir die Namen etwas sagen. Nun es geht um mindestens eines der Lieder, die die Sängerin auf der neuen CD interpretiert: „Look into the Sun“ von Jethro Tulls „Stand Up“-Album (und für Dich interessant: „Somebody To Love“ von Queen). Man mag von der Musik halten, was man will, die Interpretation von „Look into the Sun“, ein Lied, das mir in der Originalfassung schon sehr gut gefällt, finde ich durchaus hörenswert (das Lied im Stile des Modern Jazz). Nun wollte ich mir nicht das ganze Album kaufen, so toll finde ich die anderen Sachen eben nicht, und habe es zum ersten Mal gewagt, online nur das eine Stück käuflich zu erwerben. Selbst für mich taten sich da ungeahnte Schwierigkeiten (und was musicload.de von t-online betrifft: deren Dreistigkeiten) auf. Wie gesagt, allein das wird einen weiteren Beitrag wert sein. Erstaunlich finde ich einfach daran, dass eine Jazz-Sängerin altes Tull-Material für so gut erachtet, um es auf einer CD festzuhalten. Also nicht nur die klassische Liga singt Jethro Tull (im Falle von „Another Christmas Song“ habe ich noch etwas geforscht, bin aber nicht viel weiter gekommen – ich denke aber, das es Placido Domingo persönlich war, der das Lied singt – der Lotti hat aller höchstens ‚mitgesungen’). Im Falle des Spring String Quartetts und deren CD „Train Songs“ habe ich eine kleine Hörprobe zu „Locomotive Breath“ gefunden.

Mit dem Rollentausch hast Du sicherlich nicht unrecht, „Schuster bleibt bei deinen Leisten“. Wenn Lotti „Thick as Brick“ singen würde … Nicht vorstellbar. Aber das wird er sich hüten zu tun. Zum einen wird er kaum einen Tull-Fan damit begeistern, und seine eigene Anhängerschaft wird auch nur mit dem Kopf schütten (und nicht kaufen). Im Falle eines Liedes wie „Another Christmas Song“ oder wie oben bei der jazzigen Interpretation von „Look into the Sun“ würde ich nicht so strenge Maßstäbe anlegen. Obwohl mich, ich muss es gestehen, allein der Text zum anderen Weihnachtslied aus dem Munde eines Opernstars seltsam anmutet („Old man, he’s calling for his supper. Calling for his whisky“). Leider habe ich nicht einmal eine Hörprobe finden können, schade. Vielleicht wäre es der nächste Weihnachtshit (Hit, nicht Shit – oder doch?) bei uns zu Hause.

Zu „Stormwatch“ hatte ich mich schon kurz geäußert. Das lange „Dark Ages“ wirkt auf mich ziemlich unausgegoren. „Home“ dagegen gefällt auch Dir sehr gut. Ich habe da eine Aufnahme von einem Konzert am 11. bzw. 12.10 1979 aus dem Madison Square Garden in New York. Ein Jahr zuvor fast auf dem Tag genau (09.10.1978) wurde von dort in einer simultanen Transatlantik-Schaltung das uns allen bekannte Tull-Konzert gesendet. Das 1979-er Konzert ging in die Tull-Geschichte ein, weil Ian Anderson von einer Rose im Auge getroffen wurde, die aus dem Publikum geworfen wurde.

Ian Anderson 1979


Jethro Tull live Okt. 1979 in NYC: Home

Zu „The Broadsword and the Beast“ später etwas mehr.

Das mit dem Federvieh ist schon ein interessanter Aspekt. Und das bei einem (Wild-)Katzenliebhaber wie Herrn Anderson. Gut, die tote Ente würden wir eher mit toten Hund übersetzen. Aber das weiß Herr Anderson ja nicht. Vögel kommen auch noch in anderer Form vor: Der Kuckuck gleich im ersten Album „This was“ in „Serenade to a Cuckoo“ – oder: als Titel für ein ganzes Album (wenn auch ‚nur’ Soloalbum): „Secret Langauge of Birds – oder: auf „Stand up“ in „We used to know“ die Zeile: „Saving up the birds in hand“. Weiter auf Benefit in „To Cry You a song“: „Well, I’m a glad bird“. In “Aqualung” hast Du bereits das „Feeling like a dead duck“ gefunden und die Mutter Gans (da kommt noch ein Hühnchenzüchter hinzu: chicken-fancier). In „Thick as a Brick“ kocht der Narr mit der Sanduhr seine Gans: “while the fool with the hour-glass is cooking his goose”, wenn es auch etwas anderes bedeuten sollte (vielleicht sagt es Dir deine deutsche Übersetzung). Auch Seemöven kommen hier vor. Auf „Living in the Past“ finden wir in „Teacher“ den Hinweis, dass „the nest is for nothing when the bird has flown“. Und in der Hasengeschichte tauchen ja auch Vögel auf. Aber genug … Es lässt sich sicherlich noch mehr Geflügel finden.

Aber in diesem Zusammenhang: Bei meiner Schottland-Recherche bin ich ja auf viele Orts- und Landschaftsbezeichnungen gestoßen. So werden noch viele andere Orte, Stadtteile, Straßen (Fulham Road, Baker Street) usw. zu finden sein. Ich erinnere mich, dass es auf der offiziellen Tull-Website einmal ein Rätsel gab, das sich solcher geografischer Bezeichnungen bediente.

Was meinen Großen und sein Bassspiel betrifft: Er werkelt gerade mit mehreren Schulfreunden an einem Schulprojekt „Beatles“. Einen Übungsraum haben sie dafür auch bereits gefunden, wenn auch nicht direkt bei uns im Ort, sondern in einem Dörflein in der Nähe. Wie es aussieht (besser: sich anhört), nimmt das bereits konkrete Formen an. Ich finde es auf jeden Fall sehr gut. Besser, als wenn die Jungs irgendwo sinnlos herumhängen. Jetzt muss ich nur noch meinem Jüngsten das Musizieren schmackhaft haben. Vielleicht sollte ich mit gutem Vorbild vorangehen.

Das Wochenende naht schon wieder. Ich werde mich aufs weitere Digitalisieren meiner alten LPs stürzen, wenigstens zeitweise. Da habe ich übrigens noch eine weitere Cover-Version eines Tull-Titels … dazu später mehr.

Bis bald und Cheerio
Wilfried

08.03.2007

English Translation for Ian Anderson