Es ist ein Roman, der 1972 in erster Auflage erschien. Die Gallistl’sche Krankheit, ich möchte sie fast Walser-Syndrom nennen, ähnelt sehr dem heute weitverbreiteten Burnout-Syndrom. Bei Walser ist es die Krankheit der Intellektuellen der damaligen Zeit (siehe hierzu auch meinen Beitrag Zu Martin Walser (2): Links und DKP-nah). Paul Konrad Kurz schrieb bei Erscheinen des Romans im Spiegel: Gesundung in der Partei?:
„Der Ich-Erzähler Josef Georg Gallistl beschreibt sein Krankheitsbild. Da die zu beschreibende Krankheit noch keinen Namen hat, leiht er ihr den eigenen. Gallistls Fall ist in Kürze dieser: Es ist ihm völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, Lust zu empfinden, Sinn zu erfahren, Zukunft vor sich zu sehen, menschliche Kontakte nicht der Lüge, die Gesellschaft nicht der Unmoralität zeihen zu müssen. Es ist die Krankheit des Intellektuellen, vorab des Schriftstellers in dieser Zeit und Gesellschaft.“
Josef Georg Gallistl ist der Ich-Erzähler des lediglich gut 120 Seiten starken Romans. Seine Frau heißt Marianne, genannt Mimi. Außerdem tauchen zwei Töchter auf, die 13-jährige Judith und die 3-jährige Angela.
Seine Freunde sind durchbuchstabiert von A bis F. Gallistl mit G reiht sich da gewissermaßen nur dem Alphabet ein:
A. ist Architekt (29 Jahre alt)
B. ist Bankkaufmann (30 Jahre alt)
C. ist Chemiker (31 Jahre alt)
D. ist Dichter bzw. in der Datenverarbeitung tätig (32 Jahre alt)
E. ist Englisch-Horn-Bläser in einem Orchester (33 Jahre alt)
F. arbeitet bei Fernsehen (34 Jahre alt).
Da ist es ein leichtes zu erraten, wie alt Gallistl ist: 35 Jahre alt.
„Mein Krankheitsbild verlangt einen eigenen Namen. Deshalb gebe ich ihm vorerst den meinen. […]. Es ist nicht Kopfweh. Es ist, wie wenn man liebt und die Person ist nicht mehr zu haben. Du kriegst sie nicht mehr. Es ist ein Schmerz. Das ist zuviel gesagt. Es ist eben kein Schmerz. Aber auch keine Schmerzlosigkeit. Aber man glaubt nicht, daß man das aushält. Aber man weiß, daß man es aushält. Aber man weiß nicht, wie lang noch.“ (S. 10 f.)
„Ich weiß jetzt so ziemlich, was gewünscht wird. Aber ich weiß auch, daß man es von mir nicht will. Es gibt genügend, die das liefern, was gewünscht wird. Ich komme dafür nicht in Frage. Da ich aber noch lebe, muß ich mich doch ein wenig bewegen. Das heißt, ich muß mich verstellen. Ich muß so tun, als mache es mir Spaß, dies und das aus mir zu machen. Ich muß etwas aus mir herausholen. Es muß aussehen, als hätte ich Lust. Als sei es mir wichtig. Als könne ich doch noch etwas liefern. Etwas beitragen. Man hat ringsherum keinen Anlaß, mich mitzuschleppen, wenn ich selber nicht mehr will.“ (S. 50 f.)
Gallistl ist ein Alter Ego Martin Walsers. Man spürt die Krise, die Walser Anfang der 70-er Jahre heimsuchte. Krise ist das falsche Wort. Es ist ein Verlorengehen in einer Zeit, die von der ersten großen Koalition aus Union und SPD mit ihren Notstandsgesetzen geprägt wurde. Der Mittelteil des Romans wirkt verstörend. Der Rückzug des Schriftstellers aus einer Welt, die nicht die seine ist.
Dann das letzte Kapitel: Er wird einmal. Es ist ein Wiedererwachen, ein Aufkeimen neuer Hoffnung. Es ist die Idee des Sozialismus, die Walser in Gestalt von Gallistl erfasst, aber nicht in Form eines bereits vorhandenen Staatsmarxismus oder als eine einfach übernehmbare Parteivorstellung („Wenn die Partei etwas Hiesiges wird, schafft sie’s.“ – S. 109). Die im Roman auftauchenden Figuren (es geht wieder dem Alphabet nach) tragen nun (fast) alle Vollnamen (mit P beginnend) und dürften realen Personen der linken Szene der damaligen Zeit nachempfunden sein:
Pankraz Pudenz (näher beschrieben ab S. 90)
Qualisto Queiros, Drucker (S. 94)
Rudi Rossipaul (S. 111)
Sylvio Schmon (S. 137)
Tanja Tischbein (S. 109)
Urs Ulmer
Vinzenz Vetter
Wilfried Weißpflog (S. 125)
X., Funktionär der Gewerkschaft HBV (Handel, Banken, Versicherungen) (S. 114)
York, Referent einer kritischen marxistischen Analyse (S. 116)
Zilli Zembrod
Walser war auf der Suche nach einer Alternative. Noch einmal zu meinem Beitrag Zu Martin Walser (2): Links und DKP-nah. Dort schrieb ich und wiederhole er noch einmal:
Ähnlich wie es viele heute sehen, so sah Walser keinen wesentlichen Unterschied mehr zwischen den Konservativen und den Sozialdemokraten, zwischen CDU/CSU und SPD. Was damals die DKP war, findet sich heute vielleicht in der Linken wieder – eine Position links der verbürgerlichten SPD. Wählbar aber waren bzw. sind beide kaum. So muss eine eigene Alternative her, wenn auch nur eine vorstellbare.
Übrigens beschreibt Walser bereits in diesem Roman sein ‚Verhältnis’ zur DDR: „… meine Empfindung [reicht] tief nach Pommern hinein. Sachsen ist mir vertraut, ohne daß ich je dort war. Wie oft denke ich an Magdeburg. Ich will die DDR nicht erobern. Ich will mir aber nicht verbieten lassen, daß mein Gefühl einreist und ausreist, wie es ihm paßt.“ (S.112). Schon damals 1972 wollte Walser die Teilung Deutschlands in zwei Staaten nicht akzeptieren.